Es ist erstaunlich und doch sicher kein Zufall, dass die Juden, die vor der Vernichtung durch die Nazis nur etwa ein Prozent der Bevölkerung Deutschlands und Österreichs ausmachten, etwa die Hälfte der bekanntesten Schriftsteller stellten, und dass sie sich eine solche geistige Vormachtstellung auch in anderen Ländern Europas verschafften. Außenseiter bzw. Menschen, die sich als solche fühlen oder von einer Mehrheit so gesehen werden, eignen sich einen schärferen Blick für ihre Umwelt an als jene Menschen, die aufgrund ihrer Geburt sozusagen einen selbstverständlichen Teil in ihr bilden. Das trifft in hohem Maße auch auf Sie, Herr Kermani, den muslimischen Wissenschaftler und Schriftsteller, zu. Über deutsches Denken, deutsche Exzellenz und deutsche Wunderlichkeiten ist viel aus Ihren Schriften zu lernen, weil Sie als Kenner einer ganz anderen, nämlich der muslimischen Welt das Selbstverständliche Ihrer deutschen Umgebung eben gerade nicht als selbstverständlich erleben, sondern es in neuem Licht als herausfordernd oder auch anfechtbar sehen. Der Blick aus doppelter Perspektive von innen und außen zugleich ist ein Privileg, dem Deutschland und Österreich so viel hervorragende Literatur gerade von Menschen verdanken, deren Eltern oder die selbst als Eingereiste zu uns gelangten. Denn der Zusammenstoß der Kulturen erzeugt Funken – viele von höchster geistiger Leuchtkraft.
Die Vogelperspektive, die das Eigene um das Fremde bereichert und dadurch beides mit verschärfter Kontur umgibt, ist allerdings nicht nur das Privileg von Menschen, die ihrer Herkunft nach anderen Kulturen entstammen, der jüdischen zum Beispiel oder der muslimischen, sondern war, so sehen Sie es ja auch, von jeher ein Kennzeichen des geistig überlegenen Menschen. Der Weltbürger, mag er nun Lessing, Goethe, Zweig oder Kafka heißen – jeder von ihnen ein Vertreter der besten deutschen Tradition, auf die Sie sich, verehrter Herr Kermani, in Ihren Schriften beziehen -, blickt über den Tellerrand der eigenen Kultur und entdeckt die ganze Fülle des Menschlichen jenseits der Grenzen genauso wie im eigenen Land – nur in jeweils anderen Ausdrucksformen. Aus dieser Perspektive erschienen Lessing die verschiedenen Religionen als ebenso viele Wege zu Gott, und Herder sah in den kulturellen Ausdrucksformen der Völker ebenso viele Pfade, in denen das Menschliche sich anschaulich manifestiert. Die liebevolle Beschäftigung mit dem Fremden konnte sogar zu einer bewussten Distanzierung vom Eigenen führen wie etwa bei Goethe, der immer wieder heftig gegen das Christentum polemisierte, oder bei Nietzsche, der Anwandlungen von Verachtung gegenüber seinen Landsleuten kannte: „Es gehört zu meinem Ehrgeiz, als Verächter der Deutschen par excellence zu gelten.“ Der gute Deutsche, das ist für Sie, Herr Kermani, genau derjenige, der diese weltbürgerliche Haltung einnimmt, und dabei noch eher bereit ist, das Eigene in kritisches Licht zu rücken, als das Fremde allzu selbstgewiss oder gar borniert von sich zu weisen.
Die kosmopolitischen Mystiker
In dieser Neigung, den Denkgewohnheiten des eigenen kulturellen Umfelds mit Skepsis gegenüberzutreten, vermag ich allerdings keine spezifisch deutsche Eigenart zu erblicken. Sie selbst verweisen auf persische Autoren wie Attar, Khayyam und Rumi, die großen Mystiker des Islam, die sich keineswegs als orthodoxe Anhänger der eigenen Religion verstanden (des damaligen Inbegriffs von Kultur), sondern – so auf grandiose Art vor allem Dschalal Ad-Din ar-Rumi – jene weltbürgerliche Vogelperspektive bezogen, vor der jede Religion (und mit ihr alle Kultur) als bloße Annäherung an ein unsagbares Ziel erscheint, ein Ziel, das jede von ihnen zwar in Denken, Fühlen und Ritualen beständig umkreist, aber keine von ihnen jemals zu ihrem fraglosen Besitz machen kann. Den weltbürgerlich gesonnenen Menschen, der jede Kultur in ihrer konkreten Erscheinung als bloßes Menschenwerk relativiert und daher alle darauf begründeten Unterschiede letztlich auch als menschengemacht durchschaut, hat es in Wahrheit schon viel früher und wohl auch von jeher gegeben: Der indische Mystiker, wie er uns in den Upanischaden entgegentritt, hatte sich schon ganze fünfhundert Jahre vor Christus von aller konkreten Dogmatik und Tradition abgelöst, um auf die ihn umgebende Religion und Kultur aus derselben Adlerperspektive hinabzublicken, wie die islamischen Mystiker oder Meister Eckhart (ihr christlicher Zeitgenosse) das erst sehr viel später taten (zur Mystik in West und Ost hat Rudolf Otto Unübertreffliches gesagt).
