Zunächst einmal: Schulden sind ein für den Normalbürger kaum noch verständliches Problem. Alle Welt redet darüber, dass Griechenland, Portugal und Irland dramatisch verschuldet seien und auch Spanien und Italien als gefährdet gälten. Doch warum brauchen die USA, vor kurzem noch nahe an der Zahlungsunfähigkeit, sich keine der erdrückenden Auflagen gefallen zu lassen, die Griechenland in den Abgrund reißen?
Und warum hört man zu allem Überfluss aus dem Dunkel auch noch die Kassandras rufen, die selbst die Bonität eines wirtschaftlich so solide erscheinenden Staates wie Deutschland anzweifeln und damit rechnen, dass es bald ebenso von seinen Schulden erdrückt werden wird? Das alles muss den Bürger irritieren. Viele von ihnen stecken nach Vogel-Strauss-Manier deshalb den Kopf in den Sand und wollen von der ganzen Sache nichts wissen.
Entspricht das vielleicht der Absicht der Politik? Hüllt sie das gegenwärtige Geschehen bewusst in den Nebel unverständlicher Begriffe ein (EFSM, ESFS, EMS, Rettungsschirm, EZB-Eingriffe etc.), um den Bürger so einzuschläfern, dass er nichts davon bemerkt, dass in Wahrheit eine Attacke auf sein Geld, seine Spargroschen und seinen Lebensunterhalt stattfindet – die größte Attacke seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts?
Der Staat und die Gläubiger – die einfachste Formel
Versuchen wir doch einmal den umgekehrten Weg einzuschlagen, indem wir die Nebel lüften und das Problem eines hochverschuldeten Staates auf seinen allgemein verständlichen Kern reduzieren! Ich sehe deswegen ganz davon ab, dass es Zehntausende von Investoren gibt (Versicherungen, Pensions- und Hedgefonds, Banken, Privatanleger und Spekulanten). Ebenfalls sehe ich darüber hinweg, dass Staatspapiere mit unterschiedlichen Laufzeiten und Zinssätze gehandelt werden. Stattdessen gehe ich von einem einzigen Investor und einer Laufzeit der Staatsschuldscheine von zehn Jahren aus. Wenn der betreffende Staat jedes Jahr seine Schulden vermehrt (laufendes Budgetdefizit größer als Null), dann ist er gezwungen, die schon aufgelaufenen Schulden bei ihrer Fälligkeit mindestens mit einer gleich hohen Summe neu aufzunehmender Schulden zu bezahlen (Rollover). In unserem vereinfachten Beispiel läuft das demnach darauf hinaus, dass ein einziger Investor alle zehn Jahre sein an den Staat verliehenes Geld von diesem zurückerhält, um es sogleich neuerlich an den Staat zurückzugeben, denn für ihn handelt es sich ja um überflüssige, seinen normalen Konsum übersteigende Mittel. Es geht ihm einzig darum, diese Mittel so anzulegen, dass sie Gewinn einbringen. Hätte der Investor den gleichen Betrag in Immobilien angelegt, so würde er statt Zinsen eine Miete in entsprechender Höhe beziehen.
Wir können das Verhältnis von Staat und Investoren sogar noch weiter vereinfachen, indem wir auch das regelmäßige Rollover der Schulden ausklammern (also ihre alle zehn Jahre erfolgende Rückzahlung durch den Staat und die neuerliche Einzahlung des Betrags durch unseren Investor). Dann haben wir das Verhältnis von Staat und Gläubigern auf einfachste Art beschrieben und erhalten eine exakte Parallele zur Anlage in Immobilien. Unser einziger Investor stellt dem Staat eine Summe zur Verfügung, die er Jahr um Jahr weiter aufstockt, und erhält dafür eine ewige und mit jedem Jahr steigende Rente.
