(auch erschienen in: Heise.de)
In den Nachrichten war vor kurzem von einer auffallenden Gleichbewegung die Rede: Seit es der Wirtschaft in Spanien schlechter geht, verringere sich die dortige Scheidungsrate, die bis dahin mit zu den höchsten Europas gehörte. Vermutlich könnten sich immer weniger scheidungswillige Paare die hohen Anwaltskosten leisten. Eine solche Mitteilung gibt zu denken. Wir stoßen hier auf einen neuralgischen Punkt der Gesellschaft: das Verhältnis von Ökonomie und Psychologie, wobei wir zur ersteren auch noch den technischen Fortschritt rechnen sollten.
Wie weit gehorcht jeder von uns seinen Gefühlen, wie weit dem Druck äußerer Geschehnisse in Technik und Wirtschaft? Dieser Frage unbefangen auf den Grund zu gehen, ist ein Akt menschlicher Selbsterkenntnis – und er scheint mir heute dringender denn je.
Scheidungen im heutigen Umfang sind eine relativ neue Erscheinung. Langfristige Bindungen zwischen ungleichgeschlechtlichen Partnern finden sich unter Menschen und – nebenbei bemerkt – auch bei der großen Mehrzahl der Vögel. Ihr sozialer Zweck ist offenkundig. Säuglinge (oder auch die Eier in einem Nest) bedürfen über längere Zeit ununterbrochener Bewachung und Pflege. In dieser Zeit ist der betreffende Elternteil für die Nahrungssuche nur bedingt oder auch gar nicht einsatzfähig. Dies jedenfalls waren die Bedingungen unter Jägern und Sammlern und weitgehend auch noch in den Agrarwirtschaften, wie sie bis vor zweihundert Jahren bestanden. Erst die Industriegesellschaft verschaffte der Gesellschaft die Möglichkeit, die Betreuung der Kinder ganz aus der Familie herauszulösen und die Frau damit bereits kurz nach der Geburt von der Kinderbetreuung freizusetzen.
Auf einmal zeigt sich (was man aus einer kleinen Zahl von Stammesgesellschaften schon hätte wissen können, siehe Malinowski) dass die Familie keine biologische Institution, sondern in erster Linie ein kulturelles Arrangement ist, für dessen Fortbestehen es nur dann und auch nur solange eine soziale Notwendigkeit gibt, wie der Schutz der Kinder von keiner anderen Institution übernommen wird. Der für unsere Zeit so charakteristische Zerfall der Familie beruht auf dieser neuen Schutzfunktion eines Staates, der mit Krippen, Kindergärten und Schulen Aufgaben übernimmt, die früher einmal von den Familien erfüllt werden mussten. Doch sie beruht nicht allein darauf. Die Frauen hätten sich gegen diese Entwicklung ja zu Wehr setzen können. Gäbe es wirklich einen Mutterinstinkt, dann wäre ihnen unmöglich, was immer mehr Frauen in den Großstädten Frankreichs und Schwedens ganz selbstverständlich und ohne schlechtes Gewissen tun, nämlich dass sie ihre Babys bald nach dem Ende der Schwangerschaft – oft schon drei Monate danach – staatlichen Institutionen anvertrauen, um dann selbst wieder in ihren Berufen tätig zu sein. Ein solcher Instinkt existiert aber offenbar nicht – er ist eine kulturelle Erfindung von Zeiten, in denen es als unbestreitbarer Glaubenssatz galt, dass Mütter ganz selbstverständlich ihr ganzes Leben für die Betreuung der eigenen Kinder zu opfern hätten.
