(auch erschienen in: fbkfinanzwirtschaft)
Als ausgebildete Physikerin hat sich Angela Merkel frühzeitig jenen Sinn für klares Denken und logisch überzeugende Lösungen angeeignet, der unter Politikern eher eine Seltenheit ist. Entsprechend trat sie in der Kanzlerwahl von 2005 mit einem Programm hervor, vorgeschlagen von dem ehemaligen Verfassungsrichter Paul Kirchhof, das eine längst überfällige Reform am Wildwuchs des deutschen Steuersystems propagierte. Bei dieser Gelegenheit musste Frau Merkel allerdings schmerzlich erleben, wie leicht es für einen entschlossenen politischen Gegner ist, auch die besten Absichten ins Lächerliche zu verkehren. Ihre Bereitschaft zur Reform auf Grundlage vernünftiger Einsicht hätte sie damals fast den Sieg über Gerhard Schröder gekostet.
Ihr Weg, gesäumt von politischen Leichen
Mit erstaunlicher Schnelligkeit hat die frisch gebackene Kanzlerin damals aus der Beinahe-Niederlage eine sie prägende politische Lehre gezogen: Auf der Bühne der Politik ist mit Vernunft allein kein Staat zu machen. In kürzester Zeit entwickelte sie sich zu einer Pragmatikerin der Macht. Mit einem erstaunlichen Scharfblick der Menschenkenntnis begabt, verlieh sie ihrer ansonsten milden Herrschaft sehr bald einen männermordenden Beigeschmack: Niemand verstand es so gut wie der neue Politstar aus der ehemaligen DDR, ohne viel Aufsehens und sogar ohne den Anschein ernster Betroffenheit ihre – meist männlichen – Gegner oder Machtrivalen still zu entsorgen, sie ins politische Abseits oder zumindest in eine untergeordnete Stellung zu drängen. Helmut Kohl, Laurenz Meyer, Wolfgang Schäuble, Friedrich Merz, Edmund Stoiber, Günther Oettinger, Roland Koch, Christian Wulff und nicht zuletzt die gegnerische Partei SPD gehörten zu ihren Opfern.
Realpolitikerin, die sich eine gute Portion Idealismus bewahrte
Frau Merkel wuchs in ihrem Amt zu einer bewundernswert zähen Politikerin heran. Mit der in diesem Beruf unerlässlichen Geduld kämpfte sie sich beharrlich durch das aufreibende Kleinklein der täglichen Regierungsroutine, die üblicherweise jeden Idealismus zum Absterben bringt. Nicht so bei ihr. Die Kanzlerin war und ist mehr als nur eine dröge Exekutivbeamte, die im Gestrüpp und ewigen Gezerre der notwendigen Kompromisse am Ende doch nur das gerade noch Mögliche durchsetzt. Spätestens nach Fukushima mussten auch ihre Kritiker erkennen, das diese Kanzlerin mehr als ein Apparatschik ist. Außer der ihr von Haus aus eigenen kühlen Vernunft hatte sie sich auch ein gutes Maß an wärmendem Idealismus bewahrt. Denn nach Fukushima erkannte sie die einmalige Chance, die ihr eine schlagartig veränderte Stimmung im Lande bot. Es bleibt ihr Verdienst, diese Chance genutzt zu haben, um die Energiewende gegen stärksten Widerstand durchzusetzen. Es ist wahr, dass die Kanzlerin nur für eine Initialzündung sorgte – die weitere Energiepolitik hat nicht gehalten, was man der Welt versprach: Deutschlands Energiewende gilt längst nicht mehr als Vorzeigemodell. Doch konnte seitdem niemand mehr übersehen, dass die deutsche Kanzlerin ein feines Gespür für das politisch Mögliche besitzt. Sobald die Stimmung im Land es ihr ermöglicht, bricht sie aus der Routine aus, dann nützt sie die Gunst der Stunde.
