Wenn Zeitgenossen über die düsteren Jahre der Naziherrschaft sprechen, dann wollen sie uns bewusst oder unbewusst glauben machen, dass sie selbst gegen das Gift der menschenverachtenden Propaganda immun gewesen wären. Tatsache ist dagegen, dass gute 99 Prozent der Deutschen keinen offenen Widerstand leisteten und eine Mehrheit von ihnen bei den großen Aufmärschen mitgeklatscht und mitgebrüllt haben, auch wenn nicht wenige inneren, wortlosen Widerstand leisteten. Die Wahrscheinlichkeit liegt daher weit unter einem Prozent, dass diejenigen, die heute vorgeben, so genau zu wissen, wie sie selbst sich damals verhalten hätten, das eigene Leben durch offenen Widerstand tatsächlich auf Spiel gesetzt hätten.
Haben die Menschen das Pech,
in einer Diktatur zu leben, welche jeden Widerstand schon im Keim erstickt, so bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, als den Mund zu verschließen, wenn sie nicht sich selbst und sogar die eigenen Angehörigen unmittelbarer Gefahr aussetzen wollen. Nur unkritische Nachgeborene bilden sich ein, sie selbst hätten zu den wenigen Opponenten oder gar Widerstandskämpfern gehört. Da verhalten sie sich ähnlich den Leuten, die an Wiedergeburten glauben. Fragt man sie, was sie denn in früheren Existenzen gewesen seien, so hat man es fast immer mit ehemaligen Napoleonen, Cäsaren oder Großen Alexandern zu tun, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass sie bloß zu der überwältigenden Mehrheit armseliger Knechte, Sklaven oder Bauern gehörten, zweifellos sehr viel größer ist.
Es hat sich inzwischen herumgesprochen,
dass wir Menschen soziale Wesen sind, die es als unendlich schmerzhaft empfinden, nicht irgendwo dazuzugehören, und es auf Dauer schwer ertragen, von ihren Mitmenschen scheel angesehen oder gar als Außenseiter geschnitten zu werden. Es ist nicht bloß äußerer Druck, der Konformität mit anderen bewirkt, sondern dieser Druck kommt bei jedem von uns ebenso auch aus dem Inneren. Ohne eine gemeinsame Sprache bis hin zu gemeinsamen Überzeugungen und – natürlich auch! – einer dadurch bewirkten gemeinsamen Identität können Menschen nicht leben. Genau deshalb ist es ein so furchtbares Unglück, wenn ein verbrecherisches Regime dieses Bedürfnis nach Gemeinsamkeit von Sprache, Überzeugungen und Identität für die eigenen Zwecke missbraucht.
Nur um auf keinen Fall unter ihresgleichen als Sonderlinge zu gelten, übernehmen viele auch Meinungen und Handlungsweisen, die sie zuvor weit von sich gewiesen hätten. Der Hass, den Hitler gegen die Juden schürte, mochte vielen anstößig erscheinen, umso mehr suchten sie daher nach Gründen, um das eigene Stillschweigen zu rechtfertigen. War Deutschland im Ausland nicht wieder zu hohem Ansehen gelangt? War es dem Regime nicht gelungen, innerhalb kürzester Zeit die furchtbare Arbeitslosigkeit zu beenden? Die wenigsten begriffen, dass man um die daraus entstandenen Schulden zu tilgen, erst die Juden enteignen und bald ganz Europa ausrauben musste.
Auch Regime, die im Vergleich zur Hitlerherrschaft
unendlich viel weniger Leid und Schaden anrichten, können auf das Bedürfnis nach Anerkennung zählen, solange sie zur gleichen Zeit bei den Bürgern mit unbestreitbaren Leistungen punkten. Wladimir Putin hat das (vom Westen beförderte) Chaos der Neunziger Jahre tatkräftig beendet; er hat der Wirtschaft seines Landes trotz westlichen Sanktionen einen bemerkenswerten Aufschwung verschafft und Russland mit einer höchst effektiven Rüstung wieder eine Supermacht werden lassen, die sich vor niemandem fürchten muss, aber umgekehrt mit ihren neuesten neunfach überschallschnellen Atomraketen die übrige Welt in Angst und Schrecken versetzt. Das danken die Russen ihrem Führer, dafür nehmen sie die Verbrechen des Regimes in Kauf: die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim und die nicht abreißende Kette von Morden und Mordanschlägen an widerständigen Oppositionellen.