Keine Neuverschuldung? Aber damit ist es längst nicht mehr getan
Dieser Investor hat allen Grund, mit der Situation zufrieden zu sein, solange der Zinssatz stimmt und die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Staates über jeden Zweifel erhaben ist. Dann ist er sogar sehr interessiert daran, dass die Staatsverschuldung mit jedem Jahr wächst, weil er dann eben auch jedes Jahr ein größeres leistungsloses Einkommen bezieht. Auch der Staat könnte zufrieden sein, wenn er die Verschuldung für lohnende Investitionen genutzt hat, Investitionen, die zu einem Wachstum der volkswirtschaftlichen Leistung und damit zu einer im Verhältnis zu dieser abnehmenden Schuldenlast führen. Eine solche abnehmende relative Schuldenlast bietet sich geradezu als Kriterium für die Sinnhaftigkeit staatlicher Schulden an. Staatsinvestitionen sind also immer dann als Erfolg zu bewerten, wenn das dadurch stimulierte Wirtschaftswachstum über dem Wachstum der Schulden liegt. Dasselbe Kriterium gilt ja analog für ein verschuldetes Unternehmen.
Danach zu urteilen, war die bisherige Staatsverschuldung durchaus kein Erfolg. Während des vergangenen halben Jahrhunderts hat sich die Schuldenlast im Verhältnis zur volkswirtschaftlichen Leistung stetig vergrößert. Meines Erachtens lässt sich daraus nur eine einzige Folgerung ziehen. Der Großteil dieser Schulden war sinnlos. Das ist keine neue Erkenntnis. „Die von 1970 bis 1997 von 124 auf 2.300 Mrd. DM und damit auf das 19fache angestiegenen deutschen Staatsschulden, haben dem Staat so gut wie keinen Zugewinn an Ausgabemöglichkeiten gebracht. Die Summe entspricht ziemlich genau dem Betrag, den er gleichzeitig für fällige Zinsen entrichten musste. Diesen Zusammenhang hat der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Manfred Overhaus, Anfang 1999 deutlich zum Ausdruck gebracht: ‚Mit den Krediten von heute begleicht der Staat immer nur die Zinsen von gestern – auf Kosten der Generation von morgen’“ (Die Zeit, 14.1.1999).
Viele dringen daher auf eine Rückführung der Neuverschuldung (des Budgetdefizits) auf Null und sehen darin eine gigantische Leistung, so als wäre allein damit schon eine entscheidende Wende erreicht. Doch das ist ein Irrtum. Der schon bestehende Schuldenberg setzt ja weiterhin eine Bedienung mit Zinsen (Steuergeldern) voraus – und zwar für immer und ewig, sofern die Wirtschaft nicht vorher zusammenbricht. Würde es wirklich gelingen, die Ausgaben den Einnahmen anzupassen (Neuverschuldung gleich Null), so wird damit nur eine weitere Vergrößerung des Übels vermieden, also die Rente für unseren Investor nicht noch weiter erhöht. Ohne ein Wachstum der Wirtschaft im Verhältnis zu den bestehenden Schulden oder eine Abnahme dieser Schulden bei gleichbleibender Wirtschaftsleistung bleibt aber das Hauptübel bestehen. Auf ewige Zeit müssen die Steuerzahler eine Abgabe an ihre reichsten Mitbürger entrichten – im laufenden Haushalt der Bundesrepublik Deutschland macht das bereits ein Siebtel der Ausgaben aus und den zweitgrößten Posten nach dem Rentenzuschuss.
Frieden mit der Natur oder Frieden mit der Gesellschaft?
Das ist eine höchst unangenehme Wahrheit, welche die Politik vor ihren Bürgern geflissentlich verbirgt. Denn diese Wahrheit besagt ja nichts anderes, als dass schon bei einem im Verhältnis zum BIP gleichbleibenden Schuldenstand die Bevölkerung in zwei Hälften gespalten wird: eine Mehrheit, die mit ihren Steuern ewig zu zahlen hat, und eine Minderheit, die auf ebenso unabsehbare Zeit leistungsloses Einkommen von eben dieser Mehrheit bezieht. Würde die Bevölkerung darüber aufgeklärt, so würde sich jeder nüchtern denkende Mensch alsbald die Frage stellen, wie lange ein solches Spiel überhaupt gut gehen kann?