Glanz in einer meist glanzlosen Demokratie
In einem demokratisch verfassten Staat ist das alles andere als selbstverständlich. Die unterschiedlichsten Interessen beeinflussen hier mehr oder weniger stark jede Regierungsentscheidung – nicht zuletzt gilt das für die Anrufe aus den USA, die niemals an die Öffentlichkeit gelangen, aber von keiner deutschen Exekutive ohne Schaden für die eigene Wirtschaft und nationale Sicherheit vernachlässigt werden dürfen. Demokratische Führung bedeutet deshalb in aller Regel kaum mehr als ein Moderieren von rivalisierenden Interessen. Demokratien fehlt aus diesem Grund auch durchwegs der Glanz in den Augen der Bürger, denn Vernunft und Idealismus werden hier schneller im Getriebe der Kompromissmaschine zerrieben als in Monarchien oder autoritären Regimen. Wenn glanzlose Demokratien dennoch das kleinere Übel sind, dann weil auf ein einziges, einsames Genie, das in einem autoritären Regime zum Wohl des Volkes wirkt, wenigstens neun Trottel oder Verbrecher kommen, die ihr Volk ins Verderben schicken.
Angela Merkel hat es verstanden, ihre Kanzlerschaft mit Glanz zu umgeben. Das erreichte sie nicht allein durch die Energiewende von 2011, die als Idee (wenn auch nicht in der Ausführung) nach wie vor beispielhaft ist, sondern mehr noch durch ihr Verhalten im Jahre 2015, als sie auf die Not der Menschen in Syrien eine Antwort fand, mit der sie sich der Welt ein zweites Mal als Idealistin präsentierte. Die Ankündigung, allen politisch Verfolgten in Deutschland Asyl zu gewähren, war nicht weniger als sensationell. Angela Merkel hat das Bild der Deutschen in der Weltöffentlichkeit verändert.
Unbestreitbar ist, dass die Kanzlerin in einem keineswegs kleinen Teil der Bevölkerung – zeitweise wohl mehr als der Hälfte der Deutschen – ein ungeahntes Maß an Enthusiasmus und Opferbereitschaft für die gute Sache auslöste; so viel spontane Hilfe, so viel echte Begeisterung hat es nicht einmal zur Zeit der deutschen Wiedervereinigung gegeben. Es war dieselbe kollektive Begeisterung, derselbe Aufschwung der Gefühle wie während der orangen Revolution in der Ukraine oder während des arabischen Frühlings in den davon aufgerüttelten Ländern. Aber eigentlich war es noch mehr, denn es ging um uneigennützige Hilfe nicht für das eigene Land, sondern für andere, nämlich für Menschen in Not. So wurde Deutschlands Hilfsbereitschaft in der Welt wahrgenommen.
Zwei Arten der Ethik: Verantwortung und Gesinnung
Mit ihrem Gespür für die Gunst der Stunde erkannte die Kanzlerin, dass sich mit einer solchen Bereitschaft große Politik machen ließ, und zwar gegen jede Kritik und gegen jeden möglichen Gegner. Musste sich nicht jeder, der gegen ihren Aufruf zur Hilfsbereitschaft argumentierte oder gar eine Abwehr der Fremden an den Grenzen verlangte, als moralischen Außenseiter disqualifizieren?
Frau Merkel ging diesmal aufs Ganze – so wie sie es zuvor niemals wagte. Sie lud alle Verfolgten nach Deutschland ein: ausdrücklich alle ohne Begrenzung nach oben. Das war ein Akt der reinen und heißen „Gesinnungsethik“, der allerdings kein geringerer als Max Weber, ein großer, aber skeptischer Deutscher, schon vor einem Jahrhundert die kühle „Verantwortungsethik“ entgegengesetzt hatte. Gesinnungsethik ist unverwässerter Idealismus, wie ihn in reinster Form das Neue Testament beschreibt. Sie verlangt, dass ich bereit bin, auch noch mein letztes Hemd mit dem Notleidenden zu teilen und nicht nur das: Nach einem Schlag auf die rechte soll ich auch noch die linke Backe hinhalten. Der Protestant Helmut Schmidt glaubte sich dafür entschuldigen zu müssen, dass er mit solchen Maximen leider keine Politik machen könne. Er hatte recht: Kein Staat der Erde hat eine derartige Politik jemals betrieben, ohne einen solchen Versuch mit dem eigenen Selbstmord zu büßen (wie so viele militärisch schwache, friedliche Stämme, Ethnien oder Staaten überall auf der Welt, die unter dem Ansturm des expandierenden Europa seit dem 15. Jahrhundert für immer ausgelöscht worden sind).