Warum wurden diese frühesten Kosmopoliten immer wieder verfolgt?
Doch liegt in unserer Bewunderung für diese geistige Höhe nicht auch ein Gran von allzu voreiliger Zustimmung? Sollten wir uns nicht auch die Frage stellen, wie es denn zu erklären sei, dass dieser früheste Typus des Kosmopoliten, der radikale Mystiker, zu allen Zeiten verfolgt worden ist – auch und gerade in Persien, dem Land Ihrer Vorfahren? Die Mystiker waren Weltbürger im besten Sinne des Wortes, da sie die ganze Welt, ja den ganzen Kosmos, in sich aufnehmen wollten. Warum wurden gerade sie immer wieder zu Zielscheiben des Hasses? Können wir diese auf den ersten Blick so schwer zu verstehende Tatsache allein damit begründen, dass die Mehrheit der Menschen eben nie zu derselben Höhe geistiger Freiheit gelangt und aus diesem Grund keine Ausnahmemenschen unter sich duldet? Ich glaube, so einfach dürfen wir uns die Erklärung nicht machen. Der Grund für die Feindschaft muss in größerer Tiefe liegen. Er ist, wie mir scheint, in einem Mangel dieses Weltbürgertums selbst begründet. Hierüber eine Diskussion zu entfachen, ist der Sinn meines Briefes an Sie, sehr verehrter Herr Kermani.
Zwei Typen des Weltbürgers: der bejahende und der verneinende
Die Beschäftigung mit dem Anderen, dem Fremden, dem Unbekannten bringt nämlich, so sehe ich es, zwei gegensätzliche und einander doch nahe verwandte Typen des Weltbürgertums hervor. Der eine, zu dem Sie selbst, Herr Kermani, gehören und natürlich die weiter oben genannten Klassiker, breitet gegenüber der Welt die Arme aus, weil ihn der Erkenntnisdrang dazu treibt, auch das Fremdeste dem eigenen geistigen Horizont einzuverleiben. Ich möchte ihn als den bejahenden Weltbürger bezeichnen. In diesem Sinne verfolgen Sie etwa die Spuren, welche islamische Kunstformen und Gedanken in der abendländischen Literatur hinterließen, z. B. bei Boccaccio und Dante; in diesem Sinne hatte schon Goethe seinen Faust II geschrieben, nämlich als eine Art poetisch-pädagogischen Lehrbuchs, um den gebildeten (oder erst noch zu bildenden) Deutschen über die germanische Mythologie hinaus ebenso mit der griechischen bekannt zu machen.
Dem steht der zweite Typus gegenüber, den ich den verneinenden Weltbürger nennen möchte. Die Beschäftigung mit dem Fremden kann nämlich auch eine ganz andere Wirkung erzeugen. Der verneinende Weltbürger gelangt zu der Erkenntnis, dass sich das Eigene und das Fremde in ihrer Geltung und Wahrheit gegenseitig relativieren, z. B. die einander im Einzelnen so oft heftig widersprechenden Religionen; die nicht selten gegensätzlichen Moralvorschriften; die im Detail unverträglichen kulturellen Gebote von Sitte, Brauch usw. Auf direktem logischen Pfad kann das Studium dieser Gegensätze den verneinenden Weltbürger dazu bewegen, Religionen überhaupt für Hirngespinste zu halten, Moralsysteme für bloße willkürliche menschliche Gebote, Sitte und Brauch für überflüssige Konventionen.
