Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Ich verehre den ehemaligen Chefredakteur des österreichischen Profil und heutigen Mitarbeiter beim Falter für seine klare Ausdrucksweise, seine Geradlinigkeit, sein politisches Gespür und, ja, für seinen Gerechtigkeitswillen. Außerdem liegt mir – hoffentlich – die gerade unter linken Denkern so verbreitete Neigung fern, über einen Punkt auf dem ideologischen „i“ bis hin zum Zerwürfnis zu streiten. Also noch einmal: Ich lese Lingens stets gern, gerade deswegen fühle ich mich aber zu Protest aufgerufen, wenn er seine Geradlinigkeit und seinen Gerechtigkeitswillen offenkundig beiseiteschiebt.
Diesen Vorwurf bringe ich keineswegs leichtfertig vor, aber es ist nun einmal so, dass man Tatsachen nicht nur missachtet, indem man sie offenkundig verdreht, sondern schon in dem Augenblick, wenn man alle ihnen widerstreitende Evidenz übergeht. Genau das tut Lingens – wieder und wieder – wenn er auf seinem Steckenpferd reitet: dem für ihn unbestreitbaren Segen staatlicher Verschuldung.*1* In seinem letzten Falter-Artikel „Zerbricht Italien an Deutschland?“ reitet er diesen seinen Lieblingsgaul wie ein wiedergeborener Don Quichotte mit eingelegter Lanze gegen die Bundesrepublik Deutschland, der er die Verantwortung für das mögliche Zerbrechen der EU ankreidet.
Lingens‘ Argument ist ziemlich schlicht. Ohne ihn zu erwähnen, nimmt er imgrunde nur eine von dem deutschen Ökonomen Heiner Flassbeck schon Jahre zuvor geäußerte Kritik wieder auf. Lingens spricht wörtlich von einer „wahnwitzigen deutschen Lohnpolitik“. Die hatte zur Folge, dass „deutsche Waren dank ‚Lohnzurückhaltung‘ bis zu dreißig Prozent billiger als italienische angeboten werden“ konnten. „Euro und EU droht /daher/ die nächste Krise.“
Auf die Kritik von Heiner Flassbeck hatte ich (in Der deutsche Exportstaat) bereits vor einem Jahrzehnt, am 5. 9. 2012, reagiert. „Das ist es, was Heiner Flassbeck nicht verstanden hat, wenn er Schröder dafür kritisiert, dass dieser mit der Kostenreduktion des Standorts Deutschland den Ländern des Südens so sehr geschadet habe. Nicht Schröders Entscheidung ist die Wurzel des Übels, sondern die ihr vorangegangene Entscheidung für einen unbegrenzten Freihandel, durch die Schröder erst zu solchen Maßnahmen verleitet wurde“ /in den USA wurde der Freihandel durch den Washington Consensus und seinen Hohepriester Robert Reich beinahe ein Jahrzehnt früher offiziell sanktioniert/.
Gerhard Schröder hatte damals nur auf eine für Deutschlands Stellung als Industriemacht gefährliche Situation reagiert (siehe Stiglitz contra Merkel (30. 4. 2012): „Hätte Deutschland damals nicht /mit Schröders Agenda 2010/ auf den /steigenden/ Wettbewerbsdruck reagiert, der von der aufstrebenden asiatischen Konkurrenz ausging, wäre es bis zum heutigen Tag der „kranke Mann“ Europas geblieben. Erst weil und nachdem Gerhard Schröder den Deutschen die Rosskur eines sehr viel enger geschnallten Gürtels verordnete, wurde der „kranke Mann“ zum derzeit so erfolgreichen Exporteur. Rotstift /Sparen/ und richtige Investitionen waren das Tandem, dem Deutschland seine Genesung verdankte.“
Diese Tatsachen spart Lingens aus – und dadurch wird seine Argumentation verfälscht und unglaubwürdig. Der Wahrheit ist eben auch dann nicht gedient, wenn man für eine richtige Einsicht mit falschen Argumenten ficht. In dem schon erwähnten, zehn Jahre zurückliegenden Artikel (Der deutsche Exportstaat) hatte ich Folgendes geschrieben:
„Ein solcher /Frei-/Handel funktioniert nur dann, wenn der griechische Olivenbauer in einem vereinten Europa nach einiger Zeit so viel verdient wie der ungelernte deutsche Arbeiter bei VW. Wenn seine Arbeitszeit und Mühe also gleich viel wert sind wie die Mühe seines deutschen Kollegen… Denn das Versprechen, womit Europa ökonomisch vereint worden ist, besteht in der Angleichung der Einkommen und Lebensbedingungen. Nur unter dieser Bedingung werden die Deutschen auch künftig ihre Automobile, Werkzeugmaschinen und chemischen Produkte im Rest Europas verkaufen können. Nur unter dieser Bedingung erscheint den Menschen der südlichen Peripherie der Handel mit Deutschland lohnend. Handel setzt nun einmal die Zufriedenheit aller daran beteiligten Partner voraus.
