Nexus oder Harari, der Visionär

Welch eine Biografie! Die Spannweite dieses großen Denkers erstreckt sich von „Sapiens – a brief History of Mankind“ bis zu „Nexus – A Brief History of Information Networks from the Stone Age to AI“. Damit umfasst dieser Überblick nicht weniger als drei Jahrhunderte europäischer Geistesgeschichte. War das große Anfangswerk „Sapiens“ noch durchdrungen von jener Wissenschaftseuphorie, zumindest von jenem Erstaunen vor ihren demiurgischen Leistungen, wie wir sie schon von Francis Bacon im frühen 17. Jahrhundert kennen, so überrascht uns Nexus mit seiner radikalen Wissenschaftsskepsis.

Dass sich diese Skepsis, nein dieser massive Pessimismus, gerade an der Künstlichen Intelligenz entzündet, überzeugt mich zwar weniger. In ihrer Unvorhersehbarkeit und mit ihren durchaus absehbaren apokalyptischen Folgen geht die nukleare Bedrohung meines Erachtens weit über jene Gefahr hinaus, die Harari der Künstlichen Intelligenz zuschreibt. Künstliche Intelligenz werde der Demokratie das Grab schaufeln, so die Prognose des israelischen Denkers. Das ist sicher vollkommen richtig. Ein nuklearer Schlagabtausch würde aber nicht nur die Demokratie beenden, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch das Leben auf unserem Planeten. Die Rolle, welche KI auch im nuklearen Bereich spielt, wird dabei meist unterschlagen. Da die Vorwarnzeiten bei einem Erstschlag mit immer schnelleren Überschallraketen zusehends kürzer werden, fehlt der Staatsführung jetzt schon die Zeit zwischen einem Fehlalarm und einem tatsächlichen Überfall zu unterscheiden. Deswegen kommt heute schon Künstliche Intelligenz zum Einsatz, welche die Informationen der zu Land und im Satellitengürtel verteilten Sensoren bewertet. Schon jetzt liegt das Schicksal der Menschheit in ihrer Hand. Der Missbrauch der Künstlichen Intelligenz durch Fälschung und Verzerrung der Information ist daher nur eine der zu erwartenden Folgen. An die nukleare Bedrohung hat sich die Welt allerdings seit einem dreiviertel Jahrhundert gewöhnt und verdrängt sie beflissen, während die Künstliche Intelligenz eine faszinierende Neuheit ist, welche alle in ihren Bann zieht und in Bereichen wie der Medizin auch substanzielle Fortschritte mit sich bringt.

Man darf wohl sagen, dass Harari sich in seinem Buch „Sapiens“ noch zum Sprachrohr jenes neuzeitlichen Religionsersatzes gemacht hatte, der heute unter dem Namen „Wissenschaft“ firmiert. Deren prominentester Vertreter ist zweifellos Elon Musk, bei dem die Euphorie an das Gebaren eines nahen Vorfahren gemahnt, nämlich an das des Gorillas, der in Momenten größter Erregung vor Begeisterung auf die eigene Brust eintrommelt. Jüngst haben wir erlebt, wie der Amerikaner diesen Vorfahren nachahmt, indem er vor überschäumendem Enthusiasmus beide Arme in die Höhe wirft und dabei vor unbeherrschbarer Lust rohe Urlaute von sich gibt. Musk ist der Hohepriester der neuen Wissenschaftsreligion. Im Gegensatz zu den Vertretern vergangener Glaubensnarrative verspricht er uns allerdings weder das Paradies auf dieser Erde noch ein jenseitiges Eden – er verspricht uns die Hölle. Da wir, wie er mehrfach betonte, hier unten möglicherweise vor der physischen Auslöschung stehen, will er uns auf den Mars katapultieren. Die jedem ernstzunehmenden Wissenschaftler geläufige Tatsache, dass wir dort weder atmen, noch irgendetwas Essbares ernten können, scheint ihn nicht zu bekümmern. Auch nicht der betrübliche Umstand, dass die Temperatur auf dem Mars nur selten fünf Plusgrade erreicht, meistens aber bei minus hundert liegt. Anders gesagt, aus lauter Verliebtheit in das eigene technische Spielzeug tischt uns dieser falsche Wissenschaftspapst gegen alles bessere Wissen die reinsten Lügen auf.

