Politik, Wissenschaft und – ja, Sie lesen richtig! – Linguistik

Noch in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Deutsch die gebräuchlichste Wissenschaftssprache. Bis 1933 hatte Deutschland mehr Nobelpreise errungen als irgendeine andere Nation, mehr als England und die Vereinigten Staaten zusammen. Dann kamen Hitler und seine Politik der systematischen Lüge (und Verbrechen). Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutsch nur noch eine Sprache unter anderen, und deutsche Wissenschaft büßte ihren einstigen Rang weitgehend ein.

Seit 1945 durften die USA noch bis vor kurzem behaupten, auf fast allen Gebieten der Wissenschaft den Ton anzugeben. Dann kam erst George Bush Junior und dann das weit größere Übel: der ehemalige und ewige Schauspieler Donald Trump mit seiner Politik der systematischen Lüge. Inzwischen rückt China als neue Weltmacht der Wissenschaft (und einer messianischen Wissenschaftsgläubigkeit) auf. Der Stern der USA ist im schnellen Sinkflug begriffen.

Wissenschaft ist der Wahrheit verpflichtet

Das heißt nicht, dass sie DIE WAHRHEIT in den Blick bekäme: Wahrheit, wie sie Menschen als Sinn oder Ziel des Lebens verstehen. Darüber weiß Wissenschaft im Gegenteil sehr wenig oder auch gar nichts zu sagen, dennoch vereinigt sie Menschen im Hinblick auf das Verständnis von Wirklichkeit. Noch vor fünfhundert Jahren haben die Eliten Frankreichs, Japans, Chinas oder Indiens einander nichts zu sagen gewusst, denn mit den praktischen Belangen der Lebensbeherrschung, die auf der ganzen Welt denselben Naturgesetzen gehorchen, hatten sich vor allem die niedrigen Schichten zu befassen. Bauern in Deutschland, Indien oder China hätten sich über die Belange der Feldbearbeitung mit Ihresgleichen verständigen können, aber die Eliten lebten in anderen Sphären, bestimmt von Ehre, Ehrgeiz und vor allem der Religion, die in jedem Land ganz anderen Göttern und Moralvorschriften gehorchte.

Heute können sich die Eliten

Chinas, der USA, Indiens und Europas über eine Fülle von Gegenständen sachkundig unterhalten, ganz gleich ob es sich um Finanz, Konzerne, Computer und Panzer oder die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft handelt. Letztere, die Wissenschaft, wurde denn auch, und zwar spätestens seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, zu einer – nein, sie wurde zu der universalen Menschheitssprache.

Das heißt aber keinesfalls, dass der gegenseitige Austausch und eine gemeinsame Sprache die Menschen einander zwangsläufig näherbringen. Das stimmt schon für die Vergangenheit nicht. Das indische Kastensystem zum Beispiel brachte Menschen in engste Berührung, die in ein und derselben Sprache kommunizierten und Berufe ausübten, welche die Angehörigen unterschiedlicher Kasten (wie zum Beispiele Barbiere und Brahmanen) täglich in hautnahe Berührung brachten, aber diese Menschen durften nicht miteinander speisen und einander schon gar nicht heiraten. Die Brahmanen wollten Herren, die anderen Kasten sollten Knechte bleiben – dieser fundamentale Gegensatz der Interessen sorgte dafür, dass die enge Berührung und die gemeinsame Sprache keine Annäherung bewirkten.

So ist es bis heute geblieben. Die Tatsache, dass westliche Wissenschaft inzwischen von den Chinesen nicht nur übernommen, sondern mit zunehmendem Erfolg im eigenen Land perfektioniert wird, besagt keinesfalls, dass der Unterschied der Interessen zwischen den USA und China dadurch überbrückt werden könnte. Wissenschaft, in der man sich auf Wahrheit grundsätzlich einigen kann, weil ihre Voraussagen zutreffen oder nicht, ein Handy funktioniert oder eben nicht funktioniert – das ist das eine. Interessen sind etwas ganz anderes, weil es keine objektive Grundlage gibt, um sie als berechtigt anzuerkennen oder als unberechtigt zurückzuweisen. Bei Interessen entscheidet letztlich eine ganze andere Instanz als die Wahrheit – es entscheidet die Macht.