Es ist die deutsche Exportpolitik, welche den ökonomischen und damit letztlich auch den politischen Sinn der Union beschädigt. Erst dadurch erhält auch die Schuldenmisere ihr ganzes Gewicht, denn die einbrechenden Einnahmen der südlichen Länder machen es diesen so gut wie unmöglich, die Schuldenlast zu begrenzen. Die gemeinsame Währung wäre heute /d.h. vor zehn Jahren und nach der Zinserhöhung der EZB wohl bald von neuem/ nicht in so akuter Gefahr, hätte ein unbeschränkter Freihandel die Länder des /europäischen/ Südens nicht dem Druck der globalen Märkte ausgesetzt und sie dadurch immer weiter ins Hintertreffen gebracht. Dazu ist es gekommen, weil der eigene Export und Erfolg auf den weltweiten Märkten Deutschland mehr wert war als die Zufriedenheit seiner europäischen Nachbarn und eine gesicherte Ausfuhr in deren Länder – und das, obwohl sich, wie schon betont, dieser Handel noch vor einem Jahrzehnt /in den neunziger Jahren/ auf drei Viertel seiner gesamten Ausfuhren belief. Statt sich der US-amerikanischen Liberalisierung anzuschließen, hätte das nördliche Europa seine südlichen Nachbarn durch Zölle schützen müssen. Natürlich hätte Deutschland dann auch mit einer Beschränkung seiner eigenen außereuropäischen Exporte rechnen müssen. Aber damals /!!/ wäre davon nur ein Viertel des deutschen Außenhandels betroffen gewesen. Das war und ist der Preis, den der Norden für die europäische Einheit erbringen muss. Bis heute hat Deutschland diesen Preis nicht zahlen wollen.
Am Ende wird ganz Europa einen weit höheren Preis zahlen müssen!
… Man wird sich in Deutschland nicht wundern dürfen, wenn der Süden immer weniger Güter von seinen Betrieben und stattdessen mehr und mehr industrielle Produkte von den asiatischen Billiglohnländern bezieht… Daraus wird ein massiver Schaden für den ökonomischen Zusammenhalt Europas und nicht zuletzt auch für die Deutschen selbst erwachsen. Kein Zweifel /obwohl Lingens diesen Punkt ganz verschweigt/: Es ist nur wenige Jahre her, da gehörten gerade die Deutschen zu den überzeugtesten Europäern. Aber sie waren außerdem noch besonders stolz auf die Leistungen ihrer führenden industriellen Konzerne, denen sie daher einen weltweiten Aufstieg gönnten. Dass aus diesen Einstellungen ein Konflikt für Europa erwachsen musste, schien niemand zu ahnen.