Von socher Wissenschaftseuphorie – gleichgültig ob falsch oder berechtigt – ist in Nexus so gut wie nichts übriggeblieben. Dennoch ist es nicht Hararis Furcht vor einer allmächtigen Künstlichen Intelligenz, die den Menschen am Ende zu ihrem Sklaven macht und die Demokratie vernichtet, welche sein jüngstes Werk in meinen Augen zu einem Geniestreich macht. Mit geradezu spielerischer Leichtigkeit – nie pedantisch, nie zähflüssig, nie darum bemüht, den Leser durch eigene Gelehrsamkeit zu beeindrucken – gelingt es dem Autor, gerade im ersten Teil seines Buches die schwierigsten Begriffe so mühelos und in so einfacher und klarer Sprache zu erklären, dass man ihn für diese besonders in Deutschland seltene Kunst nur bewundern kann. Unser gesamtes Wissen über Natur und Mensch fasst er in dem übergeordneten Begriff der „Information“ zusammen und unterteilt diese dann in die beiden Hälften „Ordnung“ (order) und „Wahrheit“ (truth). Wahrheit umfasst unser objektives Wissen von der Natur, das so wenig unserer Willkür entspringt wie die Natur selbst. Dagegen repräsentiert Ordnung ein vom Menschen selbst erschaffenes, in der Natur nicht vorgefundenes Wissen. In Hararis eigenen Worten: „Die Informationen, die Menschen über intersubjektive Dinge austauschen, repräsentieren nichts, was bereits vor dem Informationsaustausch existierte; vielmehr schafft der Informationsaustausch diese Dinge.“

Mit ordnunggebender Information sind alle ideologischen, religiösen und sonstigen Narrative gemeint, welche Menschen zu Gemeinschaften mit einem gemeinsamen Weltbild zusammenschweißen. Andere haben statt von „Information“ von „Wissen“ gesprochen und das Wissen von der Natur unserem Wissen um Mensch und Gesellschaft entgegengestellt. Der Gegensatz zwischen den beiden Formen der Information oder des Wissens besteht darin, dass wir in jedem der beiden jeweils ganz andere Fragen stellen. Die Wissenschaften von der Natur unterscheiden nach wahr oder unwahr, weil unsere Aussagen über die Natur entweder richtig sind oder falsch. Unser in Narrativen gespeichertes Wissen von Mensch und Gesellschaft hat es mit moralischen oder ästhetischen Werten zu tun. Es geht um gut versus böse oder moralisch indifferent, bzw. um schön versus hässlich oder ästhetisch neutral.

Ich sagte schon, dieser Gegensatz spielt nicht erst bei Harari eine vorrangige Rolle, wir begegnen ihm in der gesamten Geschichte der Philosophie eine. Um eine stabile soziale Ordnung herzustellen, empfahl Plato in seiner Politeia eine staatserhaltende Lüge, nämlich dass die verschiedenen Klassen je nach ihrem Rang aus verschiedenen Metallen bestehen, angefangen vom Gold für die höchste von ihnen. Die deutsche Geistesgeschichte hebt bis zu Dilthey den Gegensatz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften hervor. Harari aber bringt es fertig, die ganze historische Last über Bord zu werfen und auf ganz unbefangene aber hellseherische Art sozusagen von vorn zu beginnen. Den Gegensatz zwischen „Wahrheit“ (truth) und „Ordnung“ (order) stellt er als einen letztlich unaufhebbaren Widerspruch dar.

Wir alle wissen, dass die ordnunggebenden Narrative überall auf der Welt Wahrheit bewusst unterdrückten, wenn diese für sie zur Gefahr zu werden drohte. Das Beispiel Galileis ging in die Geschichte ein, aber er ist nur einer unter den zahllosen Ketzern, deren wahre oder oft auch nur vermeintlichen Erkenntnisse ein bestehendes Narrativ und damit eine bestehende Ordnung zu unterminieren drohten. Die daraus resultierenden Spaltungen der Gemeinschaft wurden als weit gefährlicher angesehen als es der Gewinn sein konnte, den eine wahre Erkenntnis bringt (im Fall Galileis interessierte diese zu seiner Zeit ohnehin nur eine Handvoll von Intellektuellen). Dieselbe Abwägung verbirgt sich unter dem Widerstand der sogenannten Kreationisten gegen die längst als unwiderlegbar bewerteten Erkenntnisse eines Charles Darwin. Die Zertrümmerung der biblischen Autorität und der durch sie geeinten Gemeinschaft vermag in ihren Augen der kleine Gewinn nicht wettzumachen, der aus der Erkenntnis erwächst, dass wir einen gemeinsamen Stammbaum mit den Affen teilen. Das gegenwärtige Putinregime hält selektiv an der objektiven Wahrheit fest, soweit diese der Entwicklung von Waffen mit immer größerer Vernichtungskraft dient. Wie schon zuvor die Sowjetunion verbietet es aber alle wissenschaftliche Erkenntnis, die ihrem Narrativ im Wege steht, in vollem Recht zu sein, wenn es die eigene angeblich weit überlegene moralische Ordnung den Nachbarvölkern mit Gewalt aufzwingt.