Leider kann aber auch Wissenschaft der Macht hörig werden

und ist es tatsächlich auch immer wieder geworden. In den Worten ihres großen Theoretikers Thomas S. Kuhn wird sie in diesem Fall zu einem dogmatisch gegen jeden Widerspruch verteidigten „Paradigma“. Ein solches Paradigma war zum Beispiel das vorkopernikanische geozentrische Weltbild. Giordano Bruno wurde verbrannt, viele andere wurden verfolgt oder ebenfalls hingerichtet, weil sie das herrschende Paradigma in Zweifel zogen. Dabei war dieses Weltbild nicht einmal falsch, denn prinzipiell lässt sich jeder Punkt des Weltalls willkürlich als Mittelpunkt setzen, um von da aus die Bahnen anderer Himmelskörper zu beschreiben und zu errechnen. Selbst ein lunazentrisches Weltbild wäre denkbar und könnte zu durchaus richtigen Voraussagen von Sonnen- und (partiellen) Erdfinsternissen führen. Ein lunazentrisches Weltbild wäre ebenso wenig falsch wie das geozentrische – es wäre nur so außerordentlich komplex, dass es den Fortschritt der Astronomie noch stärker als das geozentrische behindert hätte. Die Ersetzung des Letzteren durch die Lehre des Kopernikus stellte daher einen historischen Durchbruch dar.

Bekanntlich hat die Verurteilung Galileos im 20ten Jahrhundert noch Bertolt Brecht inspiriert. Aber es war nicht allein die Kirche, welche sich der neuen Lehre so lange und so hartnäckig widersetzte, weil sie sich mit Stellen aus ihren heiligen Texten nicht vereinbaren ließ, es waren auch viele Wissenschaftler, diejenigen nämlich, welche im alten Weltbild erzogen waren und es an ihre Schüler vermittelt hatten. Mit ihrem Ruhm, ihrem über Jahre erworbenen Wissen, ihren Denkgewohnheiten hingen sie daran. Wie sehr dieses Festhalten am Gewohnten auch für die scheinbar strengsten Wissenschaften und Wissenschaftler gilt, hatte Einstein einmal angedeutet, als er meinte, dass die alte Generation von Physikern erst aussterben müsse, damit er selbst von einer neuen verstanden werde.

Oft ist ein Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis

nicht von unmittelbarer praktischer Bedeutung. Wie schon gesagt, war das geozentrische Weltbild nicht falsch, sondern es war lediglich unbequem. Auch die klassische Physik, wie sie Newton begründet hatte, ist nicht falsch; Einstein konnte nur zeigen, dass sie Grenzbereiche des Wirklichen nicht zu erklären vermag (ein Faktum, das durch die Quantenphysik noch untermauert wurde).

Manchmal hat das Festhalten an einem Paradigma jedoch durchaus gravierende praktische Folgen. Der österreichische Chirurg Ignaz Semmelweiß führte den zu seiner Zeit häufigen Tod gebärender Frauen aufgrund von Kindbettfieber auf mangelnde Hygiene zurück. Er stellte einen Katalog von Vorschriften auf, um durch Reinlichkeit und Desinfektion den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern – Vorschriften, die heute als vorbildlich gelten. Zu seiner Zeit hegten die Kollegen von Semmelweiß jedoch andere Ansichten über die Ursachen von Krankheiten und die dadurch bewirkten Todesfälle. Sie verwarfen dessen Theorie als spekulativen Unsinn. Semmelweiß starb 1865 unter ungeklärten Umständen in einer Wiener Irrenanstalt. Durch seine Theorie hatte er seinen Kollegen – wenn auch nur indirekt – Unwissenheit, Dünkel und mangelndes Wahrheitsbewusstsein vorgeworfen. Das haben sie ihm bis zuletzt nicht verziehen. Eher nahmen sie den Tod vieler Frauen in Kauf, als dass sie sich in ihrer Berufsehre kränken ließen.

Unwissenheit, Dünkel und mangelndes Wahrheitsbewusstsein

beherrschen die Wissenschaft heute genauso, wie sie es schon in der Vergangenheit taten. Das ist die wesentliche Erkenntnis, zu der Thomas S. Kuhn in seinem Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ gelangte. Ich möchte sie mit einem weiteren Beispiel belegen, das einerseits wirklich harmlos ist, weil in diesem Fall niemand an den genannten Übeln zugrunde geht. Andererseits illustriert es aber auch recht deutlich die Lüge, welche nicht nur in der Politik sondern eben auch in der Wissenschaft eine unübersehbare Rolle spielt.

