Eine kleine Geschichte der liebenswürdigen, der lebensfördernden, der törichten, der idiotischen und der brandgefährlichen Geistesverwirrung in Bezug auf die eigene Person im Besonderen und die menschliche Spezies im Allgemeinen
In unserer Zeit gibt fast jeder halbwegs vollsinnige Mensch bereitwillig zu, dass kein Schwachsinn größer als der des Krieges ist, wo Menschen einander so behandeln, als wären sie mit dem Zweck zur Welt gekommen, in Schützengräben als Schlachtvieh für politische Schachspieler zu enden, die auf diese Art ihr Bedürfnis nach Macht und Ruhm ausleben. Schon allein deswegen, weil es Kriege auch in unserer angeblich so fortgeschrittenen Zeit immer noch gibt, sollten wir unserer Art ein für alle Mal das Recht absprechen, sich mit der Bezeichnung „(Homo) sapiens“ zu brüsten. Einzig richtig erscheint mir die realistische Selbsteinschätzung als „Homo stupidus“ – oder eher noch „stupidissimus“, denn die Kriege sind ja im Laufe der letzten Jahrhunderte nur noch mörderischer geworden.
Immerhin hatte zur Zeit der Renaissance
ein Waffengang zwischen Pisa und Florenz noch damit enden können, dass ein paar Söldner von ihren Pferden fielen. Da sie am Krieg verdienen, aber keinesfalls zu dessen Opfern werden wollten, war ein solches Unglück genug, um die Schlacht als entschieden anzusehen und einen Friedensvertrag abzuschließen.
So sah Krieg im Zeitalter des Humanismus im glücklichen Italien aus. Aber inzwischen haben wir ein halbes Jahrtausend Fortschritt hinter uns! Die Flächenbombardements des zweiten Weltkriegs verfolgten das Ziel, Menschen en masse zu vernichten, nur das zählte nunmehr als wirklicher Sieg. Aber die noch fortschrittlicheren Kriegsfürsten unserer heutigen Zeit blicken mit Verachtung auf so viel Rückständigkeit. Sie geben sich mit nichts Geringerem zufrieden als mit einer flächendeckenden bakteriellen, chemischen und nuklearen Massenvernichtung. In Japan hatten Atombomben bereits die Bevölkerung der beiden Großstädte Nagasaki und Hiroshima nahezu vollständig ausgelöscht. Doch man glaube nicht, dass die Intelligenz des Homo stupidissimus daran ihr Genügen fand. Der Fortschritt will immer mehr und er will immer höher hinaus – inzwischen trachtet er nach der ultimativen Vernichtung der eigenen Spezies. Und zum ersten Mal in der Geschichte ist dieses Ziel endlich zum Greifen nahe: Zu Beginn des 21ten Jahrhunderts dürfen wir uns damit brüsten, den vorletzten Schritt auf diesem Weg zurückgelegt zu haben. Der Krieg gegen Mensch und Natur ist bereits in ein Endstadium getreten – die Menschheit bereitet sich auf ihr Ende vor. Homo stupidissimus ist im Begriff seinem Namen alle Ehre zu machen. Ist er der eigenen nutzlosen Existenz überdrüssig? So sieht es aus. An seiner Weisheit verzweifelnd überlässt er sich ganz dem Fortschritt, sprich seinen Sehnsüchten nach Tod und Selbstauslöschung.
In diesem, wie es scheint unerbittlichen, Fortschritt
zu einem Krieg, der das Überleben der Art überhaupt bedroht, tritt uns der Schwachsinn des Homo stupidissimus gewiss in seiner reinsten, perfektesten, man möchte geradezu sagen, in seiner schönsten Form gegenüber, denn im Hinblick auf die Orgien an Menschenvernichtung, die der moderne Krieg mit sich bringt, ist jeder verharmlosende Einwand schlechthin unmöglich. Doch ziehe man daraus bitte nicht den verharmlosenden Schluss, als würde der Schwachsinn in weniger reiner, weniger spektakulärer Gestalt in Friedenszeiten nicht ebenfalls mitten unter uns weilen, so als blieben wir im zivilen Alltag ganz und gar von ihm verschont. Nein, die Art ist permanent von Schwachsinn bedroht, selbst dann, wenn unsere besten Wissenschaftler nicht gerade an einer neuen Generation von noch tödlicheren Bomben basteln.