Die Antwort würde beruhigend ausfallen, wenn die Zinsen bei Null liegen könnten. Dann brauchten wir uns überhaupt keine Sorgen zu machen. Unser einziger Investor würde sich so verhalten, als hätte er sein Geld in Immobilien gesteckt, ohne dass er dafür eine Miete bekommt. Er hätte sein Geld also verschenkt. Unter diesen Bedingungen könnte der Staat sich jedes Jahr immer stärker und dennoch gratis verschulden. Allerdings hätte er seine Rechnung dann ohne den Wirt, nämlich unseren Investor, gemacht. So wenig es Anleger gibt, die ihr Geld dauerhaft in Immobilien versenken, die keine Mieten erbringen, so wenig finden sich Käufer von Staatsobligationen, wenn sie dafür keine Zinsen erhalten.
Genau hier verbirgt sich daher die tickende Zeitbombe des Staatsschuldenproblems. Der Staat bezahlt die Zinsen für seine Schulden mit den Steuern der Bevölkerungsmehrheit – eine andere Einnahmequelle besitzt er nicht. Wachsende Schulden kann er daher auch nur mit wachsenden Steuereinnahmen begleichen. Diese aber setzen eine wachsende Volkswirtschaft voraus. Mit anderen Worten: Ein perpetuum mobile wachsender Staatsverschuldung setzt das perpetuum mobile einer ewig wachsenden Wirtschaft voraus. In dem Augenblick, wo das Wachstum nachlässt oder auch nur hinter der Höhe der Neuverschuldung zurückbleibt, droht ein Systemkollaps. Da niemand behaupten wird, dass es in einer endlichen Welt so etwas wie ewiges Wachstum geben könne, läuft jede ungebremste Neuverschuldung mit mathematischer Notwendigkeit auf den Kollaps hinaus.
Der findet gegenwärtig in Griechenland statt. Alle Investoren mit griechischen Staatspapieren sind hektisch bemüht, diese möglichst schnell abzustoßen, denn niemand hält ein entsprechendes Wachstumswunder für möglich. Griechenland müsste mindestens so hohe Wachstumszahlen erzielen wie China, um die Zahlungsunfähigkeit abzuwehren. Stattdessen wird es durch den aufgezwungenen Sparkurs in eine galoppierende Rezession getrieben…
Auf einmal sitzt der Staat höchst ungemütlich zwischen zwei Stühlen
Das Balkanland ist kein Sonderfall, doch auch diese Wahrheit wird den Bürgern geflissentlich vorenthalten. Jeder Staat, der sich stetig immer höher verschuldet, rückt bei nachlassendem Wirtschaftswachstum näher und näher an die Grenze des Systembruchs heran. Das erklärt die weltweite Aufregung unter den Investoren und die plötzlich aufkommende Panik in den Staaten der Europäischen Union. Der verschuldete Staat, der bis dahin das von den reichsten Bürgern geliehene Geld als bequemes Mittel einer populistischen Politik des Geschenkemachens einsetzte (und ganz selten auch für wirklich notwendige und lohnende Investitionen), entdeckt mit Entsetzen, das er sich überaus unbequem zwischen zwei Stühlen gesetzt hat. Einerseits muss er die Profit- (Zins-)ansprüche unseres Investors befriedigen. Tut er das nicht, dann weigert sich dieser, die alte Schuld bei ihrer Fälligkeit mit einer neuen, mindestens gleich großen Tranche zu bezahlen. Er legt sein Geld lieber in schnell wachsenden Schwellenländern an oder erwirbt Sachwerte wie Ländereien, Immobilien, Firmen etc. Das heißt, er steigt aus und führt dadurch augenblicklich eine Bruchlandung des Systems herbei. Das muss der Staat um jeden Preis vermeiden, weil ihm dann dasselbe Schicksal wie Griechenland droht.