Nicht anders ist es in China
Wer glaubt, dass das dortige Einparteiensystem auf tönernen Füßen steht, der macht sich ein völlig falsches Bild von dem rasant aufsteigenden Land. In Wirklichkeit ist die amerikanische Demokratie im Augenblick viel stärker der Gefahr eines Zusammenbruchs ausgesetzt als das Regime in Peking. Während ein Bürgerkrieg und endgültiger Übergang der größten westlichen Demokratie zu einem autoritären System unter Präsidenten von der Art eines Donald Trump inzwischen durchaus möglich erscheint, zeigt China der Welt ein Modell an Stabilität. Die muslimischen Minderheiten in Xinjiang und die Menschen in Tibet werden zwar rücksichtslos unterdrückt, aber dies geschieht ohne Einspruch von Seiten der Mehrheit, weil die Regierung sich rühmen kann, besser als jedes andere Regime einem noch vor einem halben Jahrhundert bitterarmen Volk materiellen Wohlstand beschert zu haben. Aller Voraussicht nach wird das Milliardenvolk schon im kommenden Jahr 75 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts erreichen.
Alles in China ist neu, monumental und nirgendwo glaubt man so vorbehaltlos an die Segnungen der Wissenschaft. Bei der Bekämpfung von Covid-19 hat sich das Land strikt an die Empfehlungen der Experten gehalten und dabei einen durchschlagenden Erfolg erzielt, während westliche Länder, allen voran die USA, durch inneren Dissens zu entschlossenem Handeln völlig unfähig sind. In den USA bröckelt die Infrastruktur und ist wie in Ländern der Dritten Welt von Verfall bedroht. Einzig die amerikanische Wissenschaft ist immer noch auf vielen Gebieten führend, aber mehr und mehr muss sie sich gegen eine Übermacht von mittelalterlichen Kreationisten und Fake News Propagandisten behaupten. Chinas Regierung aber bringt die Opposition mit einem Argument zum Schweigen, das einer Mehrheit im Land bis heute unmittelbar einleuchtend erscheint: Wir machen euch reich und auf der ganzen Welt bewundert – was wollt ihr mehr? Dagegen hat die US-amerikanische Plutokratie vor allem sich selbst reich gemacht, lässt es aber zu, dass eine Mehrheit relativ ärmer wird. Kein Wunder also, dass die Demokratie in ihrer ältesten Heimat immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert.
Diktaturen halten sich solange an der Macht,
wie eine Mehrheit ihren Versprechungen glaubt. Deswegen sollten Nachgeborene die Ehrlichkeit aufbringen, sich an die Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu halten. 99 Prozent liegen auf jener Seite der Waage, wo wir uns selbst in jedem Regime befinden, das den offenen Widerspruch mit Arbeitslager oder gar Tod bedroht: Wir befinden uns auf der Seite der Mitläufer und Opportunisten. Es wäre schon sehr viel, wenn wir dann nicht zu den Mitbrüllern gehören sondern wenigsten in unserem Inneren Distanz bewahren – in Diktaturen ist das die einzige Art von Widerstand, die zumindest nicht das eigene Leben gefährdet.
Demnach gibt es Situationen, in denen Menschen weitgehend ohnmächtig sind
Das ist eine wichtige Lehre, weil man heute über kein Thema reden darf, ohne sogleich mit dem Einwand konfrontiert zu werden: Aber was können wir denn tun? Während der meisten Epochen menschlicher Geschichte konnten 95% aller Menschen wenig bis gar nichts tun, wenn man darunter eine Änderung der politischen und sozialen Ordnung versteht. Sie konnten sich – auch unter den Nazis – allenfalls die innere Freiheit bewahren. Gab es in den dreizehn Jahren des Dritten Reichs für die einzelnen die geringste Möglichkeit, eine andere bessere Welt zu schaffen? Nein, nicht die geringste! Es gab nur die Möglichkeit, sich ein Bewusstsein für Anstand und Wahrheit im eigenen Kopf zu bewahren und dieses Ideal in die Zeit danach zu retten.