Weichen, die das 17. Jahrhundert stellte
Ich spreche von einem logischen Pfad, der in die Richtung des verneinenden Weltbürgers weist, ich könnte mich jedoch ebenso auf eine tatsächliche historische Entwicklung beziehen, die spätestens seit dem 17. Jahrhundert kennzeichnend für die geistige Geschichte Europas ist. Erlauben Sie mir, lieber Herr Kermani, den Gegensatz zwischen Bejahung und Verneinung zunächst auf einer tiefer liegenden Ebene zu illustrieren, weil er sich dort mit noch schärferem logischen Profil präsentiert. Im 17. Jahrhundert gelangte Galileo Galilei zu der für das wissenschaftliche Weltbild seiner Zeit revolutionären Erkenntnis, dass die eigentliche Sprache der Natur nicht die der Geschmacksempfindungen, Gerüche oder Töne sei, sondern dass dies nur auf Gestalt, Zahl und Bewegung zutreffe. „Hätten wir Ohren, Zungen und Nasen entfernt, so würden … zwar Gestalt, Zahl und Bewegung bleiben, aber nicht die Gerüche, die Geschmacksempfindungen oder die Töne.“
An unsere Farbwahrnehmung konnte Galilei damals noch nicht denken, soweit war die Wissenschaft in seinen Tagen noch nicht, heute bildet gerade sie den wesentlichen Teil des Arguments: Wir wissen, dass verschiedene Lebewesen – Menschen, Bienen, Fliegen etc. – das Kontinuum elektromagnetischer Wellen jedes auf eigene Art zerlegen, wobei ihr neuronaler Apparat bestimmten Abschnitten auf dieser kontinuierlichen Wellengeraden spezifische psychische Werte zuordnet, die wir als Farben bezeichnen. Aus eigener evolutionär gewachsener Kreativität ordnet unser Gehirn einer ganz andersartigen physikalischen Realität somit bestimmte Empfindungen zu, die sich von Art zu Art – zum Teil weitreichend – unterscheiden. Der Schluss ist daher unabweisbar, dass Farben in der physikalischen Wirklichkeit selbst nicht existieren. Was wir als solche empfinden, wird erst von unserem Gehirn produziert – eine Beobachtung, die natürlich genauso für Gerüche und Töne gilt, weil die Natur nur Schwingungen der Luft bzw. Moleküle von spezifischem Aufbau kennt, die wir als Geruch wahrnehmen.
Die Wirkung dieser bahnbrechenden Erkenntnis Galileis hätte rein positiv bleiben können; in diesem Fall wäre unser bisheriges Wissen nur um eine weitere Erkenntnis bereichert worden: Es gibt die Welt der materiellen Phänomene auf der einen Seite und auf der anderen die psychischen Empfindungen, die ihnen ein lebender Organismus zuordnet. Doch die Entdeckung des Italieners übte eine radikal andere Wirkung aus: nicht weniger als eine geistige Revolution. Der verneinende Weltbürger betrat zum ersten Mal ein, wie es schien, unerschütterliches, wissenschaftliches Fundament. Mit Galilei erkennt er, dass Töne und Gerüche (die Farben hatte Galilei, wie gesagt, noch nicht hinzugerechnet) subjektive Erfahrungen sind, welche als solche nichts gemein haben mit der objektiven Wirklichkeit selbst. Heute ist ihm darüber hinaus bewusst, dass diese subjektiven Erfahrungsformen von Lebewesen zu Lebewesen die größten Unterschiede aufweisen, weil einige von ihnen bei der Wahrnehmung derselben farb-, ton- und geruchlosen Wirklichkeit ganz andere Farben sehen, ganz andere Töne hören und ganz verschiedene Geruchsempfindungen haben. Die Farben, Töne und Gerüche selbst müssen daher als doppelt subjektiv und in diesem Sinne auch als doppelt zu-fällig und will-kürlich gelten.
Von der Relativierung der Sinne zur Relativierung der Kultur
Warum ist diese Erkenntnis für den verneinenden Weltbürger von so großer Bedeutung? Über die Antwort auf diese Frage lässt die Geistesgeschichte nach dem siebzehnten Jahrhundert keinerlei Zweifel zu. Denn dem denkenden Menschen musste sich nun der Schluss aufdrängen: Wenn schon die uns angeborenen spezifischen Erfahrungsformen aus der Sicht der Naturwissenschaft nicht als notwendig gelten können, da sie erst durch und mit unserem Organismus entstehen, wie viel mehr muss dies dann auf die gesamte Sphäre der Kultur zutreffen, von deren verschiedenen Erscheinungsformen wir wissen, dass sie sämtlich in historischer Zeit entstanden (und viele von ihnen auch wieder vergangen sind)? Dieser nahe liegende Schluss hat in der europäischen Neuzeit zu einer fortschreitenden Trennung der sogenannten objektiven von den subjektiven Wirklichkeiten geführt. Seit dem siebzehnten Jahrhundert sucht man in den vorherrschenden Büchern moderner Welterkenntnis, also in denen der Mathematik, Physik, Chemie usw., vergeblich nach Hinweisen auf Religion und Kultur, während das genau umgekehrte Verhältnis doch für alle vorangehenden Epochen kennzeichnend war, wo in den Büchern mit der weitaus größten Verbreitung, also in den auf Religion, Moral oder Kunst bezogenen Texten, die Hinweise auf die materielle Welt fast immer in weltanschauliche Betrachtungen eingebettet erscheinen.
