Es hat keine Siegesparaden gegeben, keine Salutschüsse, keine großartigen Feiern und Reden über den großen historischen Moment. Den Boulevardzeitungen war das Ereignis allenfalls eine Randnotiz wert, und die Politik war mit Sommerlochthemen beschäftigt.
Das wohl bedeutendste Ereignis des vergangenen halben Jahrhunderts wurde schlicht übersehen. Europa ist über Nacht und in aller Heimlichkeit schwarz-rot-gold geworden. Seit dem Europa-Gipfel vom 21. Juli 2011 könnte es von Berlin aus regiert werden.
Dass eine so einschneidende Wende gewissermaßen durch die Hintertür eingeführt werden konnte, hat durchaus verständliche Gründe. Der eine heißt ESFS, die Abkürzung für „Europäische Finanzstabilisierungsfazilität“. Es ist ein sperriger Begriff, der auf den Normalbürger eher abschreckend wirkt. Dieser Fonds ist als das europäische Gegenstück zum IWF (Internationalen Währungsfonds) gedacht. Er soll notleidende Staatspapiere mit einem Abschlag in ESFS-Papiere umtauschen, welche eine gleich gute Bonität wie deutsche Staatsanleihen besitzen. Das ermöglicht dem Fonds eine problemlose Kapitalaufnahme. Zur gleichen Zeit wird den Staaten, die durch Überschuldung ins Schlingern geraten, finanzielle Unterstützung gewährt, jedoch unter Bedingungen, die der Fonds definiert. Hierin liegt der zweite Grund für den eher heimlichen Übergang zu einer von Deutschland beherrschten Wirtschaftsregierung. Der Fonds ist eine private Bank. Sie ist weder in den Europäischen Verträgen vorgesehen noch innerhalb der Brüsseler Institutionen angesiedelt. Der Fonds wird von einem deutschen Direktor (Klaus Regling) geleitet, und Deutschland setzt auch die Bedingungen fest, unter denen Griechenland, Irland, Portugal und andere mögliche Pleitekandidaten künftig finanzielle Unterstützung erhalten.
Was das konkret bedeutet, lässt sich an den derzeitigen Vorgängen in Hellas ermessen. De facto hat das Land seine Souveränität eingebüßt. Im Gegenzug für die gewährte finanzielle Hilfe empfängt es seine ökonomischen und politischen Vorgaben aus dem Norden.
Die Einigung Europas ist bis dato mehrfach fehlgeschlagen. In den vergangenen zweihundert Jahren hatte Napoleon den ersten Versuch unternommen. Mit Waffengewalt sollte die Einheit erzwungen werden. Hitler unternahm den zweiten Anlauf, der nur Grauen erzeugte und nicht weniger erfolglos blieb. Nach dem Krieg trieb die Angst vor weiterem Blutvergießen die ehemaligen Feinde zu einem Vergleich. Man wollte es auf indirektem Wege über die wirtschaftliche Verflechtung versuchen. Die beiden stärksten Mächte des Kontinents verfolgten dabei abweichende Wege. Frankreich verlor das Ziel, in Europa zur herrschenden Macht zu werden, nie aus dem Auge. Es glaubte sich dabei durch eine welthistorische Mission gestärkt: Als eine der Wiegen der Demokratie wollte es französische Sprache und Kultur über den Kontinent verbreiten. Diesem Selbstverständnis entspricht es, dass Chirac anlässlich eines Auftritts in der Berliner Humboldt-Universität die Studenten fragte, warum sie denn nicht überhaupt französisch sprächen. Frankreich besitzt bis heute großes Geschick darin, in allen Gremien europäischer Institutionen überproportional repräsentiert zu sein. Dasselbe gilt für den Gebrauch der französischen Sprache.