Was hat dieser Blick in die Vergangenheit mit unserer Gegenwart zu tun?
Auf den ersten Blick sehr wenig, auf den zweiten aber sehr viel. Niemand muss bei uns um sein Leben fürchten, selbst wenn er die abenteuerlichsten oder auch rundheraus irrsinnige Ansichten vertritt, wie das zum Beispiel für die Proselyten der QAnon-Bewegung gilt. Das geht in westlichen Staaten soweit, dass der Präsident einer Weltmacht offen elementare Wahrheiten der Wissenschaft missachten und diskreditieren darf. Nicht nur aberwitzige Meinungen, sondern offensichtliche Fakes haben in den Vereinigten Staaten und weltweit im Internet das öffentliche Leben erobert und werden von orientierungslosen Massen nicht nur geduldet sondern frenetisch beklatscht, wenn sie von höchster politischer Stelle kommen.
Das ist die erste Gemeinsamkeit mit einer düsteren Vergangenheit
In Deutschland denken wir unwillkürlich an die johlenden Mengen, die damals Goebbels oder Hitler zujubelten. Aber den Abschied von der Freiheit des Denkens und dem Respekt vor dem Widerspruch haben wir bei uns schon vor einem Jahrzehnt verloren. Ein markanter Einschnitt in der geistigen Geschichte Deutschlands war der Umgang mit Thilo Sarrazin. Man musste die Meinungen des ehemaligen sozialdemokratischen Senators keineswegs billigen, aber mit Voltaire hätten wir sagen müssen, dass er nicht nur das Recht besaß, sie zu äußern, sondern dass man seine Befürchtungen ernst nehmen sollte.
Aber darum ging es gar nicht, sondern man fand es unverzeihlich, dass Sarrazin das sorgfältig gepflegte Selbstbildnis der Deutschen in Frage stellte, wonach sie ihre Vergangenheit gründlich „bewältigt“ hätten und sich jetzt nicht nur der größten Toleranz allen Fremden gegenüber rühmen durften sondern auch in größter Harmonie mit ihnen lebten. Das bestritt Sarrazin und bestand noch dazu darauf, dass in der Jugend erworbene kulturelle Unterschiede so gravierend sein können, dass daraus durchaus ein ernstes, schwer überwindbares Hindernis für gedeihliches Zusammenleben entstehen kann. Das wollten selbstgerechte deutsche Intellektuelle auf keinen Fall hören. Eine wirkliche geistige Auseinandersetzung mit den Thesen von Sarrazin war von vornherein unerwünscht. Was man stattdessen hörte, war in Deutschland wie Österreich ein Bocksgesang der Empörten, in dem die selbstdeklarierten Verteidiger der politischen Korrektheit einem Mann die eigene Verachtung bewiesen, der doch nur wiederholte, was seriöse Wissenschaftler in unbeachteten Fachartikeln längst vor ihm gesagt und mit Zahlen bewiesen hatten. Nur dass Sarrazin sich an einer Stelle dazu verstieg, Kultur mit Biologie zu verwechseln und den Juden ein spezielles Gen attestierte, konnte man ihm als wissenschaftlich unhaltbar vorwerfen
Einzig die deutsche Kanzlerin brachte einen triftigen Einwand vor
Das Buch sei „nicht hilfreich“, sagte sie. Das stimmt. Auf die denkbar knappste Formel brachte sie damit das überaus schwierige Problem der unbequemen, manchmal auch wirklich zerstörerischen Wahrheit auf den Punkt. Wie schon gesagt, hatte Sarrazin in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ (zu neunzig Prozent!) nur Einsichten vorgebracht, die in Fachkreisen überhaupt nicht umstritten waren. Doch ist es nicht zu leugnen, dass seine Erkenntnisse keineswegs hilfreich waren, wenn man Fremde erfolgreich integrieren und ihr Vertrauen gewinnen wollte.