Linguistik wurde seit Beginn der 80er Jahre

für einige Jahre zu einer Art von Hoffnungsträger für die gesamten Kulturwissenschaften. Noam Chomsky erregte weltweites Aufsehen mit einer Theorie, die es scheinbar ermöglichte, mit Hilfe weniger Formeln die Prinzipien zu erklären, die den Sprecher einer beliebigen Sprache dazu befähigen, eine prinzipiell unendliche Menge richtiger Sätze zu bilden. Die Generative und die Generelle Grammatik wurden geboren – und eine Zeitlang sah es so aus, als wäre die Sprache jener Teil der Kultur, der es den Geisteswissenschaften erlaubt, mit Hilfe einer Handvoll von Regeln sämtliche kulturellen Erscheinungen aus wenigen Prinzipien genauso herzuleiten, wie dies den Naturwissenschaften im Hinblick auf das Reich des Unbelebten ja schon weit früher gelungen war. Anders gesagt, rückte die Linguistik in den 80er und 90er Jahren für kurze Zeit zu einer Starwissenschaft auf.

Was ist von dieser Begeisterung geblieben?

Mit einem einzigen Wort lässt sich diese Frage kurz und bündig beantworten: Nichts! Selbst einer der engagiertesten Verehrer von Chomsky, Steven Pinker, sieht in der Theorie seines Meisters eine schwer verdauliche Scholastik. Andere sind sehr viel deutlicher und haben aufgezeigt, dass Chomsky selbst es war, der in den vergangenen Jahrzehnten einen Baustein seiner Theorie nach dem andere demontierte. Selbst wenn sie das Ziel, die wissenschaftliche Begründung einer Generellen und Generativen Grammatik, als legitim erklären, sind die meisten Kritiker sich darin einig, dass die Methode Chomskys sich dazu als ungeeignet und unfruchtbar erweist. Zu den Anhängern Chomskys zählen natürlich all jene, die ihn als ihren Lehrer sehen, Linguisten wie Steven Pinker, Ray Jackendoff oder J. Mendivil-Giro, um nur einige Namen willkürlich herauszugreifen. Zu seinen zum Teil vernichtenden Kritikern gehören Christopher Hallpike, Giorgio Graffi, John Colarusso, Nikolaus Allott, David Golumbia, Roland Hausser, John Goldsmith, Per Linell, Tristan Tondino, Christina Behme – um wiederum nur wenige Namen aus der Menge der Wissenschaftler willkürlich herauszugreifen, die ein Gutteil ihres Lebens damit verbrachten, die scholastischen Begriffsakrobatien Noam Chomskys zu durchforsten oder – noch schwerer – seine Scholastik überhaupt zu verstehen. Diese Leute sind mittlerweile mit dem gegenteiligen Anliegen beschäftigt, Chomskys Thesen der Reihe nach zu dekonstruieren.

Als wissenschaftliche Theorie ist Chomskys Lehre tot,

oder richtiger gesagt, hat sie sich als Lüge erwiesen, denn anders als das geozentrische Weltbild ist sie nicht nur unbequem sondern falsch, weil sie keines ihrer Versprechen zu halten vermochte. Sie erklärt nämlich weder den generativen noch den generellen Aspekt menschlicher Sprache. Doch die Leute, die dieser Lüge den besten Teil ihres Lebens gewidmet haben und ihre Schüler damit infizierten, möchten sich so wenig wie damals die Kollegen von Semmelweiß vorwerfen lassen, dass sie sich Jahre lang irrten. Deswegen wenden nun viele von ihnen ihre überlegene Intelligenz an das gegenteilige Unterfangen, den scholastischen Jargon Chomskys auf die Kritik Chomskys anzuwenden. Die damit verbundene Gefahr hatte der wunderbar scharfsichtige William James schon vor mehr als einem Jahrhundert erkannt, als er – damals im Hinblick auf deutsche Kulturwissenschaftler – folgende Beobachtung protokollierte: „The forms are so professionalized that anybody who has gained a teaching chair and written a book, however distorted and excentric, has the legal right to figure forever in the history of the subject like a fly in amber. All later comers have the duty of quoting him and measuring their opinions with his opinion. Such are the rules of the professorial game – they think and write from each other and for each other and at each other exclusively.”