Die Deutschen hingegen fürchteten sich vor sich selbst. Sie suchten Europa, um sich darin zu verbergen. So taten sie sich lange Zeit als die bereitwilligen Zahlmeister der Union hervor. Bis zu Gerhard Schröder hatten sie niemals gemurrt, dass sie für Europa bei weitem die größten Lasten trugen. Dennoch wuchs Europa nach dem Ende der Ära Kohl nicht mehr enger zusammen. Frankreich und Deutschland begannen eigene Wege zu gehen und sich zu entfremden. Auch der immer wieder auflebende Versuch, über gemeinsame europäische Verteidigungsanstrengungen näher zusammenzurücken, brachte keinen wirklichen Fortschritt. Es fehlte – glücklicherweise – der gemeinsame Feind, den es bis zum Fall des eisernen Vorhangs noch gegeben hatte. Nach Auflösung der Sowjetunion geriet die allgemeine Wehrpflicht in Zweifel, schließlich wurde sie schrittweise abgebaut. Der Einführung des Euro und einer weitgehenden wirtschaftlichen Verflechtung zum Trotz drohte die Union an den immer stärker divergierenden Eigeninteressen ihrer Mitgliedsländer zu scheitern.
Doch plötzlich stand der gemeinsame Feind vor der Tür da! Er kam über Nacht und aus dem Nichts, und niemand hatte mit ihm gerechnet. Unter Feind stellte man sich bis dahin eine Macht vor, wie es etwa die Sowjetunion war, eine hochgerüstete Macht, der man nur mit den größten gemeinsamen Anstrengungen standhalten könnte. Eine derartige äußere militärische Bedrohung war zu Beginn des 21. Jahrhunderts nirgendwo auszumachen. Der islamistische Terrorismus kam für eine solche Rolle nicht ernsthaft in Frage. Gegen die Fundamentalisten half kein gemeinsames Heer, allenfalls eine bessere Vernetzung der Nachrichtendienste.
Es ist schon erstaunlich, wie uns die Geschichte immer von neuem zum Narren hält! Wir sehen sie niemals voraus. Schon gar nicht die sogenannten Experten. Der Feind, der plötzlich da war und der die Einigung Europas unter deutscher Führung erzwang, kam ohne Ankündigung, ohne Voransage, ja ohne jede Warnung. So gut wie niemand hatte ihn bis dahin sonderlich beachtet oder gar seine außerordentliche Macht erkannt. Der Feind: das waren keine Bataillone, keine Generäle, keine menschenähnlichen Dämonen. Es war eine anonyme Instanz – die Märkte.
Die Märkte rissen Irland und Griechenland über Nacht in den Abgrund. Wir wissen inzwischen: Die Märkte sind stark genug, um das genauso mit Portugal, Italien, Spanien oder Ungarn zu tun. Schon der Schlag, den der unsichtbare Feind den Griechen versetzte, reicht in seiner Wirkung ebenso weit wie ein militärischer Überfall. Ein Zusammenbruch des dortigen Bankensystems wäre ein Tsunami, der die gesamte Wirtschaft des Landes erst einmal hinwegfegt und Griechenland von einem Tag in den anderen in bittere Armut stürzt.
Dieser Feind stand plötzlich vor den Toren Europas, und es gab nur zwei Alternativen, um auf die Attacke zu reagieren. Entweder man überließ Griechenland und andere Pleitekandidaten ihrem Schicksal, jeder rettet die eigene Haut. Dann war es mit dem Euro, der Union und überhaupt dem europäischen Traum zu Ende. Oder die wirtschaftlich stärkste Macht, Deutschland, musste die schwächeren retten und würde, statt wieder zum Zwergstaat zu werden, auch die eigene Weltstellung bewahren.
Deutschland wählte den zweiten Weg – aber unter Bedingungen, die es selbst bestimmt. In der Zeit einer existenziellen Gefährdung der Union hat es seine Solidarität mit Europa bekundet.