Wettbewerb ist, wie wir wissen,
eine zivile Spielart des Krieges; er ist gegenseitiges Kräftemessen, mit dem Ziel, anderen Menschen vorauszueilen, auf irgendeinem Gebiet besser als sie zu sein oder sie überhaupt aus der Bahn zu werfen, in den Konkurs zu treiben. Würden Regeln nicht dafür sorgen, dass er sich innerhalb unblutiger Grenzen bewegt, dann würden die Unternehmen ihre Güter nicht länger in kleinen, oft sehr mühsamen Schritten verbessern, um auf diese Art Käufer für sich zu gewinnen, sondern sie würden Saboteure und Mörder gegen ihre Konkurrenten ausschicken, wie es die Mafia bekanntlich von jeher tat. Anders gesagt, würde der Wettbewerb jederzeit in den offenen Krieg umschlagen, wenn der Staat nicht mit Argusaugen darüber wachte, dass er sich innerhalb zivilisierter Grenzen bewegt.
Doch die Regeln der Zivilisation gelten immer nur innerhalb eines Staates und auch nur solange dieser sie gegenüber den privaten Interessen seiner mächtigsten Bürger durchzusetzen vermag. Zwischen den Staaten werden sie immer erneut außer Kraft gesetzt. Was dann folgt ist ein fließender Übergang in den Krieg, zunächst einmal in der Gestalt von „Handelskriegen“. Die Konkurrenz wird ausgeschlossen, Währungen geraten in einen Wettlauf der Abwertung miteinander, Dumpingaktionen – von starken Staaten gegen schwächere eingeleitet – bringen deren Industrien ins Wanken. Zwar vermögen internationale Verträge die Raubtiernatur des Homo stupidissimus zeitweise und bis zu einem gewissen Grad zu zähmen, dauerhaft ist das bisher jedoch nie gelungen.
Ist „eine andere und bessere Welt“ wirklich unmöglich?
Muss man es nicht für einen unverzeihlichen Schwachsinn halten, dass Menschen einander selbst noch in Zeiten des Friedens bekämpfen – wenn nicht mit den Waffen der blutigen und direkten Vernichtung, dann zumindest mit den Waffen der Ökonomie, welche die einen bereichern, die anderen hingegen in Armut stürzen? Ist denn wirklich keine andere Welt vorstellbar, in der niemand mehr darauf versessen ist, besser, gescheiter, reicher, mächtiger als andere Menschen zu sein? Müssen wir immer in einer Welt am Rande des Krieges leben, einer Welt, wo der Staat mit einem gewaltigen Apparat von Justiz und Polizei darüber wachen muss, dass wir unserem Nächsten zwar nicht den Hals abschneiden, es uns aber dennoch erlaubt ist, ihm ein beliebiges Ausmaß an seelischer Pein und Kränkung zuzufügen?
Wenn die einen im alltäglichen Wettbewerb
ihre Sieger feiern, während die anderen als Versager abgetan werden, weil ja aller Wettstreit notwendig bewirkt, dass wenige siegen, die Mehrheit dagegen zu den Verlierern gehört, gleicht seelische Kränkung dann nicht einer Massenepidemie, die ganze Gesellschaften seelisch unglücklich macht? Müssen wir den Schwachsinn eines zwar gebändigten, aber psychologisch immer noch überaus schmerzhaften Krieges nur deswegen für immer erdulden, weil die moderne Gesellschaft den Wettbewerb nun einmal zu ihrer Voraussetzung hat und ihn im Neoliberalismus bis zum Exzess perfektioniert?