Darf man daraus die Folgerung ableiten, dass wir solche Erkenntnisse unterdrücken sollen? Nein, den großen Schaden hat nicht das Buch sondern erst der Aufschrei der Empörten bewirkt. Hätte es die darauf folgende Hexenjagd nicht gegeben, dann hätte das Buch „Deutschland schafft sich ab“ kaum größeren Schaden angerichtet, wohl aber die Regierung davor bewahrt, leichtsinnig mehr Fremde im Land aufzunehmen als die Bevölkerung ohne Misstrauen, ohne Fremdenhass sondern im Gegenteil mit andauernder Hilfsbereitschaft aufzunehmen bereit ist. Der nüchterne Beamte Sarrazin, dem aller Fanatismus fremd ist, wollte wohl auch nie mehr erreichen.
Das landesweite Empörungsgeröhre der Selbstgerechten,
zu denen damals vor allem Leute zählten, die nicht notwendig mit einem Mehr an Wissen und argumentativer Intelligenz brillierten aber umso mehr auf ihre moralische Überlegenheit pochten, markiert in Deutschland den neuerlichen Beginn einer geistigen Unfreiheit, die man andernorts als „politische Korrektheit“ bezeichnet. Die rapiden Fortschritte dieses neuen Drucks zur Konformität sind mittlerweile überall zu erkennen. Vor allem in der amerikanischen Politik unter Präsident Trump, welche die Lüge und das Schönreden aller Probleme geradezu zu ihrem Arbeitsprinzip erhob.
Bei uns steht es damit aber kaum besser, am wenigsten bei jenen Herausforderungen, die uns gegenwärtig weit mehr beschäftigen als die Einwanderung. Denn was die Fremden betrifft, so haben wir es – zumindest vorläufig – vielleicht wirklich „geschafft“, aus ihnen gute und gleichberechtigte Bürger zu machen, die eine Bereicherung für die eigene Gesellschaft sind und es bleiben könnten. Vorausgesetzt natürlich, dass in den kommenden Jahren nicht Millionen von neuen Asylsuchenden abermals nach Europa strömen und der Fremdenhass dann neuerlich aufkocht. Dagegen gibt es andere Krisen, die uns viel stärker bedrohen. Ob wir auch deren Bewältigung schaffen, ist keineswegs ausgemacht.
Hier denke ich natürlich in erster Linie an die große Umwelt- und Klimakrise,
die uns auch bleiben wird, wenn von Corona längst keine Rede mehr sein wird. Darin liegt die eigentliche Gefahr für die Zukunft. Aber was geschieht? Auf groteske Weise wird die Diskussion von Tabus und Sprech- bis zu Denkverboten beherrscht. Die Freiheit, die noch vor einem halben Jahrhundert galt, wird von den Empörten, den Wunschdenkern, den Populisten, den Heuchlern und den Reptilienbeschwörern politischer Korrektheit mutwillig zerstört.
Bertrand Russell, damals weltweit hochgeachtetes Sprachrohr eines linken Weltgewissens, durfte noch aussprechen, was heute Anathema ist, nämlich dass die Menschheit sich selbst durch ungehemmte Vermehrung zugrunde richtet und dass die Natur sich an ihr rächen wird, wenn wir nicht fähig sind, dagegen mit den Mitteln der Intelligenz vorzugehen, nämlich durch eine gezielte Familienplanung. Dann würde die Natur eben die üblichen apokalyptischen Reiter auf uns hetzen, nämlich Kriege, Seuchen etc. So wie Russell darf das heute niemand mehr sagen. Die Freiheit dazu wurde zerstört, nicht zuletzt durch intelligente Verdreher der Wahrheit wie einen bekannten österreichischen Schriftsteller der, die Warnung eines Russell einfach populistisch verbog, indem er das Schreckbild des „überflüssigen Menschen“ beschwor, so als würde Familienplanung bedeuten, dass wir damit unsere Mitmenschen aus der Welt schaffen wollen.