Das Weltbild von Naturwissenschaft und Technik hat dem erkennenden Menschen eine neue Vogelperspektive verschafft, die ihn im Laufe der Zeit mehr und mehr in einen verneinenden Weltbürger transformierte, weil ihm nun – und zwar zum ersten Mal in der Geschichte – sogar die eigene psychische Konstitution als subjektiv und in diesem Sinne radikal relativiert erscheint. Natürlich erfreut sich auch der in diesem Weltbild geschulte Mensch weiterhin an Farben, Tönen und Düften, doch nach seinem Biss vom Apfel der Erkenntnis hat er seine ursprüngliche Naivität eingebüßt. Er weiß, dass es sein eigenes neuronales System ist, das solche subjektiven Wahrnehmungen in ihm zum Zweck des besseren Überlebens erzeugt.
Das mag eine letztlich harmlose Aufklärung sein, aber im Hinblick auf die Sphäre der Kultur ist dieser Verlust an Naivität alles andere als harmlos. Da alle Ausdrucksformen der Kultur – mögen sie nun solche der Kunst, der Religion, des Rechtswesens oder der Sitte sein – jetzt mit dem Makel des bloß Subjektiven behaftet sind, sind sie aus der Perspektive des Kosmopoliten auch alle gleich gültig und werden von ihm mit leichter Hand in die Gleichgültigkeit abgedrängt. Nicht dass dieser neue verneinende, weil alles relativierende Weltbürger nicht unter Umständen über ein sehr großes Wissen verfügt, nur ist dies kein erlebtes, gefühltes, existentiell erfahrenes Wissen, sondern alles verkümmert ihm zu bloßer Information: Sekundärwissen von etwas, das man aus großer Höhe betrachtet, eben als Wissenschaftler, und das man daher gefühlsmäßig mit ebenso großer Distanz analysiert wie die Vorgänge der unbelebten Natur. Diese Haltung trifft heute auf einen Großteil der Techniker und der internationalen Korporationselite zu, deren Angehörige weitgehend nur noch in Formeln und Informationen denken, weil die objektive Welt jenseits des Menschlichen, die sie allein interessiert, eben auch nicht anders erfasst werden kann. Sie, Herr Kermani, haben diese Entwicklung beklagt, weil sie inzwischen auch schon unsere Schulen erfasst: „Wissen reduziert sich auf Information, damit auf die Nützlichkeit, die es in diesem oder jenem Zusammenhang haben könnte, in diesem Modul, für jene Prüfung.“
Ein philosophischer Irrweg
Ich glaube, dass Sie mit mir einer Meinung sind, wenn ich hier von einem Mangel des Weltbürgertums spreche, ich möchte es sogar einen philosophischen Irrweg nennen. Die Aufwertung der Natur als eines Reichs des Objektiven, das es zu erkennen und zu beherrschen gilt, und die sie begleitende Abwertung unserer Sinne und des Menschen überhaupt als eines in der eigenen Subjektivität hoffnungslos eingekerkerten Wesens stellt aus meiner Sicht einen der vielleicht merkwürdigsten Abwege menschlichen Denkens dar. Konsequent weiter gedacht, würde der Mensch erst dadurch zur Vollkommenheit gelangen, dass er zu einem Roboter mutiert, der nicht Farben erlebt, sondern Wellenlängen registriert, der sich nicht für Musik begeistert, sondern Frequenzen misst, der nicht leidet und sich nicht freut, der nicht lacht und keinen Schmerz empfindet, sondern nur noch deren neuronale Entsprechungen. Inzwischen ist es längst kein Geheimnis mehr, dass genau diese vermeintliche Perfektionierung des Menschen, also seine sukzessive Ersetzung durch die Maschine, in den führenden Labors dieser Welt systematisch verfolgt und angestrebt wird. Der an seiner Subjektivität leidende Mensch ist im Begriff, sich selbst durch ein, wie er meint, höheres Wesen, den objektiven Apparat, zu ersetzen.
