(auch erschienen in: "scharf-links")
Mensch oder Maschine? Auf diese knappe Formel lässt sich das Problem zuspitzen, dem sich Europa und seine Mitgliedsstaaten ausgesetzt sehen. Der Mensch wurde in den Rückzug getrieben, deswegen protestiert er nun und schlägt hier und dort schon um sich. In Italien hat ein Komiker – Beppe Grillo – auf Anhieb einen Durchschnitt von zehn Prozent Stimmen im nördlichen Teil des Landes erobert. Ein Mann, dessen Programm wesentlich darin besteht, gegen alles zu sein, was die etablierte Macht vertritt. In Deutschland sind die Piraten eine aufstrebende Bewegung, die alles in Frage stellt, was die Politiker der Volksparteien für recht und richtig halten.
Das gemeinsame Charakteristikum dieser neuen Parteien ist die Einbindung der Menschen auf der untersten Ebene, all jener also, die längst und mit Recht den Eindruck haben, dass von ihnen nicht mehr die Rede ist und dass man sie eigentlich längst nicht mehr braucht. Die Mitarbeiter des italienischen Komikers teilen sich die Stadtviertel auf, gehen von Haus zu Haus und fragen die Leute nach ihren Wünschen. Die deutschen Piraten bedienen sich eines Computerprogramms – Liquid Feedback – um den einzelnen an allen Entscheidungen teilhaben zu lassen. Diese Gruppierungen sind keine Parteien im herkömmlichen Sinn, sondern Grass-Root-Bewegungen, die den Menschen vor Ort einbinden und ihm das Gefühl geben wollen, dass er zählt und dass man ihn ernst nimmt. Die amerikanische Occupy-Bewegung hat Ähnliches in den Vereinigten Staaten bewirkt. Sie mobilisiert die Menschen von unten und gibt ihnen das Gefühl, dass in einer Demokratie das Volk und niemand sonst der Souverän ist und sein sollte.
Die Aushöhlung der Demokratie
Piraten und Grillen hätten nicht auf Anhieb diesen erstaunlichen Erfolg eingefahren – innerhalb eines Jahres sind sie so groß geworden wie die grüne Partei im Laufe einer Dekade -, wenn es in der Bevölkerung nicht ein verbreitetes Gefühl der Ohnmacht und der Ausgeliefertheit gäbe. In Deutschland und Italien glaubt eine Mehrheit der Menschen nicht länger daran, dass sie mit der eigenen Stimme noch irgendetwas zu ihren Gunsten verändert. Man kann es auch drastischer formulieren: Sie glaubt nicht länger an die Demokratie.
In diesem Zweifel steckt mehr als ein bloßes Gefühl. Die objektiven Verhältnisse geben diesem Misstrauen Recht. Es genügt ein Blick in die Gemeinden: die Basis aller gelebten Demokratie. Die Bürgermeister zählen hier immer weniger. Zwar kommen in den Rathäusern jetzt endlich auch Frauen zum Zug – eine längst fällige Entwicklung. Doch der Grund für ihren Aufstieg bereitet weniger Freude. Der Posten ist nichts mehr wert! In den Gemeinden gibt es kaum noch etwas Wichtiges zu entscheiden. Die Bürgermeister haben nichts mehr zu sagen, und deswegen drängt sich kaum jemand an diese Stellen. Vor Ort, auf der untersten Ebene, wo die Menschen unmittelbar um ihre Nöte und Belange wissen, ist Demokratie de facto erloschen. Fast alles wird von oben entschieden. Wie sagte Alexis de Tocqueville in seinem grundlegenden und in seiner gedanklichen Klarheit bis heute unübertroffenen Werk über „Die Demokratie in Amerika“? „Nehmt den Gemeinden die Kraft und die Unabhängigkeit und ihr werdet niemals mündige Bürger, sondern nur reglementierte Untertanen erhalten.“
Dieses Wort gilt noch immer. Denn die Gemeinden sind eine hohe Schule der gelebten Demokratie, weil sie die Bürger zur Verantwortung gegenüber Problemen erziehen, die jeder von ihnen versteht. Wenn Demokratie hier an der Basis verdorrt, ist es kein Wunder, dass wir dieser Tendenz auf den höheren Ebenen genauso begegnen. Auch in den Landesparlamenten ist der Demokratiefraß ja schon seit Jahren bemerkbar. Bereits vor einem Jahrzehnt berichtete der Spiegel, dass die Abgeordneten der Landtage nur noch eine Art staatlich ausgehaltener Frührentner seien. Sie drehen Daumen, kassieren für diese aufreibende Tätigkeit aber ein keineswegs knauserig bemessenes Gehalt. Die meisten Entscheidungen sind ihnen bereits aus der Hand genommen. Die Landesparlamente sind zu weitgehend zweckfreien Quatschbuden verkommen. „Schleichend, aber stetig entziehen Bund und Europäische Union den Ländern Kompetenzen wie etwa in der Umwelt- und Gesundheitspolitik“ (Der Spiegel 51/2000, S. 52.). Auch hier ist Demokratie im Begriff zu erlöschen.