Die Nötigung Europas durch Deutschland
Frau Merkel löste eine Welle von privater Opferbereitschaft unter den Deutschen aus, aber mit diesem Aufschwung der Gefühle hat die Vernunft keineswegs Schritt gehalten, um es härter zu formulieren: die Verantwortungsethik blieb auf der Strecke. Zunächst einmal hat die deutsche Kanzlerin keineswegs bei den südlichen Nachbarn nachgefragt, bevor sie der Menschenlawine aus Syrien und Nordafrika von höchster Stelle ihren Segen erteilte (Schengen wird aufgehoben). Deutschland pochte eigenmächtig und selbstgewiss darauf, dass es moralisch im Recht und sein Handeln daher vorbildlich sei: Die anderen hätten es gefälligst nachzuahmen und zu befolgen. Die Transitstaaten wurden sozusagen aus dem Norden zur Nächstenliebe verdonnert. Wenn ein kleiner Staat wie Slowenien mit einer Bevölkerung, die nur etwa den vierzigsten Teil der deutschen beträgt, de facto gezwungen wurde, im Vergleich zu Deutschland täglich das Vierzigfache an Flüchtlingen über die Grenze und durch sein Territorium zu schleusen, so interessierte das im Norden eigentlich niemanden. Und ebenso wenig zählten die eher ernüchternden Zukunftsprognosen der Demographen. Diesen ist schon seit einiger Zeit bekannt, dass die größten Metropolen Europas in etwa drei Jahrzehnten von einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung bewohnt und dann natürlich auch beherrscht sein werden. Hätte die Kanzlerin den demokratischen Souverän, das Volk, um seine Meinung gefragt, ob es Europa durch einen unbegrenzten Zustrom neuer Flüchtlinge muslimisch kolonisiert sehen möchte, und zwar noch zu Lebzeiten unserer Kinder, so bin ich ziemlich sicher, dass der Souverän ihr die Zustimmung dazu verweigert hätte. Außerhalb Deutschlands ist man sich jedenfalls nur zu deutlich bewusst, dass große Bevölkerungsteile einer so einschneidenden Zukunftswende mit großen Befürchtungen entgegensehen.
Zäune und der beschleunigte Zerfall der Europäischen Union
Seit 2015 setzt die deutsche Kanzlerin mit ihrer Politik der sperrangelweit geöffneten Tür noch dazu eine gefährliche Nebenwirkung in Kraft: Diese Politik zerrüttet die ohnehin schon gefährdete Einheit Europas, da ganze Staaten und Bevölkerungsteile sich ihr verweigern. Die Zäune, die von Makedonien bis Schweden überall aus dem Boden sprießen und das so mühsam und so unvollkommen vereinte Europa wieder zerreißen, stellen inzwischen eine größere Bedrohung des gemeinsamen europäischen Hauses dar als der dumpfe Populismus der radikalen Rechten. Und diese Zäune und die mit ihr einhergehende Grenzüberwachung sind eine direkte Folge der Merkelschen Politik, welche den Nachbarn der Deutschen die Nächstenliebe aufzwingen will. Das ist keine böswillige Unterstellung, sondern traurige Realität: Ohne das ausdrückliche Versprechen der Kanzlerin, allen politisch Verfolgten in Deutschland Asyl zu schenken, hätte sich die große Menschenlawine nie in Bewegung gesetzt. Denn die Politik der EU gegenüber Einwanderern war ja bis zu dieser Einladung höchst restriktiv. Das wusste man außerhalb Europas, und natürlich wusste man ebenso, dass Europa alle Mittel der staatlichen Gewalt einsetzte, um seine restriktive Politik auszuführen.
