Das bekannteste Beispiel für einen Shitstorm aus der jüngeren Vergangenheit liefert „der Fall Sarrazin“. Dieser hatte in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ zu 95% aus einschlägigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen geschöpft, während er sich bei den letzten 5% (seinen Äußerungen über die relative Bedeutung von Umwelt und genetisch bedingter Veranlagung) im Bereich des wissenschaftlichen Kontroversiellen bewegte. Die von ihm benutzten Fachveröffentlichungen hatten allerdings nur ein verschwindend geringes Publikum von Forschern mit ähnlichen Interessen erreicht und blieben deshalb von der Öffentlichkeit praktisch unbemerkt. Vorwerfen konnte man Sarrazin allenfalls, dass er genetisch und kulturell bedingte Unterschiede nicht klar genug voneinander abgrenzt hat. Wie wir heute wissen, erscheint Homo Sapiens seit wenigstens 50 000 Jahren in genetisch unveränderter Gestalt (wobei die genetische Variation innerhalb der großen Gruppen von Schwarzen, Weißen, Chinesen etc. größer ist als zwischen ihnen!). Dagegen hat Sapiens in kultureller Hinsicht die erstaunlichsten Wandlungen erlebt.
Anstößig wurden Sarrazins Thesen erst durch ihre Breitenwirkung; da zeigte sich augenblicklich wie sehr sie gegen die vorherrschende politische Korrektheit verstießen (meisterhaft hat Sarrazin selbst diese Korrektheit als „Tugendterror“ beschrieben). Genauer gesagt, fanden sie großen Anklang bei einer Bevölkerungsmehrheit, die sich durch die Entstehung von Parallelgesellschaften innerhalb der Großstädte Deutschlands mehr und mehr verunsichert fühlt. Politisch inkorrekt waren sie dagegen in den Augen einer Elite, die ein nicht nur begrüßenswertes sondern geradezu notwendiges Ziel durchsetzen wollte, nämlich die Integration der Fremden. Mit richtigem Gespür für den Kern dieser Deutschland damals so aufwühlenden Debatte hatte Kanzlerin Angela Merkel das Buch Sarrazins als „wenig hilfreich“ bezeichnet.
Das traf durchaus zu, wenn man es ernst mit der Verpflichtung meinte, die in Deutschland ansässigen Menschen ausländischer Herkunft wirklich zu gleichberechtigten Bürgern zu machen. Das Bestreben, die Schranken zwischen heimisch und fremd niederzureißen, ist eines der großen Friedensprojekte unserer Zeit. Aber Sarrazin lenkte den Blick darauf, dass kulturelle Unterschiede in ihrer Wirkung so bedeutsam sein können, dass sie sich durch bloßes Wunschdenken nicht überwinden lassen. Ein Buch, welches die Hindernisse vor dem Ziel erfolgreicher Integration so stark unterstreicht wie „Deutschland schafft sich ab“, musste diesen Prozess natürlich zusätzlich erschweren: Es war nicht hilfreich.
Verstand man Sarrazins Werk hingegen als eine Warnung vor unbedachter und leichtsinniger Immigration, dann erfüllte es sehr wohl einen wichtigen Zweck. Das scheinen inzwischen viele Deutsche genauso zu sehen; kaum jemand hält jetzt noch die Arme weit geöffnet, um die ganze Welt aufzunehmen. Dennoch hat sich meines Wissens bisher niemand für den Shitstorm entschuldigt, der Thilo Sarrazin über Nacht im eigenen Land zu einem Geächteten machte. Obwohl Sarrazin bis zur Veröffentlichung seines Buchs als ein führendes Mitglied der Deutschen Bundesbank eine hoch geachtete Stellung in der SPD innehatte, wird die Auseinandersetzung mit seiner Person bis heute so dargestellt, als dürfe man ihn und seine Anhänger pauschal als rechts, unaufgeklärt, fremdenfeindlich und reaktionär diffamieren, während jene, die den Shitstorm gegen ihn inszenierten, als links, fremdenfreundlich, aufgeklärt und progressiv gelten müssten. Tatsächlich hat diese Darstellung mit der Wirklichkeit wenig gemein: Die eigentliche Trennlinie verlief von Anfang an zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den Eliten auf nationaler wie europäischer Ebene – ein aus demokratiepolitischer Sicht durchaus bedenklicher Sachverhalt, der die Gegner Sarrazins aber augenscheinlich niemals zum Nachdenken angeregt hat.