Und wie steht es um die Nationalparlamente in Deutschland, Italien, Frankreich etc.? Man glaube nicht, dass die Entmündigung sich auf die unteren Ebenen beschränkt, sie hat auch schon den Deutschen Bundestag erfasst. „Die sogenannten Volksvertreter haben immer weniger zu sagen. Seit Jahren wandern Kompetenzen für Gesetze und Verordnungen nach Brüssel. 80 Prozent aller Wirtschaftsentscheidungen, schätzt der Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof, fallen inzwischen in der EU-Kommission.“ Das konstatierte der Spiegel bereits vor einem Jahrzehnt (Der Spiegel 22/2001, S. 42)! Das deutsche Bundesverfassungsgericht stemmt sich zwar immer noch gegen den Trend. Es sucht zu verhindern, dass auch die restlichen zwanzig Prozent den Deutschen genommen werden. Doch der Fiskalpakt, mit dem die nationale Demokratie auf ihrem entscheidenden Gebiet, dem der Budgethoheit, nun auch noch abgeschafft werden soll, scheint kaum mehr aufzuhalten. Auch die nationale Demokratie ist der Verkümmerung ausgesetzt.
Der Erfolg der Grillen und Piraten ist nur vor dem Hintergrund dieser schleichenden Entmündigung zu verstehen. Man sollte ihn als eine nur zu verständliche, nur zu gerechtfertigte Reaktion auf die Gleichgültigkeit begreifen, mit der die etablierten Parteien die Aushöhlung der gelebten Demokratie akzeptieren. Angefangen bei den Gemeinden, über die Länder bis hin zum Staat, haben die Menschen in ihrem eigenen Lebensraum immer weniger zu sagen. Sie leben wie Mieter oder Untermieter in einer Kaserne, deren Aufbau und Zweck über ihre Köpfe hinweg von ganz oben bestimmt und verordnet wird.
Ein funktionierendes europäisches Parlament ändert nichts an der Aushöhlung der Demokratie
Man sage nicht, dass ein funktionierendes und entscheidungsbefugtes europäisches Parlament – das wie man weiß bisher nur als bloße Idee existiert – für eine Trendwende sorgen würde, weil die Bürger dann ja mit ihrer Stimme die Richtlinien für ganz Europa bestimmen. Wird die Entmachtung und Entmündigung des Bürgers auf lokaler Ebene dadurch wettgemacht?
Durchaus nicht! Auch in einem europäischen Superstaat mit einem allein entscheidungsbefugten europäischen Parlament wäre die gelebte Demokratie außer Kraft gesetzt, wenn das Zentrum die jetzige Tendenz weiter vorantreibt, ein Maximum an Vereinheitlichung zu erreichen und damit die gesamte Lebensgestaltung vor Ort in allen Mitgliedsstaaten von oben herab zu reglementieren. Von der Gurkenform, über den Rentenantritt, von den Vorschriften über die Zutaten im Bier bis zum Rechtswesen reißt der Superstaat alles an sich. Dieser zentrale bürokratische Despotismus entmündigt den Bürger auch dann, wenn die Macht dazu in den Händen gewählter Brüsseler Parlamentarier liegt. Das ist keine gelebte Demokratie, wo die Menschen über die Verhältnisse im eigenen Lebensraum entscheiden und das Zentrum nur so viel Befugnis erhält wie zur Regelung gemeinsamer Aufgaben unbedingt nötig ist. Das ist kapitalistische Planwirtschaft, die von einem allmächtigen Zentrum verordnet wird. Man kann auch sagen: Das ist die Logik der Maschine, eine Logik, welche den Anspruch und die Bedürfnisse der Menschen missachtet.