Arnold Toynbee, einer der größten Historiker der Moderne, durfte sich noch die Feststellung erlauben, dass die in Großbritannien erfundene industriell-fossile Revolution voraussichtlich nicht mehr sein werde als ein Intermezzo der Geschichte, weil die Menschheit in Zukunft ihren Ressourcenverbrauch neuerlich auf ein ökologisch akzeptables Minimum einschränken muss und die Vergiftung der Natur bei der Umwandlung dieser Ressourcen uns ohnehin schon vor unüberwindbare Grenzen stellt.
Der hellsichtigste Denker, dessen gesamtes Lebenswerk
in der Warnung vor der ökologischen Katastrophe und in deren Abwendung sah, ist aber zweifellos Herman Daly, der daher zu Recht als „Papst“ der ökologischen Aufklärung gilt. Daly hat sich niemals gescheut, die Wahrheit kompromisslos auszusprechen. So begründete er etwa, dass gegen die Verschleuderung der Ressourcen keine der üblichen Maßnahmen wie Steuern helfen sondern nur Obergrenzen ihres Verbrauchs. Diese könnten aber nur eingehalten werden, wenn die Staaten ihre Wirtschaften voneinander entkoppeln, so dass jeder von ihnen verantwortlich für den Verbrauch und die dadurch erzeugten Gifte zeichnet. Daly hat auch klar erkannt, dass die Definition von Ausbeutung von Karl Marx zu eng gefasst worden ist. Zu Ausbeutung kommt es auch, wenn wohlhabende Schichten die Vermehrung der ärmeren begünstigen, um sich so einen fortwährenden Nachschub an billigen Arbeitskräften zu sichern (Kinderreiche wurden im alten Rom nicht zufällig „Proleten“ genannt). Das alles durfte man als Wissenschaftler zu seiner Zeit noch sagen. Heute sträuben sich bei solchen Erkenntnissen die Haare der Heuchler, Verharmloser und Schönredner.
Am heftigsten wird der Widerstand aber dann,
wenn ohne Beschönigung davon die Rede ist, dass wir eine grüne Revolution – !unter den herrschenden politischen Bedingungen! – von vornherein gar nicht „schaffen“ können, weil wir – und zwar jeder von uns – genauso ohnmächtig sind wie unter dem Regime der Nationalsozialisten. Zwar können wir im Kleinen unendlich viel tun – das konnten auch die Menschen im Nationalsozialismus – es war ja schon viel, wenn jeder in seiner Familie für Frieden sorgte. Nur war es eine Illusion zu glauben, dass man auf diese Weise die Verbrechen des Regimes verhindern konnte.
In exakt derselben Situation befinden wir uns heute. Zwar können wir die Grünen wählen, auf Flugreisen verzichten, auf Fahrräder umsteigen und uns sogar den Genuss von Fleisch versagen, aber die Klimakrise bis hin zur Klimakatastrophe werden wir auf diese Art nicht verhindern. Warum das so ist, lässt sich zwingend an der Dynamik der Macht aufzeigen.
Die Machtspirale
Die führenden Supermächte USA, Russland und China, aber auch manche kleinere Staaten wie Indien, Pakistan, Iran oder Nordkorea, sind so aufeinander fixiert, dass sie beständig die Stärke, d.h. den Rüstungsstand und die Wirtschaftskraft, ihrer Rivalen abtasten, um entweder zu ihnen aufzuschließen oder wenigstens nicht hinter ihnen zurückzubleiben. Es ist völlig undenkbar, dass einer dieser Staaten freiwillig die Arena dieses Rennens verlässt, es sei denn dass ihm eine Weltmacht Schutz gewährt oder ein wirtschaftlicher Kollaps ihn dazu nötigt. Die Sowjetunion kollabierte 1989, aber das neue Russland hatte danach nichts Eiligeres tun, als die Arena des globalen Wettrüstens neuerlich zu betreten. Europa hat sich nur deshalb leisten können, im Hinblick auf militärische Stärke hinterherzuhinken, weil man bis zu Obama darauf vertraute, dass die USA niemals zulassen würden, dass es unter die Herrschaft Russlands gerät.