Das ist nicht weniger als ein historischer Augenblick, aber die Deutschen sind die letzten, die sich in Feierstimmung befinden. Es ist gerade so, als wollte die Geschichte sich in diesem Fall vor sich selbst verkriechen. In Deutschland hat man die plötzliche Vormachtstellung weder gesucht, noch will man darüber reden. Die Deutschen hätten es viel lieber gesehen, wenn der äußere Feind – die Märkte – sie nicht überrumpelt und zu schnellem Handeln gezwungen hätte. War Angela Merkel denn bis dahin durch besonderes Engagement für Europa aufgefallen? Gewiss nicht. In dieser Hinsicht verhielt sie sich als ein empfindlicher Seismograph, der die Schwingungen in der Bevölkerung getreulich registriert. Europa war bei den Großparteien kein Thema mehr. Europa hatte allgemein schlechte Umfragewerte. Erst der äußere Feind – die Märkte – haben aus Europa urplötzlich wieder ein Thema, aber ein höchst ungelegenes Thema, gemacht. Wider den eigenen Willen wurde Deutschland an die Spitze der Union katapultiert, weil die Rettung vor dem übermächtigen Feind eine wirtschaftliche Kraft erfordert, die Europa nur mit Hilfe Deutschlands aufzubringen vermag.
Nie ist eine Vereinigung auf so seltsame Weise erfolgt. Statt dass ein Gewaltherrscher seinen Fuß auf den Nacken der Besiegten stellt und sie unter seinem Zepter zusammenzwingt, wie dies in der Vergangenheit fast durchgehend der Fall war, ist die Vereinigung zu deutschen Bedingungen ohne Absicht und ohne Enthusiasmus erfolgt. Von Triumph kann keine Rede sein. In den kommenden Jahren wird nicht Brüssel, sondern Berlin Europa regieren, aber weder Berlin noch den Deutschen kann man den Vorwurf machen, dass sie diese Herrschaft angestrebt hätten.
Aber macht es denn überhaupt einen Unterschied, ob das zukünftige Europa von Paris, von Brüssel oder von Berlin aus regiert wird – wenn diese Regierung nur demokratisch, gerecht und sozial orientiert ist? Seit kleinere Staaten gegenüber den großen immer ohnmächtiger werden, hat sich Europa zu einer weltpolitischen Notwendigkeit gewandelt. Das Motto „small is beautiful“ mag den Vorteil kleiner politischer Gebilde in einer Welt ohne gefährliche Nachbarn richtig beschreiben – unter heutigen Bedingungen erweist sich die Kleinstaaterei des Kontinents nur noch als gravierender Nachteil.
Europa ist eine Notwendigkeit. Doch welche Gefahren und Chancen werden damit auf Deutschland zukommen? Wieder einmal ist es der unbestrittene Zahlmeister Europas, aber jetzt ist es zum ersten Mal auch in die Rolle eines Zuchtmeisters geraten. Der Beutel, aus dem es seine Rettungsgelder verteilt, unterliegt seiner Kontrolle – aber seine neue Herrschaft ist keinesfalls demokratisch legitimiert. Deutschland tritt in der Rolle des Retters und zugleich in der eines übermächtigen Vormunds auf. Dass der Euro nicht verloren ist und die Union erhalten bleibt, ist seinem Eingreifen und seiner Opferbereitschaft zu danken. Aber der Verlust an Souveränität, der als Diktat auf Griechen, Irländern und bald wohl auch anderen Peripheriestaaten lastet, wird von diesen als schwer erträglich empfunden – wenn sie ihn überhaupt hinnehmen werden. Kann Deutschland diese Doppelrolle als Zahl- und Zuchtmeister auf Dauer erfüllen und den daraus entspringenden Protest ertragen?
Das wird umso schwieriger sein, als sich die Ursachen, die zur Attacke der Märkte führten, ja durchaus unterschiedlich bewerten lassen. Im Norden Europas herrscht die von den Medien verbreitete Meinung, die Griechen seien ganz einfach Betrüger, die nach Aufnahme in die EU auf Kosten ihrer reicheren Nachbarn lebten.