Das ist das typische Verhalten einer Elite,

und es ist so alt wie die Menschheit selbst. Ich fühle mich dadurch an ein scholastisches Unternehmen erinnert, das vor beinahe dreitausend Jahren ersonnen und in den sogenannten „Brahmana-Texten“ niedergelegt wurde. Eine Elite von hochgeachteten und hochbezahlten Priestern beschrieb darin mit akribischer Genauigkeit, wie man durch ein ganz bestimmtes Aufschichten von Ziegeln, ihrem Begießen mit Butter und unter dem Gemurmel verschiedener Mantras alle nur erdenklichen Krankheiten heilen, Feinde vertreiben, Dürren verhindern und Regen herbeizaubern konnte. Ein nord-amerikanischer Indologe bezeichnete die Texte – offenbar in einem Anfall von intellektueller Verzweiflung – als das „Gebrabbel von Irrsinnigen“, obwohl ein hohes Niveau systematischer Intelligenz und Wissens zu ihren Merkmalen gehört.

Noam Chomsky hat als Theoretiker der Politik einige Texte von großer Klarheit und Überzeugungskraft geschaffen. Der Gegensatz zu seinen unfruchtbaren linguistischen Haarspaltereien ist daher nur so zu erklären, dass er mit seiner Methode scheitern musste, und es daher fortwährender intellektueller Winkelzüge, Kehrtwenden und Verschleierungstaktiken bedurfte, um sie dennoch aufrechtzuerhalten. Wie werden Wissenschaftler, die ihn heute schon so gnadenlos kritisieren, in ein oder zwei Jahrzehnten über seine Lehre denken? Ich nehme an, dass man seine Theorie (mitsamt den dazu abgegebenen in der Regel fast ebenso scholastischen Kommentaren) dann genauso als „irrsinniges Gebrabbel“ bezeichnen wird  – trotz oder gerade wegen ihres hochgestochenen wissenschaftlichen Jargons. Es muss eben, wie Einstein sagte, eine neue Generation einen frischen Blick auf die Wirklichkeit werfen. Erst dann kann es zu einem Umdenken kommen. Jetzt sind noch die Vertreter der alten Lehre im Amt und viel zu sehr von ihrem eigenen Wissen durchdrungen, um den akademischen Dünkel durch Wahrheitsbewusstsein zu überwinden.

Dabei gibt es immer auch Außenseiter

manchmal große wie Nikolaus Kopernikus, manchmal kleinere wie Ignaz Semmelweiß, die sich dem Paradigma entgegenstellen. Auch in der Linguistik hat es einen derartigen Außenseiter gegeben, und zwar schon früh zu Beginn der achtziger Jahre. Der Betreffende erkannte, dass über Generelle oder Universale Grammatik schwer zu sprechen sei, wenn man außer der eigenen Muttersprache gerade noch etwas Hebräisch und Spanisch beherrscht. Von einem Zoologen erwartet man, dass er Hunderte von Tieren, von einem Botaniker, dass er Tausende von Pflanzen kennt, um in seinem Gebiet zuhause zu sein. Mutet es da nicht wie ein Wunder an, dass es für Chomsky und die meisten seiner linguistischen Gefolgsleute genügt, gerade ihre Muttersprache, das Englische, zu beherrschen und sich trotzdem souverän über Universale Grammatik zu äußern?