Und sind wir mit der bisherigen Einwanderung fertig geworden?
Eine weitere Frage drängt sich dem Verantwortungsethiker noch unabweisbarer auf. Deutschland, Frankreich, alle größeren Staaten Europas beherbergen mehr oder weniger große Anteile muslimischer Einwanderer. Wie weit ist es ihnen, wie weit ist es uns während der vergangenen Jahrzehnte gelungen, sie zu gleich berechtigten, gleich gesinnten Staatsbürgern zu machen? Wohl eher schlecht: So legen es jedenfalls die ethnischen Unruhen in London, Liverpool, Birmingham und Manchester von 2011, die verheerenden Aufstände in den Vorstädten von Paris, Lyon etc. in den Jahren 2005 und 2015 und die sich in jüngster Zeit häufenden Selbstmordanschläge nahe. Immerhin kamen drei der Hauptakteure vom 11. September aus Hamburg; doch ist das nicht einmal der wichtigste Einwand gegen eine leichtfertige Einwanderungspolitik, weil es am Rande der Gesellschaft – jeder Gesellschaft – immer Wahnsinnige gibt und geben wird. Für viel gravierender muss man es, wie ich glaube, erachten, dass große Teile der Einwanderer eben nicht zu gleich berechtigten, gleich ausgebildeten, gleich gesinnten Einheimischen wurden, sondern es in den Großstädten zur Entstehung von neuen Ghettos und Parallelgesellschaften kam, d.h. zu lokalen Fremdengemeinschaften, die eine Integration zumindest teilweise gar nicht mehr wollen (und dabei von einem türkischen Ministerpräsidenten auch noch regelmäßig Schützenhilfe erhalten).
Als wäre eine solche Einsicht nicht schon beklemmend genug, sieht die politische Führung – und das gilt für Links und Rechts etwa in gleichem Maße – nicht etwa in der misslungenen Integration das größte Übel, sondern versteift sich darauf, es in denjenigen zu sehen, die auf den Misserfolg mit mahnendem Finger zeigen. Das Verbrechen des SPD-Mannes Thilo Sarrazin in den Augen all jener, die ihn als Buhmann der Nation beschimpften, bestand eigentlich nur darin, dass er eine Reihe wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zu einem Buch zusammenfasste, worin er der deutschen Öffentlichkeit laut verkündete, was die Elite und die von ihr ausgehaltene Intelligenz auf keinen Fall hören wollen: „Wir haben es nicht geschafft!“
Verantwortungsethik bei Helmut Schmidt
Dem stellte die deutsche Kanzlerin ihren imperativen Schlachtruf entgegen: „Wir werden es schaffen!“ Aber wie kommt sie eigentlich zu der kühnen Überzeugung, dass wir jetzt, wo Menschen in einem einzigen Jahr in größerer Menge zu uns strömen als früher in einem ganzen Jahrzehnt, dasjenige schaffen, was wir in der ganzen vorangehenden Zeit nicht geschafft haben? Vernunft kann unmöglich zu einem solchen Schluss gelangen, hier spricht die Gesinnungsethik, die unbeirrt daran glaubt, dass ein fester Wille durchaus genügt, um die Wirklichkeit zu verändern. Auch der Verantwortungsethiker – ein Mann wie Helmut Schmidt zum Beispiel – ist überzeugt, dass ohne die richtige Gesinnung Politik gewissenlos wird, aber er ist vorsichtig genug, auch mit der Realität zu rechnen, nämlich damit, dass es im eigenen Land außer den gleich gesinnten Idealisten viele andere starke Kräfte gibt, einige, die aus guten Gründen anderer Meinung sind als er selbst, andere die aus schlechten Gründen fremdenfeindlich, reaktionär, borniert oder vielleicht auch schlicht böse sind. Der Verantwortungsethiker weiß, dass selbst die Bornierten und Bösen zu seinem Land gehören. Er hat die Chance, sie zu überzeugen – nicht mehr. Auf keinen Fall darf er so tun, als gäbe es sie nicht, denn dann riskiert er die soziale Spaltung, den inneren Zerfall. Die Frage eines Verantwortungsethikers muss daher immer lauten: Wie weit darf ich in dieser bestimmten Situation noch gehen, wie weit den Lauf der Zukunft mit meiner jetzigen Entscheidung unwiderruflich determinieren, wenn ich damit rechnen muss, im eigenen Land auf längere Sicht unbeherrschbare Spannungen zu erzeugen?