Kapitalistische Planwirtschaft
Mensch und Maschine haben unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Bedürfnisse. Daher kommt es jetzt zu einem Aufstand gegen die Maschine und ihre Vorherrschaft. Die Menschen rebellieren gegen den Primat der ökonomischen Effizienz. Im Sinne der großen Wirtschaftsmaschinerie macht es ja sehr wohl einen Sinn, ja erscheint geradezu geboten, alle bestehenden Unterschiede zu planieren und von einer europa- (und schließlich weltweiten) Uniformierung abzulösen. Die Vereinheitlichung technischer Geräte, wissenschaftlicher Maßeinheiten, organisatorischer Transaktionen ist die Voraussetzung für reibungslose Funktionalität. Im Sinne der reinen mechanischen Effizienz scheint es daher ebenso zweckmäßig zu sein, auch den Menschen der Normierung und Uniformierung zu unterwerfen, damit er – wie das sprichwörtliche Rädchen – überall gleich einsatz- und funktionsfähig ist: in jedem Betrieb, in jeder Stadt, in jedem Staat. Will man Europa zu einer großen Wirtschaftsmaschine von maximaler Effizienz umgestalten, dann ist Super-Brüssel die richtige Antwort – die gelebte Demokratie vor Ort erscheint da nur als ein Hindernis. Die tonangebenden ökonomischen Lobbys und ihre politischen Vollstrecker glauben denn auch die richtige Antwort gefunden zu haben. Sie wollen Europa in eine ökonomische Megamaschine mit durch und durch normiertem und uniformiertem „Menschenmaterial“ umwandeln. Der Tod der gelebten Demokratie wird dafür in Kauf genommen.
Brave New World
So entsteht vor unseren Augen die „Brave New World“ als reale Utopie: eine Welt von höchster ökonomischer Effizienz, die nur einen einzigen, allerdings entscheidenden Fehler hat. Die Menschen fühlen sich in diesem stählernen Maschinengehäuse immer weniger wohl! Mehr und mehr schwelgen sie offen oder insgeheim in Phantasien der globalen Zerstörung. Oder ist es etwa ein Zufall, dass die erfolgreichsten Produktionen von Hollywood seit etwa zwei Jahrzehnten hemmungslose Orgien der Zerstörung sind? Die Menschen rebellieren, halb unbewusst, gegen ein Leben in der Maschine, ein Leben, das der bloßen Effizienz geopfert wird.
Dabei besteht Europas großartiges Erbe doch gerade in seiner immer noch überwältigenden Vielfalt! Und diese hat ihren Ursprung in der Natur jedes Menschen. Alle streben wir nach Eigenverwirklichung und Eigengestaltung. Vor Ort geht es um die Gestaltung des je eigenen Lebensraums. Dieser Gestaltungswille beginnt bei der eigenen Kleidung, den besonderen geistigen Interessen und Plänen, greift über auf die Gestaltung der eigenen Wohnung, des eigenen Hauses, setzt sich fort in den Entscheidungen, welche die Bewohner einer Stadt oder Gemeinde über das Aussehen ihres Lebensraums, die Verwaltung ihrer Ressourcen, über die Lebensbedingungen, die Versorgung ihrer Bürger etc fällen. Sie endet schließlich bei der Identität eines ethnisch oder durch eine gemeinsame Sprache geprägten Lebensraumes. Überall ist dieser Drang zur schöpferischen Selbstgestaltung und Vielfalt bemerkbar: das genaue Gegenteil einer gesichtslosen Planierung der Unterschiede von oben.