Kulturelle Schranken können sehr groß sein, da ist Sarrazin unbedingt Recht zu geben, aber Kulturen und ihre Menschen sind dennoch auf lange Sicht überaus wandlungsfähig. Man darf nicht vergessen, dass der Islam bis zur Verwüstung Bagdads durch die Mongolen (1258) den Ländern Europas weit überlegen war. Das ist dem ehemaligen Berliner Senator natürlich durchaus bewusst. Anders als wohl die meisten seiner empörten Shitstorm-Kritiker ist er durchaus in der Lage, Fehler einzuräumen, z.B. wenn er den Juden in einer Talkshow ein bestimmtes Gen zuschrieb: „Riesenunfug, was ich auch extrem bedauere. Ich habe aber nichts Falsches gesagt, sondern ich war dabei auszuführen, dass die Unterschiede der muslimischen Migranten zu anderen Migranten eben gerade keine ethnischen Ursachen haben, sie haben im Gegenteil kulturelle Ursachen.“ Nun, vielleicht hatte er da doch etwas Falsches gesagt, aber wenigstens hat er den Fehler zugegeben. Man würde sich wünschen, dass auch die Gegner Sarrazins nachträglich ihre Fehler bedauern. Zu rechnen ist damit allerdings kaum, denn wie der „heilige Prolet“ und „Montaigne Amerikas“ (über ihn mein nächster Aufsatz), Eric Hoffer, es ausdrückt, sind wir am wenigsten bereit, denjenigen zu verzeihen, denen wir selbst ein Unrecht zugefügt haben.*1*
Ein anderer Umstand gibt aber noch größeren Anlass zu Beunruhigung, obwohl das damals die wenigsten auch nur zu sehen schienen. Wenn es nämlich stimmt, dass Sarrazin 95% seines Zahlen- und Faktenmaterials aus einschlägigen wissenschaftlichen Quellen schöpfte und sie „im Großen und Ganzen“ auch richtig benutzte, dann stand in diesem innerdeutschen „Kulturkampf“ letztlich nicht mehr und nicht weniger zur Debatte als die Freiheit der Wissenschaft, deren Wahrheiten es eben manchmal so an sich haben, dass sie weniger hilfreich sind. Die Wirklichkeit, wie sie ist – und die Wissenschaft sie beschreibt – ist eben oft nicht so, wie die Politik sie gern sähe. In autoritären oder gar totalitären Staaten wird in solchen Fällen das Denken gleichgeschaltet, damit Wunschbild und Realität übereinstimmen. Erst kommt dort die Tugend und danach meist der Terror. In demokratischen Staaten war das bisher nicht üblich.
1 In all meinen Büchern bin ich immer für größere soziale Gerechtigkeit eingetreten, einige der schärfsten Angriffe gegen das vorherrschende neoliberale Wirtschaftssystem findet man in meiner nachfolgend genannten Arbeit. Andererseits habe ich mich nie mit jener Linientreue und bonzenhörigen Engstirnigkeit abgefunden, die schon seit Aufkommen der linken Bewegungen mehr bei ihnen als im rechten Lager zu finden war. Man höre und staune: Die Chefredaktion des Standards hielt es für nötig, nach diesem Artikel über Sarrazin das Löschen ihrer Adresse aus meinem Verteiler zu fordern. Dazu muss man wissen, dass dieselbe Zeitung keineswegs davor zurückschreckte, einer offenkundigen Scharlatanerie wie dem Buch von Franz Hörmann über das „Ende des Geldes“ einen euphorischen Artikel zu widmen. Es ist traurig zu sehen, dass Linientreue entscheidet – nicht intellektuelle Redlichkeit, von Niveau ganz zu schweigen.
Auszug aus meinem (bisher noch ungedruckten) Buch: Auf der Suche nach Sinn und Ziel der Geschichte – Leben in der Ära der Streitenden Reiche. Englische Version vorläufig im Netz aufrufbar ( “In Search of Meaning and Purpose in History„).