Doch – es gibt sie: die andere Welt
Man sage nicht, dass eine Welt ohne Wettbewerb nie existierte und nicht existieren könne – dieser Einwand ist einfach nicht wahr. Er gilt nicht für die heutige Zeit und schon gar nicht für die dokumentierte Geschichte. Beinahe jeder von uns hat diese ganz andere Welt einmal kennengelernt, die Welt der Familie, wo jeder nach seinen Fähigkeiten gibt, während er nach seinen Bedürfnissen nehmen darf. Im besten Fall hat es dort den Wettbewerb überhaupt nicht gegeben: Eine Mutter sorgt für ihr Kind nicht deswegen, weil sie eine Gegenleistung von ihm erwartet, sondern aus dem einfachen Grund, weil sie es liebt und es allein aufgrund seiner Existenz ihre uneigennützige Liebe verdient. Diese Welt der bedingungslosen Zuwendung und Liebe bildet den Anfang im Leben fast jedes Menschen; sie steht in dem denkbar größten Gegensatz zur Welt des Wettbewerbs, wo jeder eben gerade nicht nach seinen Bedürfnissen nimmt und nach den eigenen Fähigkeiten gibt, sondern wo er Letztere unter Beweis stellen muss, wenn er Erstere befriedigen will.
Jede Utopie scheint ihren Ursprung in diesem frühen Glück,
zu haben, denn jeder, der in halbwegs normalen Verhältnissen aufwachsen durfte, bewahrt diese Gegenwelt wie die Erinnerung an ein goldenes Zeitalter in sich auf. Ja, die Feststellung dürfte kaum übertrieben sein, dass die ganze Menschheit diese Erinnerung in sich lebendig hält, wann immer sie über das eigene Schicksal reflektiert. Denn in ihren Utopien von einem glücklichen Urzustand oder einem künftigen Paradies, kommt Wettbewerb ja ebenso wenig vor wie der offene Krieg. In der utopischen Wunschgesellschaft wird allen Menschen allein deswegen Glück zuteil, weil es sie gibt: Ihre bloße Existenz verleiht ihnen ein Recht auf Glück. Vor diesem Hintergrund erscheint Wettbewerb als eine traurige Verirrung, die den Menschen vom Glück in das Unglück führte – mit anderen Worten, als kaum überbietbarer Schwachsinn. Da erstaunt es kaum, dass selbst ein aufgeklärter, moderner Denker wie Karl Marx sich diese Utopie zu der seinen machte. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen – so sollte in seiner Sicht die ideale Gesellschaft aussehen.
Der Schwachsinn des Wettbewerbs
sollte in der klassenlosen Gesellschaft keinen Platz mehr haben. Karl Marx‘ Phantasien von einer zukünftigen Gesellschaft im reinen, ewigen Glück, wo aller Wettbewerb abgeschafft war, unterschied sich von ihren Vorgängern nur dadurch, dass er die Utopie vom Himmel auf die Erde holte. Seiner Meinung nach würde sich dieses Ideal selbst dann verwirklichen lassen, wenn der Staat als Gewaltorgan vollständig abgeschafft war. Ja, er wird nach Marx sogar absterben müssen, denn die klassenlose Gesellschaft hat ja alle zwischenmenschlichen Konflikte restlos aufgehoben. Wenn Menschen keinen Grund mehr haben, miteinander zu streiten, wofür wird der Staat dann noch gebraucht?
Karl Marx verstand sich auf die Kunst
logischen Argumentierens. Nur dass die Logik oft auf Voraussetzungen beruht, die sie dazu verdammen, bloßer Schwachsinn in intelligentem Aufputz zu sein. Die Wirklichkeit hat den radikalen Denker aus Trier nicht nur zu seinen Lebzeiten widerlegt, sondern mit noch größerer Evidenz nach seinem Tode. Unter dem blutigen Regime eines Staates, den der große chinesische Diktator Mao Zedong ganz allein in der eigenen Person verkörpern wollte, mussten Millionen von Menschen sterben, damit vorübergehend ein Volk von kleinen blauen Männchen entstehen konnte, die zumindest aus äußerer Sicht weitgehende Gleichheit vortäuschten. Das Ideal der klassenlosen Gesellschaft schien unter Mao zum ersten Mal in einer Massengesellschaft umgesetzt worden zu sein. Es zeigte sich allerdings von Anfang an, dass diese Umsetzung nur unter dem Einsatz mörderischer Gewalt möglich war – und auch nur für wenige Jahre. Weit entfernt davon abzusterben, war der Staat unter dem Diktator mächtiger denn je zuvor.