Sieht man einmal ab von der Gegenbewegung des deutschen Idealismus, so wurde diese Selbstabschaffung des Menschen nie ernsthaft in Frage gestellt, heute schon gar nicht, weil sie ja nicht nur in der künstlichen Intelligenz (aber dort vor allem) erstaunliche Erfolge verbuchen kann. Das ändert nichts daran, dass das Denken hier in die übliche Falle ging, eine Teilwahrheit zur alleinigen Wahrheit aufzublasen. Es ist richtig, dass keine Farben, keine Töne, kein Hass und keine Liebe außerhalb von uns selbst (und anderen Lebewesen) in der unbelebten Natur existieren, doch daraus zu schließen, dass sie deswegen als subjektive Zutaten und als minderrangig zu gelten hätten, ist eine fundamentale Verirrung. Denn die Welt, die da als objektiv vorausgesetzt wird, existiert ja immer nur und ausschließlich für ein subjektives Bewusstsein. Ohne uns (und andere wahrnehmende Lebewesen) wäre sie nicht da – zumindest würde jede anderslautende Behauptung ihren Sinn verlieren, denn es gäbe niemanden, der sie zu beweisen vermag. Daraus aber ist zu schließen, dass die Fixierung der Wissenschaften auf das vermeintlich objektive Sein der Dinge doch nur den einzigen Zweck verfolgt – und auch nur verfolgen kann -, unserer menschlichen Augenblicksexistenz und deren subjektiven Zielen zu dienen. Wenn wir überhaupt von einer Rangfolge sprechen wollen, dann ist es notwendig diese konkrete, subjektive Befindlichkeit, welche zugleich das Ziel und den eigentlichen Zweck all unserer Bemühungen um objektive Erkenntnis bildet. Sie, diese subjektive Befindlichkeit, steht an erster ontologischer Stelle und mit ihr auch der fühlende, liebende, hassende, kurz der in einer Kultur verwurzelte Mensch. Selbst dann noch steht er notwendig im Mittelpunkt dieser Welt, wenn er sich mit Galilei aus ihr durch das abstrakte Denken hinauskatapultiert und dabei schließlich dem Wahn verfällt, dass er erst als nicht-fühlendes, nicht-liebendes Roboterwesen die Vollkommenheit erlangt.
Die mystischen Kosmopoliten haben den gleichen Weg der radikalen Relativierung beschritten
Sehr geehrter Herr Kermani, dieser Abstecher ins siebzehnte Jahrhundert und die darauf folgende Faszination durch die Maschine ist von dem Thema des Weltbürgers weniger weit entfernt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Der verneinende Weltbürger, der den Kosmos in sich aufnehmen will, aber dabei zu einer radikalen Relativierung alles nur ‚Subjektiven’ gelangt, ist nicht erst mit Galilei entstanden, sondern es gibt ihn schon bei den Mystikern, diesen Weltbürgern par excellence. In seinem Buch über ‚Les grands penseurs de l’Inde’ bemerkte Albert Schweitzer erstaunt, dass die Mystik der Brahmanen weitgehend oder auch ganz ohne Moral auskomme. Aus der Höhe ihrer weltüberlegenen Adlerperspektive erschien den Brahmanen die Moral in der Tat als etwas Menschengemachtes und damit Will-Kürliches, das man der Gottheit eben deshalb keinesfalls zuschreiben dürfe. Horkheimer bemerkt in der ‚Kritik der instrumentellen Vernunft’: „Die Feststellung, dass Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und Unterdrückung, ist wissenschaftlich nicht verifizierbar und nutzlos. An sich klingt sie mittlerweile gerade so sinnlos wie die Feststellung, Rot sei schöner als Blau oder ein Ei besser als Milch.“ Die Brahmanen waren die religiösen Virtuosen und Wissenschaftler ihrer Epoche. Moralische Kategorien hielten auch sie für überflüssig.