Mit anderen Worten, er muss die Gläubiger zufrieden stellen. Andererseits kann der Staat aber die Bevölkerung, die für den Profitanspruch unseres Investors aufkommen soll, nur solange mit höheren Steuern belasten, wie das Wachstum der Wirtschaft dies zulässt. Also muss er um jeden Preis Wachstum erzwingen. Unnachsichtig lässt er die Wachstumspeitsche über der Bevölkerung knallen, gleichgültig ob diese immer noch mehr arbeiten kann oder will, und gleichgültig auch, ob die Natur dabei zugrunde geht oder nicht. Daher die unerträgliche Schizophrenie heutiger Politik. Weltweit warnen immer mehr Experten vor einer dramatischen Überforderung der natürlichen Grundlagen. Schon jetzt liege unser Naturverschleiß weit über dem für ein nachhaltiges Wirtschaften verträglichen Maß. In zahlreichen Expertisen wird beschwörend von „fünf vor zwölf“ gesprochen. Jede Politik, die auf eine weitere Erhöhung des Güterumsatzes abzielt, läuft damit auf ein Todesurteil für die Natur hinaus. Doch auf diesem Ohr ist die Politik, wenn es ums Wachstum geht, weitgehend taub. Im Zweifelsfall ziehen alle Parteien an einem Strang, um das politische System vor dem Kollaps zu bewahren.
Wie Odysseus steuern wir hilflos zwischen Scylla und Charybdis. Propagieren wir ökologische Nachhaltigkeit, dann müssen wir dem Ungeheuer eines ewigen Wachstums ausweichen und beschleunigen dadurch den Zusammenbruch unserer derzeitigen politisch-ökonomischen Ordnung. Steuern wir aber weiterhin auf das Ungeheuer ewiger Verschuldung zu, so sind wir zu ewigem Wachstum gezwungen und führen die Zerstörung der natürlichen Grundlagen unseres Lebens herbei (im Einzelnen in meinem Buch Das Pyramidenspiel beschrieben).
Staatsverschuldung zerstört darüber hinaus den inneren Frieden
Und dieses Dilemma beschreibt noch nicht einmal die ganze Dramatik der Situation. Jener alleinige Investor, den wir der Einfachheit halber an die Stelle eines ganzen Heers von Gläubigern setzten, repräsentiert in Deutschland etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Die mit ihren Steuern für seinen Profit aufkommende Mehrheit bildet die restlichen 90%. Würde die volkswirtschaftliche Wachstumsrate genau der Zinsrate der Gläubiger entsprechen, dann könnte die gesamte Bevölkerung wohlhabender werden – die Mehrheit durch Arbeit, eine Minderheit von 5 bis 10%, indem sie einfach die Hand aufhält und den mit den Steuern der Mehrheit erwirtschafteten Zinssegen kassiert. Doch die Zinsen für Staatspapiere lagen in Deutschland fast durchwegs über der Wachstumsrate, eine Minderheit ist daher durch Geldverleih, also durch Nichtstun, relativ immer reicher geworden, eine Mehrheit durch Arbeit relativ ärmer. Oder deutlicher gesagt: Durch Verschuldung trägt der Staat aktiv dazu bei, die Bevölkerung zu polarisieren. Er vergrößert das soziale Gefälle. Ein deutscher sozialdemokratischer Finanzminister hat diese Entwicklung mit ungewöhnlicher Deutlichkeit auf den Punkt gebracht: „Nichts ist so unsozial wie ein überschuldeter Staat, nichts trägt mehr zur Umverteilung von unten nach oben bei“ (Hans Eichel).
Eine in Arm und Reich polarisierte Bevölkerung wird zur Bedrohung für die politische Stabilität. Am meisten haben sich davor jene zu fürchten, welche die Profiteure dieses Systems sind, also die genannten fünf bis zehn Prozent der Privilegierten. Die einfachste und zugleich die klassische Art der Entschuldung – und damit der Rückkehr zu einem Zustand der Stabilität – bestand ja immer schon darin, dass die Mehrheit irgendwann rebellierte, weil sie die Last nicht länger zu tragen vermochte. Dann werden die reichen Gläubiger gewaltsam enteignet. In unserem Fall würde das bedeuten, dass unser Investor zum Datum der Fälligkeit die dem Staat geliehene Summe einfach nicht mehr zurückerhält. Der Staat hätte sich mit einem Schlag all seiner Schulden entledigt, der Investor mit einem Schlag sein gesamtes Guthaben eingebüßt. Gewonnen hat die überwältigende Bevölkerungsmehrheit, verloren hat eine Minderheit. Dieses Rezept wurde in Rom angewendet und ebenso immer wieder in späteren sozialen Revolutionen und Kriegen. Der Preis für eine solche Maßnahme ist allerdings hoch, denn die geltende Ordnung wird dabei mutwillig außer Kraft gesetzt. Die Investoren haben ja kein Unrecht getan, sondern lediglich die für alle geltenden Spielregeln des Systems angewendet. Das letztere ist schuld – nicht einzelne Individuen. Gewaltsame Enteignungen führen regelmäßig zu Bürgerkriegen.
