In Zeiten des Internet schrumpft das historische Gedächtnis. Wer erinnert sich heute noch daran, dass die Vereinigten Staaten von Amerika nahezu ein halbes Jahrhundert lang das Reich der Aufklärung, der Wahrheit, des Fortschritts repräsentierten, während jenseits des Eisernen Vorhangs Willkür, Gulags und verordnete Lüge herrschten? Dieser Gegensatz wurde durch beiderseitige Propaganda aufgebläht, gewiss, aber die Arbeitslager und die Millionen Menschen die Stalin in den Tod geschickt hatte, waren bittere Realität. Daran war so wenig zu zweifeln, dass Solschenizyns Anklagen weltweit gelesen wurden – auch in Russland. Als Gorbatschow, der erste ehrliche Politiker der Sowjetunion, diese Wahrheit öffentlich anerkannte, war der Zusammenbruch des Regimes nicht mehr aufzuhalten.
Wahrheit in der Politik wirkt wie eine Erlösung.
In Nazideutschland hatte gleich zu Beginn des Regimes die verordnete politische Lüge auf der Tagesordnung gestanden. Nach der Machtergreifung Hitlers waren sein ältester Bundesgenosse Ernst Röhm und dessen Milizen auf einmal unbequem geworden (ein Dorn im Auge der Reichswehr und konservativen Kreisen, auf deren Unterstützung Hitler nicht verzichten konnte). Deswegen erfanden die Nazis die Mär von einem geplanten Putsch und ließen Röhm und an die zweihundert weitere Bürger in einer Nacht- und Nebelaktion ermorden. Das war ein Vorgeschmack auf jenen Nihilismus der Macht, der für mehr als ein Jahrzehnt Deutschland verdunkeln sollte. Hitler und seine Schergen gingen davon aus, dass Lüge und Wahrheit in der Politik (wie auch sonst) keine Bedeutung haben. Was zählt, so ihr Credo, sei einzig die Macht, um derentwillen war ihnen kein Menschenopfer zu groß.
Die Befreiung der Deutschen
von der blutigen Willkürherrschaft Adolf Hitlers war nicht deswegen eine Erlösung, weil die eigene Herrschaft militärisch besiegt worden war. Meist lassen sich Völker immer noch lieber von eigenen Schurken als von fremden Erlösern beherrschen – diese führen ihnen ja das eigene Versagen, die eigene Demütigung vor Augen. Das Aufatmen rührte daher, dass es nun wieder möglich war, die Wirklichkeit zu erkennen und die Wahrheit zu sagen. Wahrheit und Lüge sind eben kein bloßes Erzeugnis der Macht, wie es die Nihilisten behaupten. In den letzten Jahren der Naziherrschaft war jedem Bürger bewusst, dass die andauernden Siegesmeldungen nur noch zynische Lügen waren. Auch gegen den verordneten Rassenhass hatten sich viele Deutsche zumindest auf die Art gewehrt, dass sie der befohlenen Lüge die private Ausnahme entgegensetzten – die ihnen persönlich bekannten Juden seien doch ganz anders als alle übrigen! An diesem kläglichen Rest von Wahrheit durfte man festhalten, ohne das eigene Leben durch offenen Protest in Gefahr zu bringen.
Die Bereitschaft der Deutschen, die US-Amerikaner am Ende des Kriegs mit offenen Armen zu empfangen, beruhte darauf, dass Lüge und Wahrheit eben keine bloßen Kreationen der Macht sind. Die amerikanische, bald darauf auch die bundesdeutsche Demokratie, die jedem Bürger das Recht gewährte, für sich selbst zu entscheiden, was er im täglichen Leben und in der Politik als wahr oder falsch ansah, wurde als ein Ausbruch aus dem Gefängnis staatlich verordneter Lüge erlebt.
Zwischen 1945 bis zum Fall des Eisernen Vorhangs
ist es weitgehend so geblieben. Es waren die Wissenschaftler, die Denker, ja, und auch die Politiker des Westens, die einen Vertrauensvorsprung genossen. Wie sich schon bald nach ’45 herausstellte, galt das nicht nur für den Westen selbst sondern ebenso für den Osten. Denn die Mauern, Drahtverhaue und Wachttürme zwischen Ost und West wurden nicht auf westlicher Seite gebaut, um die Menschen westlicher Demokratien von der Flucht in das Reich Stalins abzuhalten. Sie mussten auf der östlichen Seite errichtet werden, weil so viele Menschen von dort in den Westen drängten. Als die Mauer dann endlich am Ende der achtziger Jahre fiel, eroberte Amerika die ganze Welt wie im Sturm. Jazz, Jeans, die Filme Hollywoods, das Internet und nicht zuletzt amerikanische Wissenschaft und die englische Sprache traten einen Siegeszug über ganz Europa bis nach Asien an.