Die Spirale von militärischer und wirtschaftlicher Macht vereitelt, dass irgendeiner den Verbrauch der Ressourcen vermindert, wenn ihm daraus ein Nachteil im weltweiten Wettlauf erwächst. Es heißt, dass allein das amerikanische Militär mit seinen Flugzeugträgern und Jets einer der Hauptkonsumenten von fossilen Treibstoffen ist – von allen anderen Ressourcen ganz zu schweigen. Daraus lässt sich zwingend folgern, dass eine ernsthafte Verminderung des Ressourcenverbrauchs schlichtweg unmöglich ist, solange die globale Spirale der Macht sich weiterdreht.
Sie wird sich ja fürs Erste nur noch schneller drehen, da ein Staat wie China durchaus nicht daran denkt, der amerikanischen Forderung nachzukommen, sich gemeinsam mit den USA und Russland über Fragen einer gemeinsamen Abrüstung zu verständigen. Nicht nur will China erst einmal so reich wie der Westen werden, es will auch erst einmal gleich mächtig werden, indem es sein Militär auch in nuklearer Hinsicht mit einem zumindest gleich großen Atombombenarsenal wie die USA und Russland hochrüstet. Dasselbe trifft aber auch auf die enorme Aufrüstung Indiens zu und generell auf alle Staaten, sobald sie wirtschaftlich erstarken. An eine Verminderung des Ressourcenverbrauchs und der damit einhergehenden zunehmenden Umweltvergiftung ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Nur Corona hat eine – ganz und gar unfreiwillige – Zäsur bewirkt, allerdings gerade nicht in China, dem Land, von dem die größte Belastung der Umwelt ausgeht.
Dreizehn Jahre lang wäre es eine Illusion gewesen,
hätten die Deutschen daran geglaubt, an den politischen oder sozialen Verhältnissen in ihrem Land etwas zu ändern. Sie waren de facto zur Ohnmacht verurteilt. Sehen wir von Corona ab, so ist unser Leben heute unendlich viel leichter, aber an der großen Krise, welche heute die ganze Welt bedroht, vermag keiner von uns etwas zu ändern, weil der Verbrauch an Ressourcen und die Vergiftung der Natur von den großen Akteuren betrieben wird, die keinen Verzicht zulassen, der ihnen einen Nachteil vor den Rivalen verschafft. Natürlich könnte ein einzelner Staat wie Österreich oder auch ganz Europa sich aus dem Rennen ausklinken und sämtliche Verfahren verbieten, welche die Natur nachweisbar belasten. Aber die Folge wäre dann, dass dieser Einzelstaat oder Europa die eigene Wettbewerbsfähigkeit so sehr vermindern, dass sein Export zusammenbricht, weil alle anderen, die diesen Weg nicht beschreiten, seine Waren auf dem Weltmarkt verdrängen. Das wäre ein Alleingang, den man mit Schwäche bezahlt. Schwache Staaten aber sind – das wissen wir, die ehemaligen Kolonialmächte, am besten – ein leichtes Opfer der Starken.
Bleibt uns dann nur Ohnmacht und der sicherer Weg
in die selbstgemachte Katastrophe? Nein. So wie viele Deutsche nach den dreizehn düsteren Jahren ihrer Geschichte das Bild von einer besseren, anderen Welt in sich bewahrten und dieses für einige Jahrzehnte auch – wie immer unvollkommen – in die Wirklichkeit übersetzten, so wird die globale Gemeinschaft, die heute mehr verflochten ist als jemals zuvor, den letzten Schritt zu einer globalen Einheit gehen müssen, um wieder Herr des eigenen Geschicks zu werden. Erst dann, wenn dieses Rennen, dieser Kampf der Menschheit gegen sich selbst, beendet wird, werden wir die lebensbedrohende Krise der fossil-industriellen Zivilisation in den Griff bekommen.