Die Verantwortung für das Zerbrechen Europas
… Wer trägt /dann aber/ wirklich die Schuld an dem /möglichen/ Zerbrechen Europas? Ist diese bei den deutschen Industriellen zu suchen? Ich glaube nicht. Ein deutscher Kugellagerproduzent wird alles tun, um im Sinne des eigenen und des Profits der bei ihm beschäftigten Menschen seinen Absatz zu fördern. Es ist auch begreiflich, dass er seine Interessen von entsprechenden Lobbyisten in Berlin und Brüssel lautstark vertreten lässt. Er geht dabei genauso vor, wie wenn er die Umwelt verschmutzt, ohne sich viel dabei zu denken, solange niemand dagegen Einspruch erhebt. Seine raison d’être ist der eigene und der Profit der bei ihm beschäftigten Menschen. Beide soll er auf die bestmögliche Weise fördern. So wenig der einzelne Autofahrer für die Verkehrsregeln und die Einhaltung der Luftreinheit zuständig ist, so wenig ist es der Unternehmer für jene Regeln, die er im Sinne des Allgemeinwohls befolgen soll…
Die Interessen der Allgemeinheit festzulegen und ihre Befolgung durchzusetzen, ist hingegen die eigentliche Pflicht und Aufgabe der Politik. Diese und nur diese soll im Sinne der Allgemeinheit das partikuläre Interesse der Einzelnen mit dem Gemeinwohl versöhnen. Die Schuld am Zerbrechen Europas liegt daher nicht bei den Unternehmen – diese gehen stets so weit wie von den geltenden Regeln erlaubt – diese Schuld liegt bei der Politik, genauer gesagt, bei der deutschen Globalisierungspolitik, wie sie spätestens seit den 90er Jahren betrieben wurde. Niemand anders als die Sachwalter des Gemeinwohls, also die Politiker in Brüssel wie in den Hauptstädten Europas, hätten sich rechtzeitig der Frage stellen müssen, ob ein unkontrollierter Freihandel mit dem ökonomischen Wohl Europas verträglich ist. In meinen Augen hat die deutsche Politik eindeutig versagt, weil sie ihre Verantwortung zum Wohl des europäischen Ganzen nicht erfüllte, sondern ausschließlich den Interessen der deutschen Wirtschaft diente“ (5.9.2012).
Und in einem Artikel vom 16. 2. 2015 (Eurosklerose) stelle ich fest:
„Die Hauptverantwortung an diesem Desaster trifft Deutschland. Man wollte und will mit einer Zukunft als global player glänzen. In positiver Sicht nennt man das Weltoffenheit. Negativ betrachtet, ist es die Stärke, welche den Schwachen erdrückt. Deutschland hat nicht bedacht, dass es das europäische Haus zerstört, wenn es dieses schutzlos den globalen Märkten preisgibt. Und Deutschland hat ebenso wenig bedacht, dass es obendrein auch noch die eigene Zukunft verspielt, wenn dieses Haus in sich zusammenfällt.
…Der gesamte Süden von Griechenland bis Spanien ist dem internationalen Wettbewerb nicht länger gewachsen. Die Kosten für seine Sozialsysteme werden von einer volkswirtschaftlichen Leistung getragen, die zunehmend schrumpft, weil /viele der von ihnen/ erzeugten Produkte auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig sind. Im Vergleich zu Europa tragen Staaten wie China, Indien oder Brasilien nur einen Bruchteil dieses Sozialaufkommens. Da ist es wenig verwunderlich, dass deren Produkte die der südlichen Peripherie mühelos aus dem Felde schlagen, zumal sie dank der Investitionen europäischer Geldgeber und Konzerne schon jetzt qualitativ gleichwertig sind oder es in Kürze sein werden. In den Staaten der südlichen Peripherie ist die Politik zwar mit aller Kraft darum bemüht, ethisch zu handeln, d.h. die bisherigen sozialen Leistungen aufrechtzuerhalten, aber sie kämpft dabei gegen die unbarmherzige Logik eines Weltmarkts, wo es genügt, billiger zu sein, um als besser zu gelten“ (16.2.2015).
Ich bin mit Herrn Lingens einer Meinung, dass die deutsche Wirtschaftspolitik die Gefahr birgt, die Union zu zerreißen, zumal jetzt, da die Europäische Zentralbank den Zinsatz erhöht. Aber im Gegensatz zu Herrn Lingens bestehe ich darauf, dass Italiens gewaltige Staatschuldenlast dieses Land keinesfalls reicher machte sondern im Gegenteil ärmer und instabiler. Herrn Lingens Behauptung, dass Deutschland nur genug Schulden hätte machen müssen, um sich selbst und ganz Europa zu helfen – mutet da vollends grotesk an.