Andere Formen der Mystik wollen nicht die Moral, sondern alles menschliche Denken im Zusammenhang mit Gott eliminieren, denn dieses sei notwendig anthropomorph und damit dem höchsten Wesen nicht angemessen. Übrig blieb dann nichts als der Überschwang des Gefühls. Andererseits gab es – vor allem in Indien – streng rationale Formen der Mystik, die wiederum das Gefühl als menschlich-allzumenschlich verbannten. All diesen verschiedenen Formen des mystischen Weltbürgertums ist der übermenschliche Standpunkt, die Vogelperspektive, gemein, welche in den gewachsenen, volkstümlichen Formen der Religion Tausende von anthropomorphen Einschlüssen wittert und diese dann so weit eliminiert, dass am Ende nur ein bis zur Unkenntlichkeit verdünntes Residuum übrig bleibt, ein Religionsextrakt, das stets in Gefahr ist, in den reinen Agnostizismus umzuschlagen. Was übrig bleibt, ist dann der namenlose, unnennbare und unerkennbare Gott; ja selbst die Gottesidee kann schließlich als menschengemacht erscheinen: Wer diese geistige Vogelperspektive bezieht – und sie ist im Laufe der menschlichen Geschichte immer wieder bezogen worden (sogar in einem der ältesten Zeugnisse menschlichen Denkens, einem berühmten Vers des Rgveda) -, der verlässt das Lager der bejahenden, um zum verneinenden Weltbürger zu werden. Da der Mensch eben doch nur menschlich-subjektiv erkennen könne, versagt er sich aller letzten Erkenntnis, sieht in der Kultur nur noch den Schleier der Maya, eine Täuschung also, und begnügt sich im täglichen Leben mit der instrumentellen Erkenntnis von Technik und Wissenschaft, die ihm zumindest einen nachweisbaren Nutzen, nämlich ein bequemeres Leben verschafft.
Diese pessimistische oder manchmal nur oberflächliche Grundeinstellung lässt sich sehr wohl mit den Gepflogenheiten einer Spaßgesellschaft verbinden, die, wie Sie es beklagen, keinen Sinn mehr für die metaphysische Dimension der menschlichen Existenz aufbringt. Eine solche Haltung wird zusätzlich noch durch das in unserer Zeit tätige Rührwerk der Globalisierung begünstigt, welches Menschen aus allen Kulturen wahllos miteinander vermischt. Welchen Schaden sollte das schon bewirken, wenn Kulturen doch nur menschengemachte, ephemere Gewänder sind, die wir im Prinzip jederzeit ablegen oder auswechseln können?
Die Kosmopoliten wurden verfolgt, weil sie das Band der Gemeinschaft zerreißen
Meines Erachtens drückt sich darin eine Fehleinschätzung aus, deren Folgen fatal sein werden. Kultur ist uns zwar nicht so eng an den Leib gewachsen wie unser evolutionär verankertes Farben-Sehen und Töne-Hören. Sprachen, Religionen, Rechtssysteme verändern sich mit der Zeit, und nach Jahrhunderten können sie sich auch völlig verwandeln oder gänzlich verschwinden. Aber wie sehr sie uns bereits im Banalsten beherrschen, das können wir schon aus ganz elementaren Beispielen erfahren. Dass wir in der deutschen Sprache systematisch zwischen drei Geschlechtern differenzieren, hat schon die Spottlust eines Mark Twain wachgerufen. Er machte sich darüber lustig, dass es wahlweise der Kopf, die Birne oder das Haupt heißen könne. Es stimmt, im Vergleich zu anderen Sprachen wie dem Chinesischen oder Englischen erscheint das als reine Willkür, die allerdings nur dem sprachlich Gebildeten bewusst wird, niemals dem naiv Sprechenden. Würde sich der sprachlich Gebildete jedoch erdreisten, seine Sätze ohne die drei Artikel zu bilden, dann würde man ihn nicht als einen Mann der Erkenntnis feiern, sondern in einer Irrenanstalt einsperren: Mutwillig hätte er mit seinem Vorgehen die gemeinsame Sprache, das elementare Band zerrissen, das Menschen zusammenhält, sie für einander berechenbar macht. Die Vogelperspektive, von der aus betrachtet die Unterscheidung der drei Geschlechter schlechterdings willkürlich und unsinnig ist, erscheint uns zu Recht als menschenfeindlich, weil sie Gemeinschaft zerstört.