Marx hätte eigentlich wissen müssen,
dass das Bauwerk seiner schönen Utopie, historisch gesehen, auf sandigem Boden ruhte. Bei flüchtiger Betrachtung stimmt es ja, dass uns der Wettbewerb als verdammenswerter Schwachsinn erscheint. Ohne Zweifel stellt er eine Form des Krieges dar, wenn auch eines unblutigen durch Regeln gebändigten. Und es stimmt ebenfalls, dass er trotz aller Bändigung immer und sogar zwangsläufig Wunden erzeugt, weil er nur die Sieger glücklich macht, die Verlierer hingegen kränken muss.
Das alles ist richtig, und dennoch sieht sich die abwägende Vernunft zu dem Schluss genötigt, dass der Wettbewerb zwar ein Schwachsinn ist, aber ein lebensfördernder und in diesem Sinne ein sozial schlechthin unverzichtbarer Schwachsinn. Keine gesunde Gesellschaft hat jemals ohne ihn leben können.
Der Historiker wird dem Philosophen
an diesem Punkt Recht geben müssen. Immerhin ist es einzig dem Wettbewerb zu verdanken, dass sich seit dem achtzehnten Jahrhundert eine Mehrheit von Menschen zum ersten Mal seit der neolithischen Revolution, also seit etwa zehntausend Jahren, aus ihrer sklavenartigen Unmündigkeit befreite, sich ein Minimum an Glück verschaffte!
Gewiss, Wettbewerb bedeutet Kampf, und Kampf ist das Gegenteil von Neigung und Liebe. Aber es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass, wo der Wettbewerb fehlt, Liebe und Neigung das Feld behaupten. Denn es ist ja eine historische Tatsache, dass der Wettbewerb überall auf der Welt bis zur industriellen Revolution nur eine marginale Rolle spielte. In sämtlichen alten Großkulturen wie Indien, China, Mittelamerika und den führenden Staaten Europas waren an die neunzig Prozent der Bevölkerung dazu verdammt, als geknechtete Nahrungslieferanten für die oberen zehn Prozent zu dienen. Sie waren Bauern von der Wiege bis zur Bahre, weil es keinen Wettbewerb gab, der ihnen ermöglicht hätte, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und aus ihrer dienenden Stellung aufzusteigen. Nicht Wettbewerb entschied darüber, welche Privilegien ein Mensch bis zu seinem Tode genießen oder welches erbärmliche Los er bis dahin erdulden musste, sondern ausschließlich seine Geburt. Für neunzig Prozent der Bevölkerung lief das auf eine Fron mit dem Urteil: „lebenslänglich“ hinaus.
Und was für eine Fron noch dazu! In der Mehrzahl aller Staaten (vor allem in den bevölkerungsreichsten Kulturen) wurden die Nahrungslieferanten – eben jene überwältigende Mehrheit – von der weltlichen und geistlichen Macht so sehr ausgequetscht, dass ihnen in aller Regel nur das Minimum für das eigene Überleben blieb. Bauernaufstände – das gerade Gegenteil einer auf wettbewerbsfreien Harmonie begründeten Gesellschaft – waren in allen Großstaaten endemisch, aber selbst diese Aufstände nützten den Bauern in der Regel nichts oder wenig – noch zu Zeiten Luthers – und mit seinem Segen – wurden sie mit hemmungsloser Brutalität von den oberen zehn Prozent unterdrückt oder blutig niedergeschlagen.
Und überall auf der Welt lebten die Bauern
abseits der Hochkultur. Sie konnten und durften weder lesen noch schreiben. Was hätte ihnen das auch genützt, wenn ihr einziger Daseinszweck doch allein darin bestand, den oberen zehn Prozent ein sorgenfreies Leben zu bescheren, frei von der Mühsal der Daseinsfürsorge? Die ganze bisherige Geschichte wurde bis ins 18te Jahrhundert nahezu ausschließlich von jenen geschrieben, welche zu den wenigen Glücklichen an der Spitze der sozialen Pyramide gehörten.