Was wir tun müssen, damit das geschieht, wissen wir jetzt bereits ganz genau. Mein Buch „Ob wir das schaffen? – Eine andere bessere Welt?“ sagt darüber ebenso wenig Neues, wie die meisten Bücher, die nach Herman Dalys grundlegenden Arbeiten geschrieben wurden. Aber eines wird ganz neu und in all seinen Facetten beleuchtet: Das Buch zeigt im Einzelnen auf, warum wir – d.h. jeder Staat auf der Erde, so grün er sich auch gebärdet – unter den herrschenden politischen Bedingungen(!) völlig unfähig sind, dieses Programm so in die Tat umzusetzen, dass der Ressourcenverbrauch und die Naturzerstörung dadurch wirklich beendet werden.
Das hört niemand gern,
weil wir uns, selbst gerade wenn wir ohnmächtig sind, so gerne mit Illusionen beschwichtigen, um unser Gewissen auf diese Art zu beruhigen. Aber diese Scheinberuhigung ist einer der Hauptgründe dafür, warum wir der Katastrophe blind entgegeneilen. „Ob wir das schaffen? – Eine andere bessere Welt?“ ist ein illusionsloser Aufruf zur Ehrlichkeit und zur Schärfung des Gewissens. Dass der ehrlichste und illusionsloseste aller Warner, Herman Daly, ihm sein besonderes Lob aussprach: „Dear Dr Gero Jenner, Thanks for sending me your cogently reasoned, well informed, and clearly written book. I hope it is widely read. Best wishes, Herman Daly“ (14. Juli 2020), mag immerhin ein zusätzlicher Grund sein, die Scheu vor Tabus, Denkverboten und politischer Unkorrektheit zu überwinden, denn darum geht es in diesem Buch.
Von Herrn Prof. Michael Kilian erhalte ich folgende Rückmeldung:
Lieber Herr Dr. Jenner,
wie immer treffend.
Hätte die CDU Herbert Gruhl, einer der ihren, damals zugehört, wäre es nie zu der Partei der Grünen gekommen. G. hatte ebenfalls für eine Gleichgewichtswirtschaft plädiert.
Gruhl wurde verlacht, er kam für die „Politikstrategen“ zu früh.
Neben Toynbee kann man natürlich auch Spengler nennen; bei allem, was man gegen ihn vorbringt, im Grunde hat er recht. Auch Alain Peyrefittes frühes China-Buch wurde übersehen.
Ich habe schon als Schüler, vor der Ölkrise, mich gefragt, warum man Nebenbahnen – für immer, da der Grund verkauft wurde – stlllegt, und heute ist man froh über jede, die man noch retten kann. Keiner der damaligen „Planer“ hätte einem Schuljungen zugestimmt.
Schade, dass corona weitere Treffen im Plautz-Garten verhindert.
Herzlichen Gruß, Michael Kilian
Prof. Siegfried Wendt schreibt diese Zeilen:
Lieber Herr Jenner,
mit Ihrem Text haben Sie Befürchtungen, die bei mir bisher nur diffus vorhanden waren, ins helle Licht gerückt. Damit haben Sie die Ausgangsbasis verändert, von der ich ausgehen muss, falls ich noch weitere wirtschaftspolitische Aufsätze schreibe.
Herzlichen Dank für die Zusendung.
Mit besten Grüßen
Siegfried Wendt
In eigener Angelegenheit:
Ich erhalte immer wieder Zuschriften, dass man ja gern nach meinen Büchern greifen würde, aber bei Amazon bestellen? Ich verstehe, dass man einiges an Amazon aussetzen kann – ich bin der erste, der darin einstimmt. Aber ich weiß nicht, ob wir, wenn wir denselben moralischen Maßstab anlegen, noch deutsche Volkswagen kaufen dürften, denn der Dieselbetrug hat doch alles in den Schatten gestellt, was Amazon sich geleistet hat! Jedenfalls bin ich der Buchsparte von Amazon dankbar, dass ich dort publizieren kann. Die Thesen meines letzten Buches gehen so gegen den Strich der üblichen Selbstbeweihräucherung, dass ich in einem deutschen Verlag keine Chancen habe – trotz des ausdrücklichen Lobs durch den berühmtesten Ökologen unserer Zeit.