Small is beautiful
„Small is beautiful“, dieses Motto von Leopold Kohr, redet dem Menschen gegen die Maschine das Wort. Denn alle Kraft der kreativen Erneuerung geht stets vom einzelnen Individuum und seinem Lebensraum aus. Sie findet umso bessere Bedingungen, vor je größere Freiheit ihr dafür vor Ort geboten wird. Wo der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Vordergrund steht, da wird alles, was er vor Ort zu entscheiden vermag, in seine demokratische Kompetenz gestellt; wo hingegen die Diktate der Maschine gelten, da wird er auf Konformität gedrillt, da wird sein Lebensraum einer verödenden Gleichmacherei unterzogen, da verlangt man von ihm überall dieselben maschinenartig repetierten Funktionen.
Der Mensch als Zinnsoldat
Dieser maschinenartig funktionierende Mensch ist nicht erst eine Erfindung unserer Zeit. Im Gegenteil, man hat ihn schon in Babylonien, in Ägypten und überall sonst gekannt, wo es gewaltige Bürokratien gab, vor allem aber überall dort, wo das Militär zur Macht gelangt, d.h. während nahezu der gesamten Geschichte des Menschen. Denn das Urbild des zur Maschine mutierten Menschen ist der zum Stechschritt abgerichtete Zinnsoldat. Der abgerichtete Mensch ist eine erstaunliche Erfindung. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Transformation des Menschen in eine auf jeden Knopfdruck mit bedingungslosem Gehorsam und unbedingter Zuverlässigkeit reagierende Maschine einen Triumph im Sinne der Effizienz darstellt. Einer römischen Kohorte, die einem einzigen Willen sklavisch gehorcht, war ein ungeordneter Haufen schon damals unendlich unterlegen. Wenn es ums Überleben geht, erhält Effizienz daher die Priorität. Der Mensch ist bereit, die Verwandlung in eine Maschine zeitweise auf sich zu nehmen. In solchen Momenten nimmt er in Kauf, seine Menschlichkeit für einen klar definierten Zweck für begrenzte Zeit aufzuopfern. Doch in Friedenszeiten ist es mit dieser Bereitschaft vorbei. Dann empfindet er vor einer solchen Entmenschlichung nichts als Abscheu: einen tiefen und nur zu berechtigten Horror.
Taylorismus und die Brüsseler Bürokratie
Aber Effizienz übt eine magische Anziehung aus. Daher gab und gibt es immer wieder Bestrebungen, maschinenartiges Funktionieren auch im zivilen Leben zu etablieren. Der aus den USA stammende Taylorismus wollte das militärische Modell auf den Betrieb übertragen. Das ist seinem Urheber, Frederick Winslow Taylor (1856 – 1915), nur zum Teil gelungen. Die Menschen lassen sich eine solche Abrichtung nur in Ausnahmesituationen gefallen. In einer reichen Gesellschaft und in Friedenszeiten wollen sie vor allem Menschen sein, auch wenn die ökonomische Effizienz darunter leidet. Das gilt für die Zelle der Produktion, den Betrieb gilt, aber es gilt in noch höherem Maße für Staat und Gesellschaft. Die Vision eines von oben reglementierten Europa, das seine Menschen den Diktaten der größtmöglichen ökonomischen Effizienz unterwirft, ist schwer erträglich.
In seiner jetzigen Form dient das Projekt Europa nicht dem Menschen, sondern der Maschine. Sie dient jenen Lobbys, die aus der Transformation des Menschen zum bloßen „Menschenmaterial“ den größten Profit gewinnen. In seiner jetzigen Form dient das Brüsseler Projekt nicht der Demokratie, sondern zerstört sie, weil es sie dort austrocknet, wo Demokratie ihre Kraft und ihre schöpferische Vielfalt gewinnt: an der Basis. Das Projekt Europa ist derzeit nicht auf die Erhaltung und Förderung der bestehenden Vielfalt ausgerichtet, sondern auf deren Auslöschung: Alles, was vor Ort noch Eigenart und Eigenständigkeit behauptet, alles, was sich der Abrichtung zum rein ökonomischen Funktionieren entgegenstellt, wird von der Brüsseler Gleichmachungswalze überrollt und platt gedrückt. Dem sogenannten Aquis communautaire – einem tonnenschweren Konvolut von Vorschriften und Gesetzen – fällt die Aufgabe zu, die historisch gewachsenen Unterschiede zu eliminieren, um Europa in eine Riesenfabrik umzuwandeln, wo das ganze Leben dem Textbuch der Ökonomen gehorcht. Kein Wunder, dass die Betriebswirtschaftslehre zur Modewissenschaft aufrücken konnte. Betriebswirtschaftslehre ist wie die Jurisprudenz eine normative Wissenschaft, welche die Regeln für den Betrieb als den heute vorherrschenden Typ menschlicher Organisationen diktiert.