Ein wesentlich anderes Bild ergibt sich aus der Perspektive des Südens. Nachdem die Europäische Zentralbank für sämtliche Euroländer ein und denselben Zins festgelegt hatte, fiel eine Barriere. Den wirtschaftlich schwächeren Staaten der Peripherie war es auf einmal möglich, zu weit geringeren Kosten als früher an Kredite zu kommen. Mit anderen Worten, sie wurden zur Verschuldung geradezu eingeladen. Diese Neigung wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass die deutsche Industrie aufgrund des nun nicht mehr vorhandenen Wechselkursrisikos ihre Waren auch viel leichter im Süden absetzen konnte. Die deutschen Banken waren überdies nur zu gerne bereit, den Griechen die dafür erforderlichen Kredite zu gewähren. Für die Deutschen, d.h. für ihre Banken, für ihre Industrien und die dort beschäftigten Arbeiter war dieser vermehrte Export zunächst einmal ein blendendes Geschäft. Das war der Hauptgrund, warum zunächst niemand nach der Rückzahlung der Kredite fragte.
Vielleicht, so ein viel schlimmerer Argwohn, haben sie die Möglichkeit eines Kreditausfalls sogar bewusst in Kauf genommen, um die schwächeren Staaten der Peripherie dadurch unter ihre Kontrolle zu bekommen? Kreditvergabe als Mittel der politischen Herrschaft hat ja eine lange Geschichte. In vielen Entwicklungsländern wurden die Eliten korrumpiert und zur Verschuldung gedrängt. Anschließend gerieten sie unter die Kuratel des IWF, der dann freie Hand bekam, um über ihre Rohstoffe zu verfügen. Wenn in gewissen Boulevardzeitungen davon die Rede war, dass Griechenland doch, bitte schön, seine Inseln an die Deutschen verkaufen solle, fühlte man sich an diese Herrschaftspolitik erinnert.
Wie immer liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte. Trotz falscher Angaben haben die Griechen vorzeitig in den Euroraum Einlass gefunden, weil es die politische Weisung gab, nicht so genau hinzublicken. Was sollte ein kleiner Staat, dessen Wirtschaftsleistung nicht einmal 3% der gesamteuropäischen ausmacht, schon Schlimmes anrichten können? Ein zu guter Wille und blauäugiger Optimismus führten zu einer voreiligen Aufnahme der Griechen. Die EU und Euroland verkauften sich selbst ja als Eldorado und eine Art Melkkuh – kein Wunder, dass sie von den Beitrittskandidaten auch so gesehen wurden. Die Griechen nutzten erst einmal die ihnen gebotenen Chancen und feierten teure Feste.
Der Vorwurf, dass die Deutschen unredlich gehandelt hätten und die Verschuldung der Griechen als ein Mittel späterer Herrschaft betrachtet hätten, zielt allerdings ganz ins Leere. Wie die übrige Welt waren und sind die Deutschen überrascht und entsetzt, dass die Verschuldung eines kleinen Landes sich spontan zu einem existenziellen Problem für die ganze EU auswachsen konnte. Nicht böser Wille, keine Verschlagenheit oder politische Berechnung waren im Spiel – allen Verschwörungstheorien zum Trotz sind sie eher selten anzutreffen – sondern ganz einfach mangelnde ökonomische Voraussicht und Klugheit. Staat und Politik hatten sich weitgehend aus der Wirtschaft und den Finanztransaktionen zurückgezogen. Sie glaubten den Beteuerungen der Neoliberalen, wonach es am besten sei, wenn man diese Kräfte sich selbst überließe.
Nun sind allerdings alle vom Unheil betroffen. Die Deutschen, weil sie zu spät erkennen, dass sie den gewaltigen griechischen Einkaufskorb von BMWs, Mercedeswagen, U-Booten und Maschinen gratis geliefert haben. Sie müssen die Rechnung nun selbst begleichen. Genauer gesagt, sind es die Steuerzahler, die mit ihrem Geld neuerlich deutsche Banken vor dem Zusammenbruch retten. Die Griechen sind noch schlimmer betroffen, weil sie nicht mehr Herren im eigenen Hause sind und den Gürtel jetzt wirklich eng schnallen müssen. Was sie auch tun – selbst der Austritt aus dem Euroraum – wird für sie zur Katastrophe.