Wie weit darf ich zum Beispiel eine leichtfertige Vermischung der Religionen im eigenen Land riskieren? Denn auch das muss offen ausgesprochen werden: Der Islam ist eine große, eine wundervolle Religion, er ist es ebenso wie das Christentum, der Buddhismus, die Glaubensrichtungen der Hindus. Doch die historische Erfahrung lädt keineswegs nur zur Bewunderung ein. Überall dort, wo Menschen echte Gläubige sind, wenn also der eigene Glaube für sie mehr ist als nur eine Privatsache oder ein Multikulti-Konsumartikel, mit dem man sein Ego ausstaffiert oder auch nicht, überall dort wo Religionen mithin zur kollektiven Identität gehören, waren und sind sie in aller Regel durch entschiedene Intoleranz charakterisiert, und zwar aus verständlichen Gründen: Warum soll man an seiner eigenen Wahrheit festhalten, wenn die der anderen genauso richtig und genauso gut ist?
Der Verantwortungsethiker zieht daraus einen bewährten Schluss. Er weiß, Frieden herrscht auf dem Globus am ehesten dann, wenn jede Religionsgemeinschaft möglichst getrennt von den anderen innerhalb ihrer eigenen Grenzen lebt. Vermischungen haben immer und überall zu Verfolgungen, Vertreibungen, zu ökonomischer Ausbeutung (Dschizya) und gegenseitigen Hassausbrüchen geführt. Jeder halbwegs historisch Gebildete weiß, dass genau dies in einem nie gekannten Ausmaße gerade während des eben vergangenen zwanzigsten Jahrhunderts der Fall war.
Frau Merkel hat sich nie gescheut, die Abgründe der Politik zu akzeptieren
Die deutsche Kanzlerin ist alles andere als eine naive Idealistin; ihr Umgang mit politischen Gegnern hat deutlich gezeigt, dass sie eine durchtriebene Meisterin der Realpolitik ist. In der Realpolitik aber verschafft man sich wenig Glanz, gewiss wird man dort niemals heilig. Hat die Realpolitikerin Merkel etwa etwas gegen die enormen deutschen Waffenexporte getan, die natürlich ihren Teil zum Morden in anderen Ländern beitragen? Hat sie im Namen Deutschlands die Flüchtlingslager rings um Syrien großartig unterstützt, damit die Menschen das Vernünftigste tun, nämlich dort die Rückkehr in ihre Heimat abwarten? Hat sie sich gar gescheut, Herrn Erdogan im Namen der Europäischen Union mit drei Milliarden Euro zu bestechen, damit er die Flüchtlinge nicht nach Europa durchziehen lässt? Dem türkischen Ministerpräsidenten hat sie kniefällig Geld und den Beitritt zur EU angeboten. Selbstverständlich wird in Europa kein Politiker danach fragen, mit welchen Mitteln er die Flucht dann verhindert. Das will hier ja sowieso niemand wissen. Das hat uns auch schon damals nicht interessiert, als Gaddafi und andere Staatshäupter nordafrikanischer Staaten für genau dieselben Dienste bezahlt worden sind. Frau Merkel kennt sich in den Abgründen der Politik bestens aus. Sie weiß, wie man anderen den schwarzen Peter zusteckt. Und sie weiß, dass Realpolitik und Verantwortungsethik eine Gleichung bilden, die einem Staat genau so viel Idealismus erlaubt, wie er ohne eine entscheidende Schwächung der eigenen Interessen riskieren darf, und genau so viel Gewalt, wie zur Bewahrung dieser Interessen notwendig ist. Verantwortungsethik hat immer ein dunkles Hinterzimmer, wo es im besten Fall triste, im schlechtesten Fall auch durchaus schmutzig zugeht.