So also sah die Gesellschaft aus,
bevor Wettbewerb in ihr aufkommen durfte. Man vergesse nicht: Zwischen den unteren neunzig Prozent und den Herren war er ohnehin ausgeschlossen. In der Regel starb jeder in derselben niedrigen Stellung, in die er geboren wurde. Doch auch der Wettbewerb unter Gleichen war für die fronende Mehrheit so gut wie ausgeschlossen, weil er ihr in der Regel nur Schaden brachte. Es lohnte sich ja nicht, besser als der Nachbar zu sein. Gelang es einem tüchtigen Landwirt aufgrund technisch überlegener Methoden oder einem Mehr an Arbeit in einem Jahr mehr zu produzieren als seine Nachbarn, dann wurden die Steuereintreiber sofort auf ihn aufmerksam, und es fielen im nächsten Jahr nur umso höhere Abgaben an. Aus diesem und keinem anderen Grund – sicher nicht aus einem Mangel an Intelligenz – pflegte die Landbevölkerung erzkonservativ zu sein. Jede Neuerung war verdächtig, weil sie für jeden Mehrertrag in der Regel mit höheren Steuern zu büßen hatte. Das war die unbarmherzige Realität für die Bevölkerungsmehrheit, solange es in ihr keinen Wettbewerb gab. Freiheit von Wettbewerb war kein Glück, sondern darin lag im Gegenteil der eigentliche Grund für ihr Unglück.
Erst im 18ten Jahrhundert
begann sich die Welt für die bis dahin in allen großenStaaten geknechtete Mehrheit allmählich zu ändern. Zwar nicht sofort, die erste Phase der Industrialisierung pflegte gegen die Ärmsten im Gegenteil sogar noch brutaler zu sein als ihre vorherige Situation (hier ist Marx unbedingt Recht zu geben). Doch war dies ein vorübergehendes Übel. Es kam die industrielle Revolution und mit ihr kam der institutionalisierte Wettbewerb – zusammen haben beide die Massen zum ersten Mal seit zehntausend Jahren aus ihrer unverschuldeten Unmündigkeit befreit. Heute reicht ein Bevölkerungsanteil von drei Prozent, um in den entwickelten Staaten der Erde, die Nahrung für die übrigen siebenundneunzig Prozent zu erzeugen. Und selbst diese drei Prozent genießen die freie Berufswahl: Sie sind nicht von Geburt aus dazu verdammt, diesen und keinen anderen Beruf auszuüben. So wurde auf eine beinahe symmetrische Art das bisherige Modell der Geschichte vom Kopf auf die Füße gestellt.
Der erste Schritt
dieser nach der neolithischen Revolution größten Wende der Menschheitsgeschichte bestand in der Einführung eines allgemeinen Ausbildungssystems, welches im Prinzip allen Menschen die Möglichkeit geben sollte, im Wettbewerb ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Von nun an durfte Geburt keine Rolle mehr spielen, gesellschaftliche Positionen sollten aufgrund von nachgewiesenen Fähigkeiten verliehen werden. Die sichtbarste Folge dieser institutionalisierten Revolution waren Schulen und Universitäten: In ihnen wurde Auslese aufgrund eines nunmehr allgegenwärtigen Wettbewerbs betrieben.
War damit ein neuer Schwachsinn losgetreten,
der alle Menschen gegeneinander in Stellung brachte, während sie zuvor ohne den Wettbewerb vergleichsweise in innerem Frieden lebten? Wir sahen schon, dass eine solche Behauptung der historischen Realität diametral widerstreitet. Vorher hatte es einen weit grausameren Kampf gegeben: den Kampf einer verschwindenden Minorität an der Spitze des Staats gegen die überwältigende Mehrheit auf dem Lande, die mit Waffengewalt zur Arbeit für den Luxus der Herren gezwungen wurde. Das war ein Dauerkampf, der in fortwährenden Klageliedern der Unterdrückten seinen Niederschlag fand. Doch wurden diese nur selten zu Papier gebracht, weil in der Regel nur die Herren Geschichte schrieben und nicht etwa ihre analphabetischen Diener und Sklaven. Gewiss, führten Aufstände manchmal zum Sturz der Fürsten, aber solange keine neuen Energiequellen außer menschlichen und tierischen Muskeln gefunden wurden, d.h. bis ins 18te Jahrhundert, führten Staatsstreiche allenfalls in Zwergstaaten zu einer halbwegs gleichmäßigen Aufteilung der vorhandenen Ressourcen. Dagegen wurden in sämtlichen Großkulturen immer nur die Köpfe getauscht, ohne dass sich an dem Verhältnis einer dienenden Mehrheit und einer sie ausbeutenden Minderheit das Geringste geändert hätte. Es ließ sich eben auch nichts grundsätzlich ändern, solange alle Arbeit auf menschlichen und tierischen Muskeln beruhte. Wenn zehn Prozent von der Arbeit auf den Feldern befreit sein sollten, dann war es unausbleiblich, dass neunzig Prozent die Nahrung für sie erwirtschaften mussten.