Der Meister selbst erblickte darin nach eigenem Bekunden freilich durchaus keinen Nachteil. Wörtlich behauptete er, in seinem Inneren über einen Homunkulus zu verfügen, der ihm schon das Richtige sagen würde.*1* Dagegen ist natürlich schwer zu argumentieren, wenn man den Homunkulus nicht in der eigenen Brust verspürt. Der genannte Außenseiter konnte sich eines solchen Männchens in seiner Brust nicht rühmen, er zog es vor, sich auf die Vernunft zu verlassen. Schon damals, zu Beginn der 80er Jahre, konnte er den Nachweis erbringen, dass die Theorie Chomskys auf Treibsand begründet war, weil sie hybride Grundbegriffe der traditionellen Grammatik benutzt, die gerade nicht universal sind, nämlich Verben und Nomina. Das seien formale Klassen, die in Sprachen wie Englisch und Chinesisch mit unterschiedlichen semantischen Inhalten gefüllt sind, sodass man nur von englischen, chinesischen, japanischen Verben bzw. Nomina reden dürfe. Wenn diese Kritik an falsch gewählten Grundbegriffen zutreffend war, dann erwies sich alle weitere Beschäftigung mit einer Theorie, die auf genau diesen Bausteinen aufgebaut war, als durchaus überflüssig.

Die Begeisterung über die scheinbar Universale Grammatik

Chomskyscher Provenienz war zu jener Zeit allerdings noch so überwältigend groß, dass die Stimme des Außenseiters schlicht übergangen wurde. Ja, dieser Einwurf wurde als so störend empfunden, dass man seine anfängliche Erwähnung als Linguist in Wikipedia nachträglich wieder rückgängig machte. Nicht nur, dass es niemals zu einer Auseinandersetzung mit seinen Argumenten kam.*2* Indem man den Betreffenden aus der Liste der Linguisten strich, wollte man ihn überhaupt als linguistisch nicht-existent deklarieren.

Solche Strategien sind,

wie wir sahen, nicht nur in der Politik sondern auch in der Wissenschaft völlig normal – und in den meisten Fällen überdies auch ziemlich belanglos. Für die Missachtung von Semmelweiß mussten viele Frauen ihr Leben lassen, aber die scholastischen Verirrungen eines Noam Chomsky richten nur in den Köpfen einer Handvoll von Universitätsprofessoren schwere Verwüstungen an, das Schicksal der restlichen Menschheit bleibt davon glücklicherweise ganz unbetroffen.

Nein, vielleicht doch nicht ganz, denn die Wissenschaft verändert dabei ihren Charakter. Man vergesse nicht: Es gibt ja auch einen erstaunlich erfolgreichen Zweig der modernen Linguistik: die maschinelle Übersetzung mit Hilfe von künstlicher Intelligenz. Die Erfolge auf diesem Gebiet muss man als schlechterdings atemberaubend bezeichnen. Seit Lebensbedingungen und Sprachen sich weltweit immer mehr angleichen, fallen immer mehr von jenen kulturellen Unterschieden weg, die das Übersetzen früher einmal so schwierig machten. Wirtschaftliche und wissenschaftliche Texte lassen sich heute maschinell zum Teil geradezu perfekt übersetzen. Nur literarische Texte – und hier vor allem Gedichte – spotten diesen Bemühungen, weil sie sich nicht standardisieren lassen. Wenn ein Schriftsteller Standardware erzeugt, dann sind sie leicht übersetzbar, aber meist eben auch ohne Wert.

Die automatisierte Übersetzung ist nicht weniger als ein großer Triumph

der instrumentellen Intelligenz – hier gilt dieselbe Regel wie in den angewandten Naturwissenschaften – entweder es funktioniert oder es funktioniert eben nicht. Die Qualität einer Übersetzung und damit das Kriterium der Wahrheit (der zugrundeliegenden Algorithmen) lässt sich eindeutig ermitteln. Diese Eindeutigkeit fehlt in den nicht-instrumentellen – den verstehenden – Kulturwissenschaften. Und in jenen Kreisen, die wie es William James schon damals beschrieb „voneinander, füreinander und gegeneinander schreiben“, wird sie nicht einmal gesucht. Daher der grassierende Kahlschlag in den heutigen Geisteswissenschaften. Viele Politiker sehen die Berechtigung von Disziplinen nicht länger ein, wenn sie keinen erkennbaren Wert für die Allgemeinheit besitzen; Posten und Bereiche werden in den Humanwissenschaften so stark reduziert, dass diese heute nur noch die Rolle missachteter Mauerblümchen spielen. Ein gerütteltes Maß von Schuld an dieser Entwicklung muss man der linguistischen Scholastik eines Chomsky beimessen, denn was von dem ganzen, ursprünglich so weltbewegenden Ereignis der Chomskyschen Generellen und Generativen Grammatik übrig blieb, ist eben keinesfalls eine bessere Erkenntnis der Sprache, sondern ein schwer- bis unverständlicher wissenschaftlicher Jargon – die leere Hülse einer Insidersprache, welche linguistische Adepten erlernen müssen, wollen sie zum Kreis der Eingeweihten gehören.*3*