Wie gesagt, der Ethnologie wusste schon immer, dass die Familie als kulturelle Institution in manchen Stammesgesellschaften, wo es so etwas wie eine gemeinschaftliche Betreuung des Nachwuchses gab, eine weit geringere Rolle spielte als etwa in der patriarchalischen Gesellschaft. Dennoch macht ihre Auflösung erst in unserer Zeit rapide „Fortschritte“. Über Jahrhunderte gewachsene Gefühle, Mythen, religiöse Erzählungen und Glaubenssätze, die alle einmal dazu dienten, die Familie und ihre Bedeutung im kollektiven Bewusstsein als unzerstörbar zu verankern, haben auf einmal ihre Kraft eingebüßt. Sie erweisen sich als ohnmächtig gegen die Herausforderungen neuer technischer Möglichkeiten und veränderter ökonomischer Bedingungen. In der Institution der Familie wurde der biologische Trieb durch Kultur gezähmt und eingebunden. Die sexuelle Untreue wurde als schwerwiegende Verfehlung geächtet (vor allem auf Seiten der Frau, denn Männer vor allem der höheren Schichten wussten sich Sonderrechte zu wahren). Dadurch wurde der Trieb von einem belanglosen, der Eigenbefriedigung dienenden Vorgang wie das Trinken und Essen zu einem überragenden Geschehen mystifiziert. Er wurde mit der Aura des Geheimnisvollen, Gefährlichen und Unsagbaren umgeben. Bis in die jüngste Vergangenheit hingen die meisten von Romanen, Opern, Gedichten beschworenen Verwicklungen eines Menschen damit zusammen, dass ihn seine biologische Triebnatur in Konflikt und Gegensatz zu den kulturellen Anforderungen der Gesellschaft brachte. Der sexuelle Bereich war alles zugleich: mystisch aufgeladen, faszinierend gefahrvoll, mächtig anziehend und auch wieder fürchterlich abstoßend.
Die 68-Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts hat hier eine Zäsur gesetzt, die man in ihrer Auswirkung auf das Verhältnis von Mann und Frau durchaus mit jener anderen vergleichen darf, welche die französische Revolution im Verhältnis der Klassen bewirkte. Der sexuelle Trieb wurde aus seiner religiös und sozial sanktionierten Einbindung in Ehe und Familie herausgelöst. Er wurde trivialisiert und mit anderen Trieben wie der Nahrungsaufnahme, dem Schlaf usw. auf ein und dieselbe Ebene gesetzt. Die Psychoanalyse hatte diese Entzauberung bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitet, aber erst die 68-Bewegung machte aus einer akademischen Theorie ein die Gesellschaft radikal umformendes praktisches Programm. Seitdem haftet dem Geschlechtstrieb nichts Geheimnisvolles mehr an, aber auch nichts Gefährliches. In unendlichen, überwiegend tristen Variationen wird das Geschehen schon in Schulhöfen auf Handys virtuell konsumiert, um gleich mit beginnender Geschlechtsreife auch real abgearbeitet zu werden. Die Tragödie von Romeo und Julia wie auch der einmal so hinreißende Opernzauber, der den biologischen Trieb umgab und verklärte, wird heute von den meisten Menschen kaum noch verstanden oder sogar offen belächelt. Der Trieb entführt den Menschen nicht mehr in schwindelerregende, oft auch schwüle, von Leid geprägte Regionen der kulturellen Überwelt, sondern immer mehr finden sich „brave Bürger“ zu gemeinsamem Sexkonsum in sogenannten Swingerpartys zusammen, wo nichts so fern wenn nicht gar anrüchig ist wie Romantik oder jede andere Art geistiger Sublimierung.
Seit den 68-Jahren ist die Welt um einiges einfacher geworden. Es ist eine Welt der Singles, die durch keine soziale Notwendigkeit dauerhaft aneinander gebunden sind. Die Erfindung der Antibaby-Pille hat das Geschlechtsleben endgültig von der Fortpflanzung abgetrennt, während die letztere selbst keine Bindung an einen Partner voraussetzt. Nicht einmal für die Empfängnis bedarf eine Frau noch des Zusammenlebens mit einem männlichen Partner: Immer mehr Besamungen werden inzwischen künstlich vorgenommen. Die Frau kann auch weiterhin Kinder bekommen – für eine Mehrheit von ihnen ist das immer noch ein elementares biologisches Bedürfnis – aber für diese Kinder opfert sie nicht länger ihre persönlichen Lebensaussichten, wie das bis dahin von ihr erwartet wurde.
So haben Ökonomie und Technik gemeinsam dafür gesorgt, dass die Menschheit sich auf einen Zustand hin entwickelt, den es in so extremer Ausprägung in ihrer bisherigen Geschichte niemals gegeben hatte. Es ist durchaus absehbar, dass es bald eine Gesellschaft geben wird, die ganz ohne Ehe und Familie auskommen wird, eine Gesellschaft, die nur noch aus Singles besteht, die ihre Triebe in mehr oder weniger flüchtigen Begegnungen hetero- oder homosexueller Art befriedigen werden. Für die menschliche Fortpflanzung sind diese Begegnungen entweder ganz folgenlos oder sie führen auch dann nur selten zu bleibenden Bindungen, wenn Frauen sich davon Kinder erhoffen.