Doch es liegt auch ein Versagen der Gläubiger vor
Dennoch ist kein soziales System auf Dauer lebensfähig, das eine Minderheit relativ immer reicher und eine Mehrheit relativ ärmer macht. Zumal das ökonomische Ungleichgewicht ein politisches nach sich zieht. Die Regeln werden jetzt durch entsprechenden Druck vonseiten der immer mächtigeren Minderheit zu deren Gunsten verändert – und hier setzt dann auch eine wirkliche Schuld der privilegierten Minderheit ein. In den vergangenen zwanzig Jahren hat diese Machtverschiebung deutliche Fortschritte gemacht, und zwar in Gestalt der Globalisierung. Die bis in die neunziger Jahre bestehenden Kapitalverkehrskontrollen hatten es unserem Gesamtinvestor bis dahin sehr schwer gemacht, das eigene Geldkapital im Ausland in Sicherheit zu bringen oder ohne Genehmigung der Regierung im Ausland zu investieren. Deshalb musste er mit seinen Zinsforderungen gegenüber dem deutschen Staat Zurückhaltung üben. Damit ist es seit der vollständigen Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen vorbei. Unser Investor ist jetzt in der Lage, den deutschen Staat unter Druck zu setzen. Stellt dieser ihn nicht mit einem ausreichend hohen Zinssatz zufrieden, dann setzt er sich eben ins Ausland ab. Unser Investor ist nicht nur unangreifbar geworden – mit Einwilligung einer blind in diese Falle getappten Politik hat er sich inzwischen zum Herrn des Staates und seiner Bevölkerung gemacht. Jetzt ist er es und er vor allem, der diesem die Bedingungen diktiert, unter denen er noch bereit ist, die staatlichen Schulden zu refinanzieren und das Gemeinwesen so vor dem Kollaps zu bewahren. Er ist es, der den Staat zu beständigem Wachstum zwingt – bis hin zur völligen Naturzerstörung. Er ist es ebenso, der den Graben zwischen Arm und Reich immer weiter vertieft. Unser Investor hat sich außerhalb des Staates, jeden Staates, gestellt. Zusammen mit seinem Sprachrohr, den internationalen Rating-Agenturen, ist er zur beherrschenden Macht des Globus und des neuen Jahrhunderts aufgerückt.
Der Tragödie letzter Akt: Der vorausgesagte Systembruch tritt ein
Doch auch diese überragende Machtposition wird ihm letztlich nicht helfen. Was unser Investor auch zum Schutz seines Eigentums unternimmt – auch er kommt nicht gegen das Grundgesetz der Ökonomie an, wonach man nur eine wirklich vorhandene Leistung anzapfen kann. Wenn Mieter nicht länger imstande sind, ihren Mietzins an den Hauseigentümer abzuführen, z. B. weil sie arbeitslos sind, dann nützt es dem letzteren überhaupt nichts, sie auf die Straße zu setzen, wenn er keine anderen zahlungskräftigen Bewohner mehr findet. Nicht anders verhält es sich, wenn das Wachstum eines Staates auf Null zurückgeht oder eine Rezession gar das Volkseinkommen verringert. Unserem Investor nützt es in diesem Fall gar nichts, weiterhin drei Prozent realer Zinsen zu fordern. Wenn die Steuereinnahmen schrumpfen, kann der Staat seine Forderung nicht länger bedienen. Der Immobilienbesitzer wird sein Haus in einem solchen Fall schnell verkaufen – und genau das wird auch unser Investor versuchen. Er besitzt eine Staatsobligation, die in Griechenland auf einen nominellen Gesamtwert von 160% der gesamten volkswirtschaftlichen Jahresleistung ausgestellt ist, in Deutschland liegt sie mit 80% für erste noch darunter. Unser Investor weiß, dass der Steuerstrom aufgrund mangelnden Wachstums versiegt und daher bald nicht mehr ausreichen wird, um seine Renditeerwartungen zu erfüllen. Sobald dieser Zustand eintrifft, zuckt er zusammen. Auf einmal wird ihm bewusst, dass sein Papier so wenig wert ist wie eine Immobilie, die keinen Mietzins mehr bringt. Also geht er jetzt genauso vor, wie der Immobilienbesitzer und jeder andere, der totes Kapital abwirft. Er will das Papier so schnell wie nur möglich verkaufen.