Wie so oft sollte auch in diesem Fall der Höhepunkt
zugleich der Beginn des Niedergangs sein. Dabei war eigentlich schon viel früher erkennbar, dass keineswegs nur die Finsternis auf der einen Seite, das Licht nur auf der anderen herrschte. Beide Großmächte trugen keine Bedenken, die Randgebiete ihrer jeweiligen Machtbereiche in dauernden Stellvertreterkriegen zu zermürben oder ganz aufzureiben. Der Friede in Europa wurde mit dem Leid in Vietnam, in Chile und vielen afrikanischen Staaten bezahlt. Großmächte stellen Ordnung in ihren Herrschaftsbereichen her – so wie das jeder einzelne Staat in seinem Inneren tut. So war schon das römische Reich vorgegangen. Es hatte den größten Teil der damals bekannten Welt erfolgreich befriedet, so dass man sicher von Britannien bis an die Grenzen des persischen Reichs reisen konnte. Zur gleichen Zeit war die Ausbeutung der unterworfenen Randgebiete durch das Zentrum notorisch und verlief in der Regel äußerst brutal. Aufklärung, Friede und eine Freiheit, welche das Recht einschloss, die Verhältnisse der Wahrheit gemäß zu beschreiben, galten für die Zentren der Macht, nicht für die umkämpften Randgebiete.
Das Jahr 1945 markierte den größten historischen Einschnitt
in der Geschichte Europas. Nach einer mehr als zweitausendjährigen Vorherrschaft hatte sich der Alte Kontinent mit einem 30-jährigen Bürgerkrieg mutwillig aus der Weltmitte hinauskatapuliert. An seiner statt waren nun die USA und die Sowjetunion zu Zentren der Macht worden. So ist es bis heute geblieben (nur dass China bereits im kommenden Jahrzehnt beide Großmächte überflügeln könnte). Anders gesagt, ist Europa nun selbst an den Rand gerückt und militärisch so unbedeutend, dass es ohne äußere Hilfe keinem Übergriff mehr gewachsen ist. 1989 mochte es noch so erscheinen, als hätte auch Russland sich für immer von der einstigen Rolle als Supermacht verabschieden müssen. Äußerlich betrachtet hatten die Vereinigten Staaten den Kalten Krieg durch Totrüstung des Gegners siegreich beendet. Doch der unglaublich schnelle Zerfall des sowjetischen Lagers hatte tieferliegende Gründe. Die Menschen in der DDR (1953), in Ungarn (1956), in Tschechien (1968) und schließlich in Polen (1981) hatten schon früher gezeigt, dass sie den Versprechungen des kommunistischen Regimes nicht länger glaubten. Der eigenen Ideologie zufolge hatte der Kommunismus das Paradies auf Erden gebracht, tatsächlich ging es den Menschen im Westen sehr viel besser. Doch solche Wahrheiten waren tabu. Jenseits des Eisernen Vorhangs hatte man mit der staatlich verordneten Lüge gelebt und musste fürchten, für das Aufzeigen der Wahrheit nach Sibirien verbannt zu werden. Gorbatschow hatte nur den Anstoß zur Auflösung des Regimes gegeben. In Wirklichkeit war dieses an den eigenen Lügen von selbst zerbrochen – daher der so unglaublich schnelle Zerfall der Sowjetunion.
Das Treffen von Sergejewitsch Gorbatschow, dem großen Russen,
der heute in seiner Heimat als Verräter geächtet ist, mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan war einer der großen Momente der Weltgeschichte. Zwei ehemalige Feinde kommunizierten damals in derselben Sprache der Wahrheit, womit sie der Welt bewiesen, dass es diese als objektive die Menschen verbindende Realität tatsächlich gibt. Beide Männer waren sich des schauerlichen Wahnwitzes bewusst, dass die beiden Lager sich mit Waffen bedrohten, welche jederzeit das Ende der Menschheit auszulösen vermochten. Beide wollten eine neue Friedensordnung begründen – und die ganze Welt glaubte damals, dass dies sehr wohl möglich sei. Dieser Moment erschien wie eine Erlösung von dem Alpdruck potenzieller Selbstvernichtung. Das erklärt, warum er wie ein Aufatmen von den damaligen Menschen erlebt worden ist.
Warum liegt das alles bereits so unendlich fern von uns?
Warum ist aus dem Hoffnungsbringer Gorbatschow im eigenen Land ein geächteter Verräter geworden? Warum wurde Russland unter Putin abermals zu einer bis an die Zähne bewaffneten Großmacht, die auch ohne die kommunistische Heilsbotschaft erneut zum erklärten Gegner des Westens wurde? Und wenn wir schon diese Fragen stellen, warum ihnen nicht gleich eine noch etwas unerfreulichere anschließen? Warum wird die Politik in den Vereinigten Staaten unter Donald Trump genauso von der Lüge beherrscht wie in Russland unter Wladimir Putin?