Was ich damit sagen will? Die Rolle von Technik und Ökonomie für unseren Gefühlshaushalt und die soziale Struktur einer Gesellschaft kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dennoch ist damit die für uns letzte und wichtigste Frage durchaus nicht beantwortet. Denn wir wollen natürlich wissen, ob die Summe menschlichen Glücks durch eine solche Entwicklung gesteigert oder ob sie dadurch nicht eher beeinträchtigt wird? Es ist eine schwierige Frage, denn soziale Entwicklungen sind so komplex, dass sie sich selten voraussehen lassen. Irrtümer liegen hier mindestens ebenso nahe wie Einsichten, mit denen wir der Wahrheit näher kommen. In seinen Particules élémentaires (Elementarteilchen) hat Michel Houellbecq die künftige Gesellschaft der auf sich selbst gestellten Singles beschrieben. Er zeigt, wie das Prinzip des Kapitalismus, wo jeder sich, wenn es sein muss, auch auf Kosten des anderen bereichert, in einer Gesellschaft der miteinander um Geschlechtspartner konkurrierenden Singles zur unausbleiblichen Folge hat, dass die einen immer stärker begünstigt, die anderen immer mehr benachteiligt werden. Denn nun herrscht eben auch das kapitalistische Grundprinzip, wonach dem erfolgreichen Sieger alles gehört. Die Schwächeren um die Gunst der Frauen werden auf der ganzen Linie ins Abseits gedrängt und als Versager abgestempelt. Neben der ökonomischen entsteht eine sexuelle Klassengesellschaft, in der die einen Underdogs sind und die anderen die Privilegierten. In der traditionellen Gesellschaft war eine solche Aufspaltung nicht möglich, jedenfalls dann nicht, wenn in etwa ein Verhältnis von eins zu eins zwischen den Geschlechtern bestand. Auch wer arm war und auf der sozialen Hierarchie ganz unten stand, bekam in der Regel einen Ehepartner.
Trotzdem: die Familie war nie eine biologische, sondern immer nur eine menschengemachte, eine kulturelle Institution. Deshalb lässt sich das elementare Bedürfnis nach intensivem sozialen Kontakt mit bestimmten Menschen, denen man vertrauen und auf die man sich vorbehaltlos verlassen kann, auch auf andere Art als durch die Aufgehobenheit in der Familie befriedigen. Sektenzugehörigkeit und generell die Bindung an religiöse Gemeinschaften bezeichnet hier eine Möglichkeit. Für die meisten Menschen kommt sie allerdings heute kaum noch in Frage. Eigentlich bietet sich in der modernen Gesellschaft nur noch eine einzige Art von Gemeinschaft an, die an die Stelle der Familie treten könnte, und es in vielen Fallen auch tut. Das ist die Gemeinschaft des Arbeitsplatzes. Hier verbringt der Durchschnittsbürger immerhin den größten Teil seines bewussten Lebens – sehr viel mehr als in der Familie. Doch darüber, ob der Arbeitsplatz eine solche Funktion übernehmen kann oder soll, bestehen große Auffassungsunterschiede. In starker Vereinfachung lässt sich sagen, dass das rechte Lager generell an der Familie festhält und dafür die menschlichen Beziehungen am Arbeitsplatz ganz und gar den Bedingungen der wirtschaftlichen Effizienz unterwerfen möchte. Dagegen neigt das linke Lager – auch dies natürlich wieder in starker Vereinfachung gesagt – eher dazu, die Familie preiszugeben und dafür befriedigende menschliche Beziehungen am Arbeitsplatz zu ermöglichen, selbst wenn das zu Lasten ökonomischer Rationalität und Effizienz gehen sollte.
Nach dem Vorgesagten ist klar, dass die linken Tendenzen sehr viel mehr dem Geist der Zeit entsprechen. Der Trend zur Auflösung der Familie ist inzwischen ein kaum noch zu bestreitendes Faktum. In der geistig anregenden Gemeinschaft eines Arbeitsplatzes fühlen sich inzwischen die meisten Frauen um vieles besser aufgehoben, als wenn sie auf dem engen Raum einer Mietsbehausung Tage und Jahre mit der Betreuung ihrer Kinder verbringen. Denn die Zeiten, wo der Wohnort zugleich Arbeitsplatz war und die Großfamilie für Abwechslung sorgte, gehören der Vergangenheit an. Außer auf dem Lande, in Dörfern und kleineren Städten sowie unter materiell privilegierten Schichten haben Wohnungen sich immer mehr in bloße Schlafstätten verwandelt, die den Kindern kein geeignetes Umfeld mehr bieten. Die meisten von ihnen gewinnen, wenn sie, statt die Unzufriedenheit oder den Dauerstreit ihrer Eltern aushalten zu müssen, die Betreuung in einer gut geführten Krippe genießen. So groß der Vorteil für Kinder mit glücklichen Eltern ist – denn auch die hat es gegeben und gibt es immer noch – so furchtbar können sie unter schlechten Familienverhältnissen leiden.