Der Betrieb ist dabei zum Vorbild an Effizienz aufgerückt, und dieses Vorbild soll nun auch für Staat und Gesellschaft gelten, die mehr und mehr als große Betriebe gesehen werden, nämlich als „Standorte“, wo Menschen vorrangig danach bewertet werden, ob sie den Anforderungen der Wirtschaft entsprechen. Die davon ausgehende ökonomische Normierung und Uniformierung hat mittlerweile das gesamte gesellschaftliche und politische Leben erfasst. Der Neoliberalismus überträgt die Regeln für den Betrieb auf den Staat, den er nur noch im Hinblick auf seine Wettbewerbsfähigkeit einstuft. Homo sapiens, homo ludens, homo faber gehören der Vergangenheit an. Wir sind im Begriff zu einer Schrumpfform, dem Homo oeconomicus, zu mutieren.
Und nun die Ernüchterung!
Diese Entwicklung setzte vor circa zwanzig Jahren ein. Sie hat in diesen Jahren nur wenig Protest hervorgerufen, weil die europäische Produktionsmaschinerie die Bürger mit ihrem Glücksversprechen betörte. Den Menschen wurde verheißen, dass sie all die schönen Dinge des täglichen Konsums in immer größerer Menge zu immer niedrigeren Preisen erhalten. Das Evangelium der materiellen Wohlfahrt wurde von vielen Menschen kritiklos geglaubt. Dafür nahm man die schleichende Entmündigung und Uniformierung in Kauf. Allenfalls war ein diffuses Unwohlsein über eine Konsummentalität zu spüren, die den Menschen in eine neue Art Sklaverei versetzt und alle anderen Lebensziele dabei verkümmern lässt.
Doch solche Vorbehalte blieben weitgehend wirkungslos, solange das Glücksversprechen sich zu erfüllen schien. Erst heute setzt die große Ernüchterung ein. Das verheißene Glück hat sich für viele als falsches Versprechen erwiesen. Mit einem Mal sind die Menschen hellwach geworden. Wie nach einem zu langen Traum reiben sie sich die Augen. Sie werden sich plötzlich bewusst, dass sie entmündigt wurden, ohne dass ihnen dieser Freiheitsverlust wenigstens durch anhaltenden materiellen Wohlstand und Fortschritt versüßt wird. Das Erwachen aus einem Traum geschieht nirgendwo so abrupt wie in Griechenland, Spanien und Italien, wo der bisherige Wohlstand einen dramatischen Einbruch erleidet. Aber auch die Deutschen beginnen zu erwachen, obwohl es ihnen wirtschaftlich vergleichsweise gut geht.
Das Versagen der Eliten
Die ökonomischen Technokraten, die den alten Kontinent unter ihr Regime zwingen wollen und der Brüsseler Bürokratie immer neue Zwangsmaßnahmen und Folterinstrumente empfehlen, haben auf spektakuläre Weise versagt. Eigentlich müssten sie aus Scham längst verstummt sein. Denn die Krise haben sie so wenig vorausgesehen wie der in Wirtschaftsdingen unbemittelte Laie. Sie behaupteten, eine ökonomisch effiziente Wirtschaftsmaschinerie in Europa aufzubauen, stattdessen haben sie durch gewaltsame Uniformierung von oben nur die gelebte (im Gegensatz zur formalen) Demokratie unterdrückt!