Der Grund für die Gefährdung der Union ist in Wahrheit ein völlig anderer. Im Wettrennen der Nationen um Märkte und Ressourcen – im Wettrennen vor allem gegen die Billiganbieter aus Asien -, war Deutschland bereit, in der Nachfolge der Vereinigten Staaten den eigenen Standort zu verbilligen – also Sozialabbau zu betreiben -, während der Süden sich dagegen wehrte. Der „kranke Mann“ Deutschland hat davon profitiert, weil der anfängliche Abbau durch den vermehrten Export zumindest teilweise wieder wettgemacht wurde. Die südliche Peripherie ist diesen Schritt nicht gegangen, daher hat sie an Wettbewerbsfähigkeit stetig eingebüßt. Aber wie ich zuvor betonte, war der Wettlauf nach unten (race to the bottom) nie die einzige Alternative.
1 Staatsschulden machen zunächst einmal alle glücklich. Eine reiche Minderheit, die sie als verzinslichen Kredit vergibt, sowieso, aber ebenso die Politiker, die sie aufnehmen, die privaten oder öffentlichen Unternehmen, die davon profitieren, und natürlich Journalisten wie Peter Lingens, die sie lautstark propagieren. Das bittere Erwachen, wenn die Kredite, wie so oft der Fall, zu Fehlinvestitionen oder gar Staatsbankrotten führen, kommt erst Jahre später. Dann sind die Politiker nicht mehr im Amt, und die Journalisten haben rechtzeitig die Fahne gewechselt und vertreten eine andere Linie. Fast immer bewirkt Staatsverschuldung eine Verschiebung von Einkommen und Vermögen von den Armen zu den Reichen. Die Minderheit der Kreditgeber wird noch reicher als zuvor, die Mehrheit der Steuerzahler, die dafür mit Zins- und Zinseszins aufkommen muss, wird ärmer. Wenn der Zinssatz höher liegt als das Wachstum, dann wird daraus ein verlässlicher Mechanismus der Umverteilung von unten nach oben (wie Helmut Creutz und nach ihm Thomas Piquetty nachgewiesen haben). Natürlich ist das keineswegs immer der Fall. Selbstverständlich gibt es sehr viele sinnvolle und notwendige Investitionen, die der ganzen Bevölkerung zugutekommen und wo die Schulden sich am Ende mehr als bezahlen (die notwendige Voraussetzung, um sie als sinnvoll einzustufen). Aber im Unterschied zu Peter Lingens weiß jeder, der die lange Geschichte von Staatsverschuldungen kennt, dass es sich da eher um seltene Glücksfälle handelt. Vonseiten eines Mannes, der sich als Experte zu Wirtschaftsfragen ausgibt, ist es schlicht albern, der Welt das Schuldenmachen wie eine Art neues Evangelium zu verkünden.
Ich hätte von Herrn Lingens erwartet, dass er diese Einwände ernst nimmt, indem er entweder die eigene Position überdenkt oder meine Argumente überzeugend zurückweist. Ich bin auf sein Schulden-Evangelium schon in zwei früheren Artikeln eingegangen „Peter Lingens‘ radikale These – Schulden als Fundament des Reichtums?“ (11.5.2022) und „Peter Michael Lingens – ehrlich oder doch nur „seriös“?“ (11.8.2021). Nun habe ich den Verdacht, dass er sein Lobpreis für Staatsverschuldung überhaupt nicht als eine These versteht, welche von den Wirtschaftswissenschaften mit Argumenten verhandelt wird, sondern als sein persönliches Markenzeichen, das nun einmal seine Identität begründet. Das würde erklären, warum er es nie für nötig hielt, sich mit Kritik auseinanderzusetzen. Stattdessen reagiert er wie auf eine Majestätsbeleidigung, nämlich durch eine Zuflucht zur Zensur. Das Kommentieren seiner online-Beiträge ist für mich nicht länger möglich.