Offenbar ist nach dem Fall der Mauer
und der Auflösung der Sowjetunion etwas überaus schiefgelaufen. Die Deutschen hatten unter Hitler ein Regime hervorgebracht, das wenigstens so totalitär, so blutig und grausam war wie die Herrschaft Stalins. Dem besiegten Deutschland aber hatten die Amerikaner mit dem Marschallplan schnell wieder auf die Beine geholfen. Wir sollten niemals vergessen: Selten wurde ein besiegtes Volk so großzügig behandelt wie Deutschland nach seiner Niederlage.
Aber was geschah nach dem Fall der Mauer mit Russland? Das Land lag nicht nur am Boden, es wurde noch bewusst zu Boden gedrückt. Der Westen betrieb eine Wirtschaftspolitik, die Russland mit größeren volkswirtschaftlichen Verlusten bezahlte als selbst die fürchterlichen Leiden des Zweiten Weltkriegs. Damals fiel die Industrieproduktion der Sowjetunion „nur“ um 24 Prozent, in den zehn Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dagegen um nahezu 60 Prozent. Die Neunziger Jahre unter Boris Jelzin wurden von den Russen als äußerste Demütigung erlebt. Statt Dank dafür zu ernten, dass sie unter Gorbatschow die Diktatur freiwillig abgeschüttelt hatten und bereit waren, den Westen als Vorbild anzuerkennen, wurde ihnen der Fuß in den Nacken gesetzt: ganze Industriezweige über Nacht demontiert, Wissenschaftler abgeworben und (unter tatkräftiger Mitwirkung von Jeffrey Sachs) ein Privatisierungsprozess forciert, der die wichtigsten Ressourcen des Landes an wenige Oligarchen verscherbelte. Damals war es ein offenes Geheimnis, dass man Russlands Ölquellen im Westen aufzukaufen hoffte, um den russischen Bären dann ganz unter eigene Kontrolle zu bringen.
Der kometengleich Aufstieg Wladimir Putins
ist nicht denkbar, ohne die unbedachte Demütigung Russlands durch die Vereinigten Staaten. Die einzigartige Weisheit im Umgang mit dem besiegten Deutschland, welche die Politik der USA nach ’45 ausgezeichnet hatte, kam im Falle des besiegten Russlands nach 1989 nicht mehr in Betracht. Wir müssen uns heute eingestehen, dass der dem Westen zunehmend feindlich gesonnene und dabei außerordentlich erfolgreiche russische Präsident Wladimir Putin ein Geschöpf verfehlter westlicher Politik ist.
Inzwischen sind deren Auswirkungen immer deutlicher zu spüren
Während die politische Lüge bis zum Fall der Mauer unzweifelhaft im Osten viel tiefer verwurzelt war, begann sie sich von da an in beiden Lagern mehr und mehr zu verbreiten. Skrupelloser Macht war es schon immer leichtgefallen, die Lüge an die Stelle von Wahrheit zu setzen. Selbst die Wissenschaft hatte sich politischer Willkür zu fügen. Wer offen gegen die Rassentheorie der Nazis polemisierte, konnte in einem Konzentrationslager enden; wer unter Stalin den Lyssenkoismus in Zweifel zog, musste damit rechnen, sein Leben in einem sibirischen Gulag zu beschließen.
Und wie verhält es sich damit in unserer Zeit, z.B. in den Vereinigten Staaten? Bis in die neunziger Jahre blieb die Leugnung der Darwinschen Deszendenztheorie auf eine kleine Zahl von ungebildeten Spinnern beschränkt, wie sie zu jeder Zeit in jedem Land existieren. Doch seit etwa drei Jahrzehnten sind die ideologisch verblendeten Spinner der wissenschaftsfeindlichen Evangelikalen zu einer breiten Strömung geworden, ohne deren Stimmen ein Donald Trump nicht zum Präsidenten geworden wäre. Zwar wagt selbst dieser Verächter der Wahrheit nicht, die Darwinsche Deszendenzlehre per Dekret als Fake zu erklären, aber ansonsten setzt er sich über wissenschaftliche Erkenntnisse (zu Corona z.B.) souverän hinweg. Wladimir Putin macht ihm vor, wie leicht das geht, wenn er den einhelligen Befund deutscher Experten, dass Alexej Navalny Opfer eines politischen Mordversuchs mit dem Nervengift Novitschok sei, als „unbewiesen“ vom Tische wischt (so wie die ganze vorherige Serie politischer Auftragsmorde niemals zugegeben wurden – angefangen von Sergej Juschenkow (2003 erschossen), Juri Schtschekotschichin (2003 vermutlich vergiftet), Paul Klebnikow (2004 erschossen), Anna Politikowskaja (2006 erschossen), Alexander Litvinenko (2006 mit radioaktivem Polonium vergiftet), Stanislaw Markelow (2009 erschossen), Natalja Estemirowa (2009 erschossen), Boris Nemzow (2015 erschossen), Wladimir Kara-Mursa (2017 vermutlich vergiftet), Sergei und Yulia Skripal (2018 mit Novitschok vergiftet), Pjotr Wersilow (2018 vergiftet) bis eben zu Alexej Navalny (2020 mit Novitschok vergiftet).