Europa aber bekommt ein neues Gesicht: eine inoffizielle Wirtschaftsregierung, und diese befindet sich in Berlin (genauer gesagt, in Luxemburg, aber das macht in diesem Fall keinen Unterschied) – wie immer man in Deutschland diese Tatsache auch herabspielen und beschönigen mag. Die Frage ist, über welche Möglichkeiten Deutschland verfügt, um diese Rolle so auszufüllen, dass es nicht den Hass der Union auf sich zieht.
Man sollte sich deutlich vor Augen führen, dass die Schuldenregulierung für Griechen, Iren und wohl demnächst auch für Zypern und Portugal nur der Abwendung eines akuten Unheils dient: ausländische Gläubiger werden zufrieden gestellt. Deren Zufriedenheit ändert aber nichts an der Lage der betroffenen Länder. Hingegen laufen die verordneten Sparmaßnahmen auf einen unmittelbaren und teilweise dramatischen Einschnitt in die Lebensverhältnisse und die Souveränität der Regierungen hinaus. Dankbarkeit wird Deutschland für diese Maßnahmen keinesfalls zu erwarten haben. Deutschland löscht das Feuer in einem alten, aber schönen Gebäude, das danach nicht mehr zu beziehen ist. Die Bevölkerung muss in Baracken umziehen. Statt Enthusiasmus zu empfinden, werden die Griechen (und andere) zu der verspäteten Erkenntnis gelangen, dass es ihnen ohne den Beitritt zu EU und Euroraum zweifellos viel besser ergangen wäre.
Mit Dankbarkeit, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglicht, ist nur dann zu rechnen, wenn sich gleichzeitig neue Perspektiven auf eine bessere Zukunft eröffnen, d.h. wenn es gelingt, die Wirtschaftskraft dieser Länder zu steigern, also Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten.
Hier – und, wie ich glaube, nur hier – entscheidet sich, ob die inoffizielle Wirtschaftsregierung Erfolg haben wird, oder ob man die Deutschen und mit ihnen auch gleich das ganze vereinigte Europa schließlich zum Teufel schickt. Es wäre naiv zu glauben, dass man einem stolzen Volk wie den Griechen auf Dauer eine Abmagerungsdiät zumuten kann, wenn man nicht zugleich einen Weg aufzeigt, wie sie ihre Lage so weit verbessern, dass sie einen vergleichbaren Lebensstandard wie das übrige Europa genießen. Denn in einer solchen Verheißung bestand und besteht immerhin das ausgesprochene Ziel der Union.
Mit anderen Worten, man muss den Griechen (Iren und allen anderen, die noch unter den Rettungsschirm flüchten) die Möglichkeit bieten, aus eigener Kraft ihre Wirtschaftsleistung bedeutend zu steigern.
Wie aber soll das geschehen? In allen bedeutenden industriellen Sektoren wie der Auto-, der Flugzeug-, der Maschinenbauindustrie – von den technologisch einfacheren Bereichen wie der Textilindustrie ganz zu schweigen – bestehen heute weltweit Überkapazitäten. Das heißt es wird zu viel produziert. Schon die hochentwickelten Industriestaaten des Nordens haben große Schwierigkeiten, andere als die recht kleine Zahl ihrer technologischen Spitzenprodukte auf dem Weltmarkt abzusetzen. Selbst der etwas weniger entwickelte östliche Teil des vereinigten Deutschland hätte ohne die starke Unterstützung von Seiten der alten Bundesländer seine Wettbewerbsfähigkeit verloren. Es genügt, dass die Lohnstückkosten etwas zu hoch sind, um selbst in einem Land wie Deutschland den Export einbrechen zu lassen. Nur weil Gerhard Schröder sich auf den „Wettlauf nach unten“ (Race to the bottom) einließ und Löhne und Sozialleistungen stark reduzierte, wurde Deutschland vom kranken Mann Europas (zunächst einmal wieder) zu einer starken Exportnation.