Bleibt am Ende nur noch hinzuzufügen,

dass es der Zufall gerade so fügt, dass der betreffende Außenseiter mit dem Verfasser dieser Zeilen identisch ist. Sein Buch „Principles of Language“ ist niemandem zu empfehlen, dem es um die Schönheit der Sprache geht, denn es ist darin nur von deren logischer Struktur sowie den universalen Zwängen die Rede, denen jede Sprache unterworfen ist (das trifft natürlich generell auf alle linguistischen Texte zu, die sich mit den abstrakten Regelmäßigkeiten von Sprache befassen). Die „Principles“ untersuchen das logische Knochengerüst der Sprache, nicht ihr lebendiges, verführerisch in unendlich vielen Nuancen blühendes Fleisch.

Wer sich allerdings für die Logik der Sprache interessiert, der wird durch dieses Buch reichlich belohnt, denn es zeigt die Grenze zwischen Zufall und Gesetzlichkeit auf, die in der Sprache ebenso wie in der Kultur überhaupt existiert, aber in der Sprache leichter zu bestimmen ist. Dabei wird systematisch zwischen immaterieller Bedeutung und deren materieller Manifestation durch Lautsequenzen unterschieden, die im Prozess der Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer ausgetauscht werden.

Das Fazit der „Principles“ gibt Chomsky recht: Ja, es gibt eine Generative und Generelle Grammatik – generativ ist Sprache, weil Kinder fähig sind, unendlich viele Aussagen zu bilden, auch solche, die sie zuvor niemals hörten. Generell ist sie, weil die Aussagen verschiedener Sprachen ineinander übersetzt werden können. Beides sind empirische Tatsachen. Aber Sprache ist nicht generativ und generell gemäß dem so verblüffend einfachen und deshalb so verführerischen Modell, das Chomsky in seinen berühmten kopfstehenden Bäumen entworfen hat. Danach steht ganz oben ein S (sentence), aus dem ein Sprecher mit Hilfe weniger allgemeiner Regeln und eines Lexikons dann beliebige konkrete Sätze abzuleiten vermag. Jede besondere Einzelsprache fügt den generellen Regeln dann nur noch einige spezifische hinzu, um die Unterschiede zu anderen Sprachen zu definieren.*4* Dies ist die zündende Idee des Chomskyschen Modells, ihr eigentlicher Kern, während alles Übrige nur Beiwerk ist.

Chomskys trügerische Bäume verdanken ihre Faszination,

der Tatsache, dass sie aus Sprache eine Art simples Computerspiel machen. Und nur diese außerordentliche Faszination, welche die Genese der Sprache so umfassend zu erklären schien wie die Naturwissenschaften die Welt der toten Dinge, macht begreiflich, warum niemand auf den elementaren logischen Fehler aufmerksam wurde, der in diesen täuschend einfachen Bäumen steckt. Tatsache ist, dass das Baum-Modell schon im Ansatz falsch ist – es vermengt die Tiefenebene der immateriellen Wirklichkeitsanalyse und die materielle Manifestation dieser Ebene mit Hilfe akustischer (oder sonstiger) Zeichen. Die immaterielle Wirklichkeitsanalyse findet schon bei Tieren auch ohne Verwendung von materiellen Zeichen statt, und sie entwickelt sich bei Menschen von einem primitiven Niveau (wie z.B. in der Piranha-Sprache Amazoniens) bis zu den komplexesten Bedeutungsstrukturen. Diesen liegt eine generelle konzeptuelle Grundstruktur zugrunde, deshalb lassen sich Sätze einer evolutionär primitiveren Sprache mühelos in eine evolutionär entwickeltere übersetzen; in der Gegenrichtung ist das aber in bestimmten Bereichen nur sehr eingeschränkt oder auch gar nicht möglich (wie will man einen modernen Text über Mathematik in eine Sprache übersetzen, wo nicht mehr als die Konzepte für zwei oder drei existieren?).