Der skeptische Philosoph
tut sich schwer mit Utopien – selbst dann, wenn er sich wünschte, dass sie in Erfüllung gehen. Er weiß, dass Wettbewerb niemals eine ideale Gesellschaft hervorzubringen vermochte. Auch in Zukunft wird das kaum gelingen, denn Wettbewerb ist Kampf und jeder Kampf kränkt die Verlierer. Doch mit Sicherheit hat der Wettbewerb sehr viel weniger Wunden und Verletzungen erzeugt als das nahezu wettbewerbsfreie Unrechtsregime der durch Geburt garantieren Privilegien. Solange eine dienende Stellung bzw. ein Adelstitel den Menschen einfach in die Wiege gelegt worden sind, gehörte eine überwältigende Mehrheit zu den lebenslänglich gekränkten Verlierern.
Daran gibt es nichts zu beschönigen. Historisch ist es ein unbestreitbares Faktum, dass die großen Kulturen und deren Herren rücksichtslos gegen die Mehrheit verfuhren. Diese war für sie wirklich nicht mehr als ein zu nutzendes „Menschenmaterial“, einzig dazu bestimmt, den wenigen Glücklichen an der Spitze der sozialen Pyramide ein Leben in Glanz und Luxus zu bescheren.
Doch hat der Philosoph deshalb noch längst keinen Grund,
nun umgekehrt den Wettbewerb zu verklären. Dieser ist stets in Gefahr, aus seiner gebändigten, lebensfördernden Funktion in den offenen ungebändigten Kampf umzuschlagen. Viel schwerer wiegt aber, dass er – ohne entsprechende Aufsicht – immer wieder und zwar auf zwangsläufige Weise zu einer wachsenden Vormacht der Sieger führt, weil es diesen im Laufe der Zeit unfehlbar gelingt, einen immer größeren Teil des gesellschaftlichen Reichtums in die eigenen Taschen zu lenken. Das Ergebnis war und ist immer gleich: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird kontinuierlich größer.
Darin liegt die eigentliche, die bisher niemals überwundene Gefahr allen Wettbewerbs. Denn dieser Vorsprung verschafft den ursprünglich Tüchtigsten so viel Macht, dass ihre Nachfahren nicht länger tüchtig sein müssen, um ihren Vorsprung zu bewahren und ihn sogar mehr und mehr zu festigen und zu erweitern. Das aber hat zur unausweichlichen Folge, dass die Privilegien der Geburt, welche der Wettbewerb anfangs erfolgreich vernichtet hatte, mit der Zeit wieder auferstehen. Die neuen Monopolisten von Geld und Macht bilden dann wiederum eine sehr kleine Schicht an der Spitze der sozialen Pyramide – in den USA gerade einmal ein Prozent der Bevölkerung. Diese Schicht ist ein neuer Adel – eine Plutokratie -, die den Wettbewerb um die höchsten Stellen zunehmend erstickt.
In aufstrebende Staaten wie China und Indien
wird diese Gefahr am wenigsten wahrgenommen, weil die Mehrheit sich gerade aus ihrer unverschuldeten Unmündigkeit befreit. Da fällt es kaum auf, dass auch die Zahl der Milliardäre beständig im Steigen ist. Dafür werden die alten Industrienationen umso stärker von dieser Konzentration der Vermögen erfasst, weil die Armen ihren Wohlstand nicht mehr vermehren, sondern ihn im Gegenteil zu verlieren beginnen – nämlich relativ zur reichen Spitze der oberen Zehntausend. Daher der immer lautere Protest gegen den neoliberalen Kapitalismus.