Welche Chancen haben die südlichen Länder der Union angesichts eines globalen Wettbewerbs mit Billiganbietern? Um hier mitzuhalten, müssten sie mit ihren Löhnen ganz nahe an das Niveau von Drittweltländern rücken und erst einmal über eine entsprechend ausgebildete Bevölkerung verfügen, um große Konzerne überhaupt in ihr Land zu locken. Realistischerweise muss man wohl sagen, dass sie angesichts der bestehenden Überkapazitäten und des gnadenlosen Preiswettbewerbs kaum eine Chance haben, jemals wettbewerbsfähig zu werden. Das gilt selbst für ein Land wie Italien, das in einigen Branchen, wie zum Beispiel seiner überaus kreativen Textilindustrie, bisher noch durchaus erfolgreich war. Bisher – denn in Ostasien hat man zunächst einmal alles kopiert, um es anschließend zu weit geringeren Preisen weltweit zu vertreiben. Inzwischen stehen die Asiaten auf vielen Gebieten qualitativ auf gleicher Höhe, während ihre Preise weit niedriger liegen. Vor seinem Eintritt in die Eurozone konnte Italien noch die Lira abwerten und sich dadurch wieder Wettbewerbsvorteile verschaffen. Damit ist es vorbei. Italiens Wirtschaft stagniert – und zwar nicht nur wegen seines derzeitigen Regierungschefs Berlusconi, sondern weil es in der Spitzentechnologie wenig zu bieten hat. Alles Übrige, also das, was es noch bieten kann, ist auf dem Weltmarkt inzwischen weit billiger zu haben.
Es ist vorauszusehen, dass außer Ländern wie Griechenland und Portugal auch Italien, Spanien und vermutlich auch Großbritannien in den kommenden ein, zwei Jahrzehnten ihre globale Wettbewerbsfähigkeit weitgehend verlieren. Der Rettungsschirm für Griechenland wird sich insgesamt auf etwa 250 Mrd. Euro belaufen. Wird er nach demselben Maßstab auf das achtmal größere Italien angewendet, so würde das rund 2000 Mrd. Euro verschlingen (FTD 14. Juli 2011). Das entspräche etwa der Summe des deutschen Bruttosozialprodukts. Unter dieser Last würde der Norden und natürlich auch Deutschland zusammenbrechen. Spätestens, wenn Italien ins Visier der Märkte gerät, ist es mit dem Euro und der inoffiziellen deutschen Wirtschaftsregierung vorbei.
Ein düsteres Bild, aber leider durchaus realistisch. Die Frage ist, ob es einen Ausweg aus dieser Sackgasse gibt.
Es gibt ihn sehr wohl, nur hat man es mit einer breiten Abwehrfront der Ökonomen zu tun, sobald er auch nur zur Sprache gebracht wird. Vielleicht sollte uns das nicht sonderlich kümmern, denn 98 Prozent der Ökonomie-Experten haben weder die Asienkrise von 1997, noch die Immobilienkrise von 2007, noch die Pleite von Lehman Brothers im darauffolgenden Jahr oder gar die griechische Schuldenkrise von 2010 vorausgesehen. Anders gesagt, die Mehrheit der Wirtschaftsexperten ist blind für die Wirklichkeit. Man folgt dort den Textbüchern, und da ist von Theorien die Rede, welche eine ideale Welt abbilden, sich aber bedauerlicherweise nur an wenigen Stellen mit der Realität berühren.