Hier sehe ich den Grund, warum Mystiker – die Weltbürger früherer Epochen – so oft zum Gegenstand gnadenloser Verfolgung wurden. Auf ihre Weise haben sie das Band zerrissen, welches die Menschen in einer Gemeinschaft zusammenhält. Sie blickten aus zu großer Höhe auf die Religion, auch auf ihre eigene, hinab, und da erschien ihnen dann deren konkreter Wortschatz an Glaubensinhalten und Ritualen als willkürlich und entbehrlich. Aber Religio – und letztlich Kultur überhaupt – ist für die meisten Menschen zuallererst eine täglich benutzte Sprache, mit der sie sich unter einander verständigen, sich miteinander freuen, gegenseitig berechenbar werden, und so vor allem auch die Angst verlieren, die aus jeder Unberechenbarkeit folgt. Wenn der verneinende Weltbürger dieses Band zerschneidet – es genügt, dass er dessen Geltung in Frage stellt, wie es die Mystiker taten – dann steht er für die anderen außerhalb der Gemeinschaft.
Noch mehr gilt dies für die direkte Konfrontation mit dem Anderen
Wenn diese Beobachtungen zutreffend sind, dann weiß ich nicht, wie wir der weiteren Folgerung ausweichen können, dass die gleiche Wirkung der Verunsicherung in noch viel höherem Maße von der direkten Konfrontation mit der anderen Kultur, der anderen Religion, den anderen Rechtssystemen und so fort ausgeht. Durch ihr bloßes Vorhandensein postulieren diese ja eine Vielfalt der Wahrheiten und möglichen Seinsentwürfe. Der bejahende Weltbürger, den Sie zu Recht als Vorbild bezeichnen, bereichert die eigene Kultur, weil er dieses andere nur zur Debatte stellt, nichts erzwingt, nur als Möglichkeit aufzeigt. Wenn er wie Sie, Herr Kermani, Philosoph oder Schriftsteller ist, trennt ihn von vornherein eine Grenze von seinen Lesern. Was immer er vorbringen mag, bleibt es doch den Letzteren überlassen, seine Ideen zu akzeptieren oder auch nicht. Diese schützende Grenze besteht auch zwischen räumlich von einander getrennten Kulturen, Religionen und Sprachen. Grenzen waren von jeher das wirksamste (wenn auch keinesfalls ein unfehlbares) Instrument, um jede von ihnen vor den Absolutheitsansprüchen der anderen zu schützen. Die widerstreitenden Wahrheiten blieben durch Berge und Meere voneinander getrennt, dadurch entstanden weniger Konflikte, als wenn sie auf engem Raum aufeinander stoßen. Denn die Mehrheit der Menschen sind eben nie Weltbürger gewesen und werden es wohl niemals sein, weder in bejahendem noch in verneinendem Sinn. Eine gemeinsame Sprache der religiösen, weltanschaulichen, philosophischen Selbstverständlichkeiten verliert ihre Tauglichkeit, wenn ihre Geltung relativiert oder bezweifelt wird. Man spricht ja auch nie zwei Sprachen zugleich (selbst der bejahende Weltbürger lernt fremde Sprachen fast nie so gut wie die eigene Muttersprache), man kann als gläubiger Mensch nicht zugleich Christ und Muslim sein (nicht einmal zur gleichen Zeit Katholik und Protestant), man kann als Angehöriger eines Staates nicht zugleich in zwei Rechtssystemen mit unterschiedlichen Regeln leben. „Tatsächlich haben sich Menschen seit jeher als Angehörige eines Wirs definiert, als Mitglieder einer Gemeinschaft, die von anderen Wir-Gemeinschaften unterschieden ist“, wie Sie, Herr Kermani, es formulieren.
Bejahung der Grenzen als Schutz für menschliche Vielfalt
Sollten wir dann nicht akzeptieren – auf diese Frage läuft mein Brief letztlich hinaus – dass die wunderbare Vielfalt der kulturellen Seinsentwürfe – in meinen Augen der eigentliche Sinn menschlicher Freiheit – nur dann überleben wird, wenn wir weiterhin die Existenz von Grenzen bejahen? Am glücklichsten waren doch sicher jene Kulturen, die – durch natürliche Grenzen weitgehend geschützt – eine kulturelle Wir-Gemeinschaft, einen Kosmos eigenen Fühlens, Denkens und Glaubens, über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende ungestört aufbauen und zu immer größerer Komplexität vervollkommnen konnten, wie dies etwa auf China, Japan und Indien zutrifft. Die selbsterschaffene kulturelle Welt wurde dann als so selbstverständlich und so „natürlich“ empfunden, dass der Gegensatz zur Natur überhaupt aus dem Blick geriet. Das Selbstverständliche kristallisiert zur zweiten Natur, es wächst dem Menschen so auf den Leib, als wäre er damit wie mit den eigenen Gliedern von vornherein auf die Welt gekommen. Als glücklich darf man diesen Zustand deshalb bezeichnen, weil das Selbstverständliche dann keiner Verteidigung mehr bedarf und deshalb ohne jeden Fanatismus gelebt wird (so wie das nach außen geschützte Kind die eigene Sprache und alles, was ihm die Eltern als Kultur übermitteln, in den ersten Jahren als naturgegeben in sich aufnimmt).