Der radikale Schwenk
Das alles weiß Angela Merkel, denn sie ist klüger als die meisten ihrer Gegner. Hat sie nicht selbst, kurze Zeit bevor sie die Menschenlawine nach Norden mutwillig lostrat, noch einem weinenden Afghanenmädchen zugerufen, dass es selbst einem reichen Staat wie Deutschland leider nicht möglich sei, alle Notleidenden im eigenen Land aufzunehmen? Dem weinenden Mädchen gegenüber hatte sie sich dabei freilich im Ton vergriffen – für sie eher ungewöhnlich. Diesen Fehler musste sie später bitter bereuen, denn die Presse stürzte sich auf den Lapsus. Damals hatte Frau Merkel sich noch zu einer traurigen Wahrheit bekannt – einer Wahrheit der Verantwortungsethik. Sie war sich so gut wie jeder von uns bewusst, dass Deutschland dem Grenzenlosen so wenig gewachsen ist wie jeder andere Staat dieser Erde.
Wie ist es dann aber zu erklären, dass sie auf einmal und mit allergrößter Entschiedenheit von dieser Einsicht abgerückt ist? Hat Frau Merkel plötzlich begriffen, dass man Glanz nur durch die reine Gesinnung erwirbt und dass sie das absehbare Ende ihrer Kanzlerschaft auf diese Art mit einer weltweit ausstrahlenden Sensation abschließen würde? War die Gesinnung also nicht mehr als ein Feigenblatt, hinter dem sich das nüchterne Kalkül einer Meisterin der realpolitischen Taktik verbirgt? Oder hat die deutsche Kanzlerin wirklich eine Art von persönlichem Erweckungserlebnis durchlaufen? Wir werden das niemals wissen, weil wir nicht in einen anderen Menschen hineinblicken können; im Zweifelsfall müssen wir deswegen von der ehrenhaften Alternative ausgehen, nämlich von der Annahme, dass die Kanzlerin nicht länger ihrer sonst so nüchternen Vernunft gehorchte, sondern ihren spontanen Gefühlen. Wir müssen davon ausgehen, dass nicht nur Zehntausende von unbestreitbar spontan hilfswilligen Deutschen ihren besten Gefühlen der Nächstenliebe gefolgt sind, sondern dass auch die sonst so nüchtern-kalte Machtpolitikerin Angela Merkel plötzlich von diesem Gefühl überwältigt wurde – wohl das erste Mal in ihrer politischen Laufbahn.
Tatsache ist jedenfalls, sie vollzog einen radikalen Schwenk. Sie setzte die uneingeschränkte Einwanderung für Flüchtlinge auf ihr Programm, und ihr nächstes Statement lautete dem Sinne nach nun genau umgekehrt: Wenn die Deutschen das Unmögliche nicht wollen, dann betrachte sie, Angela Merkel, das eigene Land nicht länger als ihre Heimat. Der Sprung der deutschen Kanzlerin von der einen Wahrheit zur anderen, von der Verantwortungs- zur reinen Gesinnungsethik, war atemberaubend in seinem Radikalismus.