Das ist das eine, Information, die der Ordnung dient, unterdrückt objektive Wahrheit, wenn diese der Ordnung gefährlich wird. Aber das Gegenteil gehört ebenso zur evidenten historischen Realität. Überall auf der Welt haben Religionen und Ideologien unter dem Ansturm der Wissenschaften ein Dogma nach dem anderen aufgeben müssen. Im Namen der Wahrheit haben sich Voltaire und andere Aufklärer in seinem Gefolge über die Religionen lustig gemacht. Sie und vollends die großen Fortschrittsapostel des neunzehnten Jahrhunderts – man denke etwa an Ludwig Büchner, den Bruder des großen Georg – ähnelten einem Elon Musk in der naiven Überzeugung, dass im Zeitalter der Wissenschaften irgendwann sämtliche Fragen abschließend beantwortet und alle Rätsel gelöst sein würden – Antworten und Fragen, auf welche die Religionen keine oder nur falsche Antworten zu geben wussten. Heute dagegen wissen wir – und Harari versteht es, den Leser davon zu überzeugen – dass diese Erwartung nicht nur trügerisch ist sondern schlicht falsch. Unsere Werte und die Narrative, womit wir sie begründen, lassen sich nicht aus der Natur ableiten. Sie sind nicht Teil einer objektiven, außerhalb von uns selbst bestehenden und in diesem Sinne wahren Realität, sondern werden von uns selbst in die Welt gesetzt. Selbst wenn wir statistisch nachweisen könnten, dass neunzig Prozent aller Menschen unserer und früherer Generationen lieber mit anderen im Frieden leben als sie zu bekriegen oder zu morden, bleiben doch zehn Prozent übrig, die ihren eigenen Vorteil gerade darin sehen, sich gegen die Mehrheit zu stellen und bereit sind, dafür auch Kampf und Mord auszuüben. Auf solche Weise haben Hitler und Putin Deutschen bzw. Russen das Narrativ von Hass und Vernichtung im Namen eines von ihnen erfundenen, angeblich unanfechtbaren Weltbilds aufgezwungen.

Narrative sind Werkzeuge, um soziale Ordnung herzustellen. Als Menschen sind wir frei und bleiben daher für unsere Mitmenschen unberechenbar, solange wir nicht durch ein gemeinsames Narrativ, sprich durch eine Religion, eine Ideologie oder sonstige geistig-emotionale Inhalte miteinander verbunden sind. An diese ordnunggebenden Inhalte können wir nur glauben, da ihre Ge- und Verbote nicht zu den wissenschaftlich nachweisbaren Wahrheiten gehören. Damit aber ist nichts anderes gesagt, als dass wir – ob wir wollen oder nicht – immer Narrative erfinden werden und sie erfinden müssen, da darauf die Existenz menschlicher Gemeinschaften beruht. In unserer Zeit sind diese Narrative überwiegend von säkularer Art. Sie verbergen sich beispielsweise in den ethischen Grundsätzen einer Verfassung aber auch in denen jedes einzelnen Wirtschaftsbetriebs. Den Menschen, die mit ihnen leben, erscheinen solche Grundsätze als rationale Notwendigkeit, z.B. um einen Betrieb wirtschaftlich erfolgreich zu führen. Aber die Rationalität selbst steht immer im Dienste ethischer Imperative, die als solche rational unbegründbar sind. Nur weil ein moderner Betrieb ein erstrebenswertes Ziel darin sieht, unaufhörlich zu produzieren und wettbewerbsfähig zu sein, gelangt die dabei verlangte Rationalität zur Anwendung. In der Vergangenheit hat es Gesellschaften gegeben und wird sie zweifellos in Zukunft von neuem geben, welche völlig andere Ziele verfolgen und diese daher auch mit einer anderen Rationalität verwirklichen.