Welche Anhaltspunkte gibt es also für die letztlich entscheidende Frage, ob Ökonomie und Technik des vergangenen halben Jahrhunderts menschliches Glück gefördert oder vermindert haben? Ich sehe sie in der Fähigkeit einer Gesellschaft, einen echten Ersatz für die enge Bindung der Familie zu ermöglichen. In Japan war das eine Zeitlang der Fall. Seit Ende des zweiten Weltkriegs bis in die neunziger Jahre waren dort Betriebsgemeinschaften entstanden, die für die Beschäftigten weitgehend an die Stelle der Familie traten. Am Arbeitsplatz – und nur dort – hatte man seine Freunde, dort lag das eigentliche Zentrum des Lebens. Die biologische Familie spielte eine so geringe Rolle, dass der Mann für Frau und Kinder außer zum Schlafen oft nur an den Wochenenden in Erscheinung trat – und nicht selten auch dann nicht einmal. Man fühlt sich an die militärischen Männerbünde erinnert, die in manchen Stammesgesellschaften und noch im alten Griechenland eine so große Rolle spielten.
Wenn die Familie bei uns weiterhin an Bedeutung verliert – und alle Anzeichen weisen in diese Richtung – dann braucht der Mensch einen anderen Mittelpunkt für sein Leben. Irgendwo muss er sich einem Kreis von Menschen anschließen können, mit denen er dauerhafte Beziehungen aufbauen kann. Wenn alle anderen Formen der Gemeinschaft kaum noch eine Rolle spielen, dann bleibt einzig der Arbeitsplatz übrig. Doch brauchen wir diese Feststellung nur auszusprechen, um auch sogleich auf die Achillesferse unserer Zeit und sozialen Verhältnisse zu stoßen. Wurde nicht gerade der Arbeitsplatz während der vergangenen zwei Jahrzehnte immer mehr dem Diktat äußerer Zwänge ausgeliefert? Nur noch in den wenigsten Bereichen ist er halbwegs geschützt: z.B. in Schulen, Behörden und im Kleingewerbe. Die Mehrheit der Menschen ist dagegen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen tätig, denn diese wurden durch den Neoliberalismus der globalen Konkurrenz und damit dem gnadenlosen Diktat der Effizienz ausgesetzt. Unter solchen Bedingungen können sich keine dauerhaften menschlichen Bindungen entwickeln. Es herrscht das Ellenbogenprinzip, wo jeder sich gerade so lange behauptet, wie er seine persönlichen Bedürfnisse nach menschlicher Wärme und Loyalität unterdrückt und sich als bloße Funktion ganz und gar den Betriebszielen unterwirft. Das neoliberale Unternehmen ist eine Arbeitsmaschine, wo nicht der Mensch über das Wirtschaftsgeschehen, sondern dieses über den Menschen herrscht. Nicht der Mensch als Gemeinschaftswesen, sondern der sozial entwurzelte flexible Mensch wird hier verlangt und gezüchtet.
Welche Lehren sind aus dem Rückgang der spanischen Scheidungsquote zu ziehen? Ich fürchte, es werden nicht die richtigen sein, und deshalb gibt es einen wirklichen Grund zur Sorge. Ökonomie und Technik, die materiellen Bedingungen menschlicher Existenz, haben eine der ältesten Institutionen der Menschheit, die Familie, zerstört – wir sind gerade dabei, sie zu begraben. Das wäre an sich kein Unglück, wenn es gelänge, etwas Gleichwertiges an ihre Stelle zu setzen. Doch bisher ist das nicht gelungen. Ein solcher Ersatz ist im Augenblick nicht einmal in Sicht. So sind wir im Begriff, eine Gesellschaft der Entwurzelten, der Heimatlosen und der beziehungslosen Einsamen zu werden. Der flexible Mensch ist ein haltloser, ein sozial frei schwebender, nirgends mehr geborgener Mensch, der für alle Radikalismen anfällig ist, sofern ihm diese nur neue Geborgenheit verheißen.