Und am Ende die Heiligsprechung
Nochmal: Wie kommt es, dass die Wahrheit von gestern für die Kanzlerin nicht mehr die Wahrheit von heute sein darf? Das hängt mit dem Wesen der Gesinnungsethik zusammen, die per definitionem radikal ist und sein will. Ein guter Mensch darf nicht halb oder dreiviertel gut sein, ein Liebender nicht halb oder dreiviertel lieben. Die echte Hilfsbereitschaft darf daher auch keine Zahl, keine Obergrenze für ihr Engagement angeben. Jede derartige Einschränkung, wie der bayrische Ministerpräsident sie zu Recht einfordert, hätte die Folge, die deutsche Kanzlerin in den Augen der Weltöffentlichkeit wieder auf das politische Normalmaß zurückzustutzen, nämlich auf die Verantwortungsethik. Überall sonst darf sie Abstriche machen: strenge Gesetze gegen sexuelle Belästigungen durchfechten, die Rückführung von Wirtschaftsflüchtlingen ankündigen (obwohl jedem klar sein muss, dass sie hohle Versprechungen macht. Wie will man denn Zehn- oder Hunderttausende von Menschen jeweils in Begleitung von zwei Beamten, einer rechts, einer links mit der Lufthansa wieder in ihr Heimatland führen?). Dem neuen Pascha Erdogan, der die Isis mit Waffen gegen Öl beliefert und damit eine Teilschuld am Terror in Syrien trägt, darf sie hinter den Kulissen sogar in echt machiavellistischer Manier außer Geld auch noch den Beitritt zur EU versprechen. Der Schein eines solchen ganz und gar unheiligen, dafür aber durch und durch realpolitischen Handelns wird sie trotzdem nicht zur Scheinheiligen machen, ihrem Ansehen in den Augen der Öffentlichkeit nicht wirklich schaden – vorausgesetzt, dass sie eines auf keinen Fall tut: Keinen Millimeter darf sie von dem Gesinnungsimperativ der unteilbaren Hilfsbereitschaft abrücken. Sie muss der Welt weiterhin hörbar verkünden „Deutschland nimmt alle Verfolgten auf.“ Denn sie weiß: Wenn sie mit unbeugsamer Hartnäckigkeit an diesem moralischen Grundsatz festhält, dann geht sie in die Geschichtsbücher ein, dann wird sie nach beendeter Kanzlerschaft vielleicht zum neuen UN-Generalsekretär gekürt.
Dann wird Angela Merkel unwiderruflich Sant’Angela sein. Und die Welt hat ein wahrhaft erstaunliches Schauspiel erlebt: Eine mit allen Wassern der Macht- und Realpolitik gewaschene deutsche Kanzlerin hat das Ende ihrer politischen Karriere mit dem geraden Gegenteil gekrönt: einer kompromisslosen Gesinnung, wie man sie sonst nur unter Heiligen trifft. Das wäre nicht nur politisch bemerkens-, sondern es wäre bewundernswert, solange man nicht die jetzt schon absehbaren Folgen bedenkt. Denn kein bisheriger Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hat die Zukunft des eigenen Landes dem Ungewissen so sehr verpfändet wie Angela Merkel. Was wird in zehn, zwanzig Jahren aus Deutschland, was wird aus Europa werden? Bis zu welcher Größe werden die auch heute schon unübersehbaren Fremdenghettos auswuchern? Wo sonst noch werden neue Stacheldrahtzäune Europa in die Vergangenheit zurückkatapultieren? Werden wir den sozialen Frieden erhalten, wenn in einer Zeit abflauender Konjunktur die Zuwanderer die ersten sind, die en masse unter Arbeitslosigkeit leiden? Wie bitter werden wir selbst und nicht zuletzt die in Massen zu uns geladenen Gäste dann dafür bezahlen, dass eine deutsche Kanzlerin sich von der Verantwortungsethik abgewandt hat? Auch eine noch so große Begeisterung für das Gute und Schöne bietet ja leider keine Gewähr, dass alles am Ende auch gut und schön ausgehen wird. Das haben die orange Revolution und der arabische Frühling deutlich genug gezeigt. Doch wer spricht jetzt noch darüber? Wir sind ja Meister im Vergessen und im Verdrängen. Und der deutschen Kanzlerin ist es bisher mit bemerkenswertem Geschick gelungen, die Fragen nach den zukünftigen Auswirkungen ihrer revolutionären Gesinnungspolitik nahezu vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen. Noch scheint eine Mehrheit der Deutschen damit zufrieden zu sein.