Auf dieser Erkenntnis von einer existenziellen Freiheit, die jenseits aller Wahrheit der Naturerkenntnis besteht, beruht für mich der außerordentliche Beitrag von Nexus, dem jüngsten Buch von Juval Noah Harari. Mit unglaublich leichter Hand und der Meisterschaft eines Philosophen, der sich wie ein Kind zum ersten Mal die eigentlich wichtigen Fragen stellt, versetzt er der heutigen Wissenschaftsreligion einen größeren Stoß als David Hume, Immanuel Kant oder Karl Popper. Anders als der Welterfolg „Sapiens“ verlangt „Nexus“ von seinen Lesern allerdings mehr als nur Staunen, es verlangt tätiges Mitdenken, das – ganz wie es die These seines Buches belegt – einige seiner Gewissheiten zu erschüttern vermag. Da Denken weniger beliebt ist als das Staunen, würde es mich wundern, wenn Harari mit diesem philosophischen Meisterwerk so viele Leser erreicht wie mit Sapiens, diesem geflügelten Galopp durch die Weltgeschichte.

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Ausgewählte Kommentare

Frank Engert schreibt:

Lieber Gero Jenner,

herzlichen Dank für Ihren Aufsatz über Nexus.

Sie schreiben darin:

„Narrative sind die Werkzeuge sozialer Ordnung. Als Menschen sind wir frei und bleiben daher für unsere Mitmenschen unberechenbar, solange wir nicht durch ein gemeinsames Narrativ, sprich durch eine Religion, eine Ideologie oder sonstige geistigemotionale Inhalte miteinander verbunden sind. An diese ordnunggebenden Inhalte können wir nur glauben, da sie nicht zu den wissenschaftlich nachweisbaren Wahrheiten gehören. Damit aber ist nichts anderes gesagt, als dass wir – ob wir wollen oder nicht – immer Narrative erfinden werden und sie erfinden müssen, da darauf die Existenz menschlicher Gemeinschaften beruht.“

Glauben Sie allen Ernstes, dass es ein solches Narrativ an das alle glauben nach der Aufklärung überhaupt noch geben kann [wir werden/müssen es erfinden]? Ich glaube das nicht. Und wenn dem nicht so ist, wäre damit der Zerfall menschlicher Gesellschaften vorprogrammiert? Oder kann eine Gesellschaft, in der die Religion, das Narrativ, zur Privatsache per Verfassung erklärt ist, doch existieren? Ist das das Experiment, was unsere Zivilisation heute gerade unbewusst exerziert?

Sind das Fragen, die Harari in seinem Buch versucht anzugehen?

Mit freundlichem Gruß

Frank Engert

Meine Replik:

Lieber Herr Engert,

im Anschluss an das von Ihnen besprochene Zitat meines Aufsatzes habe ich noch einige Zeilen hinzugefügt, welche die Sache, wie ich hoffe, deutlicher machen. Religionen spielen zumindest in der westlichen Welt nur noch eine untergeordnete Rolle, aber nicht die Ethik, die einigen der größten von ihnen zugrundeliegt. Ethik beherrscht zum Beispiel jeden Betrieb, obwohl das den meisten dort arbeitenden Menschen überhaupt nicht bewusst ist. Sie glauben, dass sie einer Rationalität gehorchen, die sozusagen mit Unausweichlichkeit aus dem Zwang der Verhältnisse selbst resultiert. Aber es ist, wie ich in dem hinzugefügten Absatz sage, keineswegs notwendig, dass wir immer mehr produzieren und konsumieren, dass wir dabei mit anderen in unerbittlichem Wettbewerb stehen usw. Es sind ethische Entscheidungen von der Art ob wir uns und der Gesellschaft nützen oder schaden, die letztlich unser Handeln bestimmen, wenn die sachliche Rationalität, die sich daraus ergibt, dann auch durch die Verhältnisse (den Stand von Technik und Wissenschaft) bedingt wird. Ethische Entscheidungen aber führen zu Narrativen auch dann, wenn sie rein säkular sind.

Diese Überlegungen stehen im Einklang mit den Argumenten von Harari. Dieser würde Ihnen gewiss auch darin beipflichten, dass Religionen die wohl wirksamsten Narrative geschaffen haben, weil es uns leichter fällt, uns einem überirdischen Gott unterzuordnen, den wir uns als unendlich weise vorstellen, als einer irdischen Instanz, von der wir wissen, dass sie genauso fehlbar ist wie wir selbst. Dadurch wird die „intersubjektive Realität“, welche laut Harari den Erfolg unserer Art begründet, sozusagen gegen jeden Einspruch abgeschirmt. Das ist natürlich eine rein technische Sicht auf den Glauben, mit der sich Harari bei den Vertretern der Religion nicht beliebt machen kann.

Er behandelt im zweiten Teil seines Buches aber vor allem die seiner Meinung nach kaum mehr beherrschbaren Gefahren der Künstlichen Intelligenz. Er ist der Meinung, dass diese das Potential besitzt, jedes Narrativ zu zerstören.