Diese Realität aber sieht gegenwärtig so aus, dass Griechen und Italiener durchaus wettbewerbsfähig wären, wenn sie, wie das noch bis vor zwei Jahrzehnten weitgehend der Fall war, für ihre speziellen Produkte (einschließlich technologisch weniger anspruchsvoller Industrieartikel) mit einem gesicherten Absatz innerhalb der Union rechnen könnten. Es ist der globale Wettbewerb mit den asiatischen Billiganbietern, der sie umbringt und der auch den Norden bedroht. China ist ja längst eine industrielle Weltmacht, die um ein Vielfaches mehr als Gesamteuropa an hoch ausgebildeten Ingenieuren hervorbringt. In meinem Buch 1997 erschienenen Buch „Die arbeitslose Gesellschaft“ habe ich die Auswirkungen eines ungebändigten Freihandels auf Deutschland und Europa prophetisch vorausgesagt und wurde von dem damaligen Mitglied des Sachverständigenrates, Bert Rürup, dafür besonders gelobt. Das Buch wurde dennoch schnellstens vergessen, weil führende deutsche Konzerne vom außereuropäischen Export sehr stark profitieren. Um Griechenland und den Ländern der südlichen Peripherie zu nützen, müsste Deutschland nämlich auf einen Teil seines außereuropäischen Exportes verzichten. Da China diesen Export kaum mit Rohstoffen, sondern beinahe ausschließlich mit industriellen Fertigprodukten bezahlt, hat dieser außereuropäische Export des Nordens zwangsläufig eine Einfuhr an Billigprodukten zur Folge, die den Produkten der südlichen Länder Europas keine Chance mehr lässt. Außer landwirtschaftlichen Produkten und dem Tourismusgewerbe werden sie bald nichts mehr zu bieten haben.
Hier liegt die eigentliche Ursache, warum die neue Wirtschaftsregierung Europas auf tönernen Füßen steht. Deutschland tritt als Zuchtmeister in Erscheinung, der sich der Empörung der Peripherieländer aussetzt. Viele Griechen werden aus reiner Not ihre Heimat verlassen und in den Norden strömen, weil es zu Hause für sie keine Arbeit mehr gibt. Das gilt ebenso für Italien oder Spanien, wo immer mehr gut ausgebildete Studenten sich in derselben Notsituation befinden. Die Peripherie wird sich entvölkern. Das ist sogar innerhalb des reichen Deutschlands der Fall, weil die weniger wettbewerbsfähigen neuen Bundesländer ihre Bevölkerung an den Westen verlieren. Glaubt Deutschland diese Entwicklung dadurch abmildern zu können, dass es unter hohen Sparauflagen eine Sozialunterstützung für das südliche Prekariat einführt? Eher werden die Südländer wohl die Barrikaden stürmen und den Zusammenbruch der Eurozone erzwingen.
Europa ist sehr wohl zu retten, aber nur dadurch, dass die Ökonomen ihre Textbücher vergessen und sich zur Abwechslung einmal der Realität zuwenden. Die Deutschen (und mit ihnen die wirtschaftlich führenden Länder des Nordens) sind dabei vor eine harte Wahl gestellt. Wenn sie wirklich ein Europa wollen, das ihnen Achtung entgegenbringt und sie nicht als bedrohlich empfindet, werden sie – genauer gesagt, wird eine Handvoll ihrer führenden Konzerne – auf einen Teil ihrer bisherigen Stärke und Vorteile verzichten müssen. Sie werden die Produkte der südlichen Teile der Union vor der globalen Konkurrenz schützen müssen. Protektionismus – diese Horrorvokabel für alle Textbuchökonomen – liefert den einzigen Schutz gegen die vernichtende asiatische Konkurrenz. Aber Protektionismus hat eine Kehrseite: Er ist zwangsläufig mit einer Einschränkung des eigenen außereuropäischen Exports (auch des Kapitalexports) verbunden. Für den Norden, speziell für Deutschland, ist das eine sehr schwere Wahl, denn gerade mit der Weltgeltung der eigenen Konzerne verbindet sich für die Deutschen der Stolz auf das eigene Können. Wenn sie Europa wollen, dann gerade auch, um diese Weltgeltung durch Größe zu untermauern.
An diesem Punkt wird der Leser verstehen, warum am 22. Juli nirgendwo Böllerschüsse oder großartige Reden zu hören waren. Deutschland hat sich von einem gutmütigen Zahlmeister, der es während des zurückliegenden halben Jahrhunderts war, in einen Zuchtmeister verwandelt. Das ruft ungute Erinnerungen wach, von denen auch die Deutschen nichts wissen wollen. Wir werden schon bald erfahren, dass eine Einigung Europas unter solchen Vorzeichen schwerlich gelingen wird.