Mit dieser unheilvolle Entwicklung, die regelmäßig die schon errungenen Erfolge wieder zuschanden macht, sollten sich die soziale Theorie und die Reformer beschäftigen – nicht mit den wilden Träumereien eines Karl Marx von einer klassenlosen Gesellschaft, die gegen alle historische Evidenz ohne allen Wettbewerb in ewiger Harmonie existiert.
Es hätte ja nicht einmal eines Blicks
auf die große Geschichte bedurft, um diesen Traum als das zu entlarven, was er in Wahrheit ist: ein gutgemeinter, theoretisch aber überaus komplexer und daher für viele verführerischer Schwachsinn. Schon die Individualgeschichte fast jedes Menschen liefert uns den Beweis, dass Wettbewerb bereits in der Biologie unserer Spezies eine fest verankerte Rolle spielt. Während der Säugling noch in unauflösbarer Symbiose mit der eigenen Mutter und seiner Umwelt lebt, weil sein eigenes Ich noch nicht zur Ausbildung gelangte, macht schon ein dreijähriges Kind seinen Eigensinn geltend. Unübersehbar beginnt es mit anderen Personen in einen Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Lob zu treten. Die Pubertät und die auf sie folgenden Jahren führen dann einen noch tieferen Einschnitt herbei. Oft lehnt der Heranwachsende sich nun ganz bewusst gegen die eigenen Eltern auf, wenn nicht gar überhaupt gegen die übrige Welt. Dieser Wettbewerb der Generationenist ein biologisches Faktum, und ebenso ist es die damit verbundene Empörung gegen überkommene Vorschriften und Lehren. Stillehalten, Duckmäusertum, ängstliche Zurückhaltung – also wettbewerbsfreie Harmonie – sind dem Menschen keineswegs in die Wiege gelegt, sondern werden ihm fast immer von außen aufgezwungen. Wie wir sahen, geschah das seit der neolithischen Revolution bis nah an die Gegenwart ganze zehntausend Jahre lang.
Gewiss wäre es ein ebenso großer Schwachsinn,
das eigene Ich ständig allen anderen Ichs entgegenzusetzen – es muss Refugien geben, wo der Mensch sich von seinen kämpferischen Neigungen ausruhen kann -, aber es wäre ein ebenso unverzeihlicher Schwachsinn, einen Wettbewerb zu ersticken, der als lebensfördernde, die Gesellschaft bereichernde und erneuernde Kraft überhaupt erst die in uns schlummernden Talente und Energien zur Entfaltung bringt.
Zu den Feinden einer lebendigen Gesellschaft
zählen beide Extreme: einerseits jene geistige Pest, die unter dem Namen des Neoliberalismus seit den achtziger Jahren wieder großen Auftrieb erhielt und bereits im alten Rom dazu führte, dass die Reichen auf Proskriptionslisten gesetzt und schließlich physisch ermordet wurden. Geändert wurde dadurch freilich nichts, denn die alte Plutokratie wurde nur durch eine neue ersetzt. In den beiden großen Revolutionen der Neuzeit wurde dieses Spiel dann neuerlich fortgesetzt. Zunächst einmal stellte der Bürgerkrieg in sehr kurzer Zeit größere Gleichheit her, die dann einsetzende Refeudalisierung – der Sieg der Starken über die Schwachen – hob sie jedoch im Laufe der Zeit mit mechanischer Zwangsläufigkeit wieder auf und schürte auf diese Weise zunehmende Unruhe bei der Mehrheit. Dies sollte bis in die Moderne das Muster für menschlichen Schwachsinn bleiben: eine stumpfsinnige Wiederholung des Immer-Gleichen. Nicht Wettbewerb war daran schuld, sondern die Unfähigkeit, ihn zu bändigen, damit er wirklich allen zugutekommt.