Das ist der Moment des Systemkollapses. Im gleichen Augenblick, wo unser Investor – die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung – sich dazu entschließt, setzt der letzte Akt der Tragödie ein.
Bruchlandung – der Beginn einer chaotischen Entwicklung
Denn es ist ja offensichtlich, dass ein Staat, der mit seinem Steueraufkommen nicht einmal mehr in der Lage ist, für die Bedienung der Zinsen aufzukommen, erst recht nicht imstande ist, unserem Investor das Papier in Höhe des jährlichen Volkseinkommens abzukaufen. Verfügt der Staat noch über hinreichend eigenes Eigentum wie öffentliche Verkehrsmittel, Elektrizitäts-, Stahlwerke usw., so kann er – wie Margaret Thatcher in den 80er Jahren – die Forderungen durch deren Privatisierung zumindest teilweise befriedigen. Doch staatliches Eigentum lässt sich nur ein einziges Mal verscherbeln. Diese Möglichkeit ist heute weitgehend ausgeschöpft. Griechenland müsste schon seine Inseln hergeben, aber das ist wohl ohne Kriege kaum denkbar ist.
Deshalb hat unser Investor nun wirklich Grund, aufs höchste beunruhigt zu sein. Es drängt sich ihm zum ersten Mal der ungeheuerliche Verdacht auf, dass er sein Eigentum niemals zurückerlangt, weil das ohnehin gar nicht möglich ist, denn dieses Geld ist ja längst verbaut, verschenkt, verbraucht. Diese verspätete Einsicht erschüttert das Fundament unserer politischen und sozialen Ordnung, denn die Verfassung setzt ausdrücklich die Unantastbarkeit des Eigentums fest. Wie jeder andere Bürger, der ein Haus, ein Grundstück, ein Sparbuch sein eigen nennt, hat unser Investor ein verbrieftes Recht auf Bewahrung und Rückerstattung. Doch jetzt zeigt sich, dass nicht irgendein säumiger Zahler, nicht eine in den Bankrott geschlitterte Bank, sondern der Staat selbst die von ihm verfassungsmäßig zugesicherten Rechte nicht zu erfüllen vermag. Er selbst höhlt die Rechtsordnung aus, auf der seine Glaubwürdigkeit bis dahin beruhte. Er ist im Begriff, in eine selbstverschuldete Katastrophe zu schlittern. In ihren Auswirkungen ist diese nicht weniger dramatisch als wenn brandschatzende Diebeshorden, ungehindert von Polizei und Justiz, über das Land ziehen und das Eigentum der Bürger an sich reißen oder mutwillig zerstören. Zwar ist es richtig, dass sich ein Großteil dieser Eigentumsforderungen bei einer Minderheit konzentriert, die ohnehin im Überfluss lebt. Doch einerseits wird deren Eigentum von unserer Rechtsordnung genauso garantiert wie das jeden anderen Bürgers. Andererseits ist aber auch das Eigentum kleiner Sparer betroffen. In ihren Portefeuilles halten Pensionsfonds, Versicherungen und Banken große Mengen an Staatspapieren. Der Verdacht, dass dieses Eigentum niemals wieder eingelöst werden kann und deshalb verloren ist, beginnt die staatliche Ordnung insgesamt in Frage zu stellen und die Wirtschaft zu lähmen.