Doch mit den Unterschieden auf der Ebene der konzeptuellen Struktur ist die Komplexität der Sprache noch keineswegs erschöpft, denn auf Grundlage ein und derselben immateriellen Wirklichkeitsanalyse in konzeptuellen Strukturen lassen sich ganz verschiedene materielle Verwirklichungen, also Zeichensysteme, aufbauen. Aus Chomskys verführerisch einfachem Baum, der der Sprache Gewalt antut und überhaupt nichts erklärt, wird die Generelle und Generative Grammatik zu einem komplexen Ensemble, das sich noch dazu in fortwährender evolutionärer Entfaltung befindet.

In seinem Buch „The Language Instinct“ hat Steven Pinker einige Jahre nach dem Autor der „Principles“ die vorsprachliche Wirklichkeitsanalyse richtig als das generelle und generative Substrat erkannt und als „Mentalese“ bezeichnet, ein Substrat, das allen Sprachen zugrunde liegt. Aber es blieb bei dieser einsamen Erkenntnis. Es ist Pinker nicht gelungen, daraus die entsprechenden Folgerungen zu ziehen. Chomsky’s heillos simplistisches und logisch unhaltbares Sprachmodell erweist sich als hartnäckiges Paradigma, welches bis heute den Fortschritt der Wissenschaften behindert.

1 Siehe David Golumbia: „The Language of Science and the Science of Language: Chomsky’s Cartesianism“

2 Das ist nicht ganz richtig. Der Linguist John Goldsmith von der University of Chicago sah sich in einer Diskussion mit dem Autor schließlich zu dem Zugeständnis genötigt, dass Verben, Nomina etc. als universale Kategorien nicht tauglich seien.

3 Fachsprachen haben natürlich ihren Sinn, wenn sie durch den Gegenstand selbst gefordert werden. Keine Naturwissenschaft kommt heute ohne eine spezifische Fachsprache aus, die aber durch Ergebnisse gerechtfertigt sein muss, die sich eben nur auf diese Weise erzielen lassen. Wenn eine Fachsprache keine Ergebnisse bringt, dann ist sie nur Geheimjargon wie einst das Latein oder in Indien das Sanskrit oder das Altslawische und dient allein dazu, den Abstand zu den Laien aufrechtzuerhalten.

4 Zum Beispiel den Unterschied in der Wortstellung, die für die Englisch eine Mittelstellung des Verbs, also SVO, im Japanischen dagegen dessen Endstellung vorschreibt: SOV.

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From Prof. Hallpike I got the following commentary by mail:

Dear Mr Jenner,

Thank you for this, which is most entertaining – “the babble of madmen” indeed! In which one can also include, for example, Skinner and the Behaviourists, and Levi-Strauss and the structuralists.) It’s really fascinating to see how dogma overtakes so many branches of science and learning generally. Those believe that Darwinian Selectionism can explain cultural evolution provide another example in my own field. I have also been thinking some more about Chomsky and recursion. As I understand it, mathematical recursion is nothing more than an iterative procedure by which one constructs a series, like the natural numbers or the Fibonnacci  series, which go on for ever. This “going on for ever”, however, which apparently Chomsky and followers thought an essential feature of language creativity is quite different from and irrelevant to the structural complexity both of grammar and meaning achievable by the repeated nesting of clauses within a sentence, which could actually be quite short. From what you say this basic difference between the two recursions was actually glossed over?

Yours

Christopher Hallpike

My return mail:

Dear Mr. Hallpike,

I am glad you took no offence at my somewhat harsh comment on certain intellectual games in academia, a comment which was indeed meant to amuse. Even more amusing are comments by followers of Chomsky that interpret his thoughts in blatantly contradictory ways:

Mendivil-Giro („Is Universal Grammar ready for retirement?“): „The mathematical concept of recursion was quasi-synonymous with computability, so that recursive was considered equivalent to computable… what Chomsky… postulates as the central characteristic of human language is recursion in the computational sense, not the existence of sentences within sentences or the existence of noun phrases inside noun phrases“ (my italics).

Pinker („The Language Instinct“): „Recall that all you need for recursion is an ability to embed a noun phrase inside another noun phrase or a clause within a clause“ (my italics). Is there a better proof of Chomskyan vagueness than such opposing interpretations?

Yours

Gero Jenner