Denn der Sieg der Stärkeren
bildet ja an sich ja keine Gefahr. Da sich Intelligenz und Können in jeder Generation auf andere Köpfe verteilen, hat nur Wettbewerb das Potential, die Bildung von sozialen Klassen ganz zu verhindern – also eine wahrhaft klassenlose Gesellschaft hervorzubringen. Denn nur Reichtum, der durch Geburt und eben nicht durch die Auslese der Besten erworben wird, führt zwangsläufig zur Bildung sozialer Klassen. Dagegen hat sich staatliche Umverteilung dieser Tendenz nie dauerhaft entgegenzustellen vermocht. Durch Umverteilung von (halb-)oben nach unten haben die Gewerkschaften den Prozess zwar verlangsamen, aber nicht aufhalten können, denn die Reichen waren den weniger Begünstigten bei der Vermehrung ihres Reichtums stets um Längen voraus. Um diesen Prozess wirklich einzudämmen, hätte der Staat an anderer Stelle ansetzen müssen, nämlich bei all jenen Vermögen, deren Wachstum eben nicht länger aufgrund von individueller Leistung erfolgt.
Doch von diesem durch die ganze Geschichte
hin wirksamen Auf und Ab wollten Wirtschaftswissenschaftler und Politiker im Allgemeinen gar nichts wissen, weil in kurzfristiger Sicht Deregulierung vor allem in den Entwicklungsstaaten eine so belebende Wirkung entfaltet. Die Befreiung des einzelnen und seiner Fähigkeiten durch den Wettbewerb vervielfältigt alle bis dahin gebundenen sozialen Energien. Adam Smith hatte ja durchaus Recht, als er dem Egoismus des Bäckers sowie jedes einzelnen Wirtschaftsakteurs segensreiche Auswirkungen nicht nur für diese selbst, sondern auch auf das Gemeinwohl bescheinigte. Erst in langfristiger Perspektive zeigt sich, dass ohne den regulierenden Eingriff des Staats die Vermögen sich mit mathematischer Zwangsläufigkeit immer mehr konzentrieren, bis schließlich mit dem einen Prozent der Superreichen an der Spitze einer Gesellschaft aus einer Herrschaft des Volks (Demokratie) eine solche des Reichtums (Plutokratie) geworden ist. Selbst in einer alt-ehrwürdigen Demokratie wie der amerikanischen ist der Prozess der Refeudalisierung schon sehr weit vorangeschritten. Kein Wunder, dass die Vereinigten Staaten von einem Präsidenten beherrscht werden, der die größte Ähnlichkeit mit einem Soldatenkaiser des imperialen Rom aufweist.
Wer an den Egoismus appelliert,
gewinnt selten unsere Sympathie, denn er wendet sich sicher nicht an die beste Seite des Menschen. Viel eher können Utopien auf eine große Gefolgschaft zählen, welche die Güte des Menschen zu ihrer Voraussetzung haben. Die Forderung nach der Abschaffung des Wettbewerbs stößt daher emotional auf viel größeren Widerhall, obwohl es niemals eine große Gesellschaft (im Unterschied zu kleineren Sekten) gegeben hat, welche Gleichheit ohne mörderischen Druck von oben verwirklichte. Da unter einem derartigen Druck die wenigsten Menschen dazu angeregt werden, die in ihnen schlummernden Fähigkeiten und Energie zu mobilisieren – denn davon sollen sie ja keinerlei Vorteil haben -, lähmt dies alle ökonomische Aktivität. Talent und Erfindungskraft werden nicht gefördert, sondern umgekehrt schon im Keim erstickt.
Die Extremisten
des rechten ultraliberalen Lagers ebenso wie die Utopisten der extremen Linken beweisen jeder auf seine Art, wie blind sie für die menschliche Natur und Geschichte sind. Ich möchte behaupten, dass sich fast jeder Schwachsinn mit Vorliebe in den Köpfen der Radikalen sucht – mögen diese nun dem rechten oder dem linken Lager zugehören. Solchen Menschen – Laien wie Wissenschaftlern – haben wir es zu verdanken, dass aus der ewigen Wiederholung des gleichen Schwachsinns bisher kein Ausbruch auch nur möglich erscheint.*1*
1) Im Detail werden diese Überlegungen in den folgenden Büchern ausgeführt:
Frieden, Krieg und Klimawandel – Aufruf zum Umdenken
Von Sinn und Ziel der Geschichte – Das Schicksal der Menschheit im 21. Jahrhundert.