Unglücklich dagegen sind jene Zeiten, da die Wir-Gemeinschaft ihre eigenen Überzeugungen, ihr eigenes Handeln durch die Gegenwart des Fremden ständig in Frage gestellt und bedroht sieht – Fanatiker und Fundamentalisten haben dann Hochkonjunktur. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs gleicht die Geschichte Europas einem fortwährenden „Clash of Civilizations“, der den verschiedenen, auf kleinem Raum so eng zusammengepressten Kulturen keine Ruhe und keinen Frieden gönnte. Protestanten und Katholiken einigten sich nach dem 17. Jahrhundert schließlich aus purer Erschöpfung auf eine Parallelexistenz; den so unterschiedlichen Staaten Europas gelang dies erst im vergangenen Jahrhundert, und auch erst nach den Verheerungen zweier Kriege. Statt sich weiterhin zu bekämpfen, akzeptiert nun jeder die Andersartigkeit seiner Nachbarn.
Das Globalisierungsrührwerk und der Clash of Civilizations
Doch jetzt sorgt ein mächtiges Globalisierungsrührwerk (angetrieben von einer Politik, die rund um Europa für Chaos sorgte) für neuerliche Verunsicherung mit den üblichen schon jetzt unübersehbaren Folgen. Auf der populären Ebene (vorerst noch nicht auf der der intellektuellen Eliten) wird gewachsene Komplexität – das Merkmal aller alten hoch-entwickelten Kulturen – in diesem neuen Clash of Civilizations in beängstigendem Tempo zerrieben. „Fuck-you-Göte“ – darin drückt sich das Triumphgeheul der neuen Barbaren aus, von einem Teil der bundesdeutschen Intelligenz allerdings mit weltüberlegenem Satyrgelächter quittiert, weil es ja, sub specie aeternitatis betrachtet, keinen Grund zur Beunruhigung gebe. Irgendwann werde aus diesem Clash der Gegensätze, aus dieser freiwilligen Zerstörung der eigenen kulturellen Traditionen, mit Sicherheit etwas ganz Neues entstehen. Zweifellos. Aber der Blick auf die Geschichte gibt uns leider auch zu verstehen, dass solche Prozesse erst einmal breite Spuren der Verwüstung erzeugen und sich über Generationen erstrecken. Nach der Invasion der französisch-sprachigen Normannen brauchte England mehr als zwei Jahrhunderte bis sich aus den Trümmern, die der Clash of Civilizations erzeugte, endlich wieder ein stattliches Gebäude erhob, eine neue eigenständige Kultur, welche die früheren Gegensätze erfolgreich miteinander verschmolz.
Ungarn, Mazedonien, Österreich haben ihre Grenzen geschlossen – ein Akt der Grausamkeit gegen das Leid, ein Akt der Unmenschlichkeit. Aber wenn die Folgen einer unbegrenzten Einwanderung auf lange Sicht noch viel bedrohlicher sind, weil sie noch mehr lang anhaltendes Leiden, noch mehr fortwirkende Unmenschlichkeit bewirken, dann sehe ich darin die einzig richtige Politik. Als bejahender Weltbürger gelange ich zu demselben Schluss, den auch Sie vertreten. „Deutschland /und Österreich und Europa/ muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen.“ Es sollte sich ein Vorbild an Bayern nehmen, das die Aufgabe der Integration bisher wohl am besten bewältigt hat, weil es nur so viele Flüchtlinge aufnimmt, wie es sich zutraut, zu gleichberechtigten, chancengleichen Bürgern zu machen. Sollte das nicht, statt der forcierten Engros-Aufteilung eine selbstverständliche Politik für Deutschland und auch für Europa sein, damit dieses dramatische Experiment nicht mit „Fuck you Göte“, dem Zerbrechen Europas und schließlich mit der Machtergreifung der extremen Rechten endet?
Mancher dieser Gedanken werden vielleicht erst vor dem Hintergrund einiger meiner früher zu diesem Thema verfassten Artikel verständlich:
Natur und Kultur – warum wir das Fremde lieben und Migration doch immer ein Problem sein wird.