Das Stuttgarter Bahnprojekt ist dafür ein beredtes und besonders trauriges Symbol. Es veranschaulicht im Kleinen das Versagen im Großen. Hier ist der Bürger vor Ort entmündigt worden. Er hat erleben müssen, dass sein Wille nichts zählt und deshalb missachtet wird. Natürlich gibt es Situationen, wo das übergeordnete Ganze seine Interessen gegen die Kräfte vor Ort durchsetzen muss, andernfalls würde es nicht als Ganzes bestehen können. Doch sollte es sich dabei stets um sehr gut begründete Ausnahmen handeln. Das war in Stuttgart gewiss nicht der Fall. Wenn der einzige Gewinn eines milliardenschweren Projektes in der Beschleunigung einer zweitrangigen Verkehrsverbindung um eine halbe Stunde besteht, so wird niemand von einer gut begründeten Ausnahme reden können. Die einzig greifbare Wirkung besteht in einem massiven Schaden für die gelebte Demokratie. Und dazu muss man sich noch von ökonomischer wie politischer Seite anhören, dass man in China einen Bahnhof plant und am nächsten Tag mit den Bauarbeiten beginnt. Soweit ist es mit unserer Demokratie gekommen, dass man eine Diktatur zum Vorbild erhebt!
Die bedrängten Eliten kokettieren längst mit den Obrigkeitsstaat. Was ist der Fiskalpakt, der von oben verordnet wird und die Steuereinkünfte des Bürgers auf Jahre verpfändet, anderes als ein obrigkeitsstaatliches Diktat auf gesamteuropäischer Ebene?
Die Vereinigten Staaten und die Kraft der Kommunen
So muss es nicht sein. Es gibt echte Vorbilder für demokratische Vereinigung ursprünglich selbstständiger Staaten. Die „vereinigten“ Staaten haben sich bis um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts einer Demokratie rühmen können, deren Kraft in der Selbstbestimmung der Kommunen lag. Hier wussten die Bürger vor Ort unmittelbar über ihre eigenen Probleme Bescheid, und die Verfassung gab ihnen das Recht, über sie auch nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Die Kompetenzen der Regierung in Washington waren stark eingeschränkt. Sie betrafen vor allem das Verhältnis zum Ausland und sonst nur jene Institutionen, die den Zusammenhalt der Union garantierten. Das hat sich inzwischen geändert. Die Zentralregierung hat mehr und mehr Macht an sich gerissen. Sie tat dies im Auftrag einer neuen Klasse von Superreichen, die ihre Interessen erfolgreich gegen die Mehrheit der Bürger im eigenen Land durchzusetzen verstand. Diese Minorität hat nach 100 Jahren eines den Reichtum fördernden Protektionismus den unbeschränkten Freihandel durchgesetzt und damit eine De-Industrialisierung des eigenen Landes in Gang gebracht, welche Kommunen und Bundesstaaten verarmen ließ. Statt die letzteren zu schützen, wie sie es noch bis Anfang der 70er Jahre tat, hat die Zentrale in Washington sich an die Seite dieser Minorität gestellt (fast alle Abgeordneten in beiden Häusern sind selbst Millionäre). Technokraten haben die gelebte Demokratie massiv beschädigt. Aus dem amerikanischen Traum ist ein bitteres Erwachen geworden. Lewis Mumford, der große Gelehrte, liebenswürdige Mensch und wortmächtige Verteidiger der gelebten Demokratie, hatte schon im vergangenen Jahrhundert vor der Entwicklung zur ökonomisch-bürokratischen „Megamaschine“ gewarnt.
Soll Europa denselben Weg beschreiten? Soll es sich an der Formaldemokratie der heutigen USA orientieren oder an jener einst so lebendigen und vorbildlichen Demokratie, die ihre Vitalität und die Kraft ihrer Ausstrahlung aus der Mitarbeit der Bürger vor Ort bezog? Die Antwort unterliegt für mich keinem Zweifel. Brüssel sollte so klein sein wie Washington es damals war. Es sollte Europa nach außen repräsentieren und schützen. Aber eines sollte es nicht sein: Ein von Technokraten beherrschter bürokratischer Moloch, der jeden Bürger Europas in dasselbe Prokrustesbett zwingen möchte!