Rette sich wer kann!
Und mit dieser wenig erfreulichen Aussicht verabschieden wir uns vom Bild unseres einzigen Investors und kehren zur Realität zurück, die in Wirklichkeit ja aus einem ganzen Heer von großen und kleinen Anlegern besteht. Von diesen versucht nun jeder einzelne, so viel wie möglich vom Eigenen zu retten. Die großen Fonds wetteifern darin, ihre Papiere abzustoßen, im Interbankenhandel misstraut jede Bank der anderen, sodass keine von ihnen ihr Geld mehr der anderen leiht, sondern dieses lieber bei der Zentralbank parkt. Wenn die Zentralbank die Staatspapiere nicht „monetarisiert“, das heißt mit gedrucktem Geld, also mit Inflation bezahlt (und damit alle Bürger schleichend enteignet), fällt ihr Wert in kurzer Zeit ins Bodenlose. Auf den Aktienmärkten macht sich Panik breit, die Kurse sinken, weil die Lähmung nach kurzer Zeit von der Finanz- auf die Realwirtschaft überspringt. Schließlich – und das ist der Endpunkt, der sich in Griechenland bereits angebahnt hatte – setzt der berüchtigte Run auf die Banken ein. Jeder will sein Eigentum möglichst in Sicherheit bringen. Doch bei den Banken lagert bekanntlich nur so viel Geld wie jemand anders dort gerade eingezahlt hat (weil die Ersparnisse der Bürger umgehend an Investoren weitergereicht werden, nur in der Realwirtschaft kann sich Geld ja vermehren). In einem solchen Ernstfall kann daher nur noch die Notenbank helfen, der „lender of last resort“. Diese bedruckt also fleißig Papier, doch damit hilft sie in Wahrheit niemandem mehr, denn dieses Papier ist mit jedem Tag weniger wert. Alle Staatsbürger werden enteignet, die oberen zehn Prozent (sofern sie sich nicht rechtzeitig in Realbesitz flüchteten) und die Bevölkerungsmehrheit. Die letztere aber, wie immer, weit mehr als die Bessergestellten, denn wer zuvor schon wenig hatte, der hat jetzt nichts mehr.
Rettungsschirme reißen auch die Retter mit in den Abgrund
Dies ist die Situation innerhalb eines Staates, wenn diesem nicht von außen geholfen wird. Ist eine solche Hilfe in Gestalt eines Rettungsschirms vorhanden (mag dieser nun EFSM, ESFS, EMS oder wie immer heißen), so ist es möglich, die Zinsen für die Gläubiger oder sogar deren eingelegtes Kapital von außen zu garantieren. Angenommen 16 der 17 Euroländer würden ein kräftiges Wachstum aufweisen und dieses würde sich über unbegrenzte Zeit aufrechterhalten lassen, so wäre die Rettung Griechenlands überhaupt kein Problem. Doch wie verhält es sich damit, wenn ein solches Wachstum eine bloße Chimäre ist – und für die Umwelt sogar ein Verhängnis? Dann sieht die Sache ganz anders aus. Denn dann haben jene Staaten, die diesen Rettungsschirm in welcher Form auch immer aufspannten, nur dafür gesorgt, dass sie selbst umso schneller an jener Klippe enden, die jede stetig ansteigende Schuldenkurve (bei fehlendem oder auch nur nachlassendem Wachstum) mit mathematischer Gewissheit abstürzen lässt. Deutschland und alle Länder und politischen Parteien, die für den erweiterten Rettungsschirm votieren, haben nichts Böses getan. Im Gegenteil, sie haben ihre Solidarität mit den schwachen Ländern Europas bekundet. Das ist ihnen hoch anzurechnen. Aber das Unheil wird dadurch nicht abgewehrt. Vielmehr wird es nun auch für Deutschland um einige Zeit schneller kommen. Möglicherweise schon bald. Die Piranhas, die wir mit dem harmlosen Ausdruck „Märkte“ bezeichnen, wittern schon Blut.