Natürlich sind politische Morde keine russische Spezialität. Beide Supermächte hatten niemals Bedenken, sie in den umstrittenen Randgebieten ausführen zu lassen. Die CIA hat ein langes Sündenregister bis hin zum gewaltsamen Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Allende in Chile, dessen einziger Fehler in der Absicht bestanden hatte, ein größeres Maß an sozialer Gerechtigkeit im eigenen Land zu verwirklichen. Im Gegensatz zum heutigen Russland unter Putin haben die USA allerdings im eigenen Territorium die elementaren demokratischen Spielregeln aufrechterhalten – und dieses Privileg galt ebenso für ihre engsten Bündnispartner wie Deutschland. Vieles deutet darauf hin, dass Präsident Trump – ein Bewunderer von Diktatoren wie Kim Jung-Un und Autokraten wie Wladimir Putin – diese Rücksichtnahme für das eigene Land gern außer Kraft setzen würde. Was wir heute sehen, gibt daher keinen Anlass zu Optimismus: Unter Putin und Trump sind sich die beiden Atomsupermächte Russland und USA beklemmend ähnlich geworden.
Ein schwaches Europa
ist dazu verdammt, ein Spielball der Supermächte zu werden. Randgebiete werden mitleidslos aufgerieben. Da hilft keine moralische Überlegenheit, sei sie nun real oder eingebildet – die hat den Schwachen noch nie genützt. Das war so zu Zeiten Roms, und das ist bis heute so geblieben. Europa muss stark sein – es muss stark werden, wenn es diesem Schicksal entgehen will. Angela Merkel hat dies deutlich gesehen, als sie davon sprach, dass Europa die eigene Verteidigungsfähigkeit stärken müsse.
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von Herrn Pfarrer Gerhard Loettel aus Magdeburg erhalte ich folgende Meldung:
Lieber Gero!
Deinem Artikel über die Wahrheit kann ich zustimmen, bis auf den letzten Satz. Da muss doch deutlich gesagt werden, was mit Verteidigungsbereitschaft gemeint sein soll. Ich verweise auf die beiden Artikel von Bürger und Harmsen (Anhang) die doch deutlich sagen, dass wir uns von der „Wahrheit“ der „nuklearen Sicherheitsdoktrin“ verabschieden müssen, weil die „beiden Lager sich mit Waffen bedrohen, die die Menschheit jederzeit auslöschen können“[1] (Gero Jenner!). Da müssen wir uns schon auf eine neue Wahrheitssuche begeben, die u.a. von Prof. Hanne Birckenbach vorgezeichnet wird, die (im Anhang) dieser sicherheitslogischen, die friedenslogische Konfliktbereinigung gegenüberstellt.
Das dazu, Dir einen recht guten Tag und Friede im Herzen und in der Welt,
Gerhard Loettel MD
[1] so spitze ich auch die Wahrheit von Bürger zu, der lediglich ein Steinzeitalter als Folge sieht.
Meine Antwort:
Lieber Gerhard Loettel,
dazu würde ich am liebsten gar nichts sagen. Es gibt, wie ich an anderer Stelle in Anlehnung an Adorno schrieb, kein richtiges Handeln im Falschen. Die ganze Welt ist ein Pulverfass, jede Bombe mehr macht sie noch gefährlicher. Aber diejenigen, welche die linke Backe hinhalten, waren immer und sind heute noch genauso in Gefahr, von den Starken vernichtet zu werden. Wenn Sie einen Ausweg aus diesem Dilemma weißt – ich weiß ihn nicht. Vermutlich muss die Menschheit erst eine Katastrophe erleben, um reif für ein Weltregime zu werden, das dann wirklich dann zum ersten Mal in der Geschichte alles Wettrüsten beenden und die Atomwaffen abschaffen kann.
Dr. Alexander Dill schreibt folgenden Kommentar:
Lieber Herr Jenner, ich habe mich sehr gefreut, dass Sie erwähnt haben, dass die USA unter/mit Jelzin das russische Volksvermögen rauben wollten. Ich habe dies in einem Fernsehinterviewmit dem russischen Fernsehen letzten September gesagt:https://www.youtube.com/watch?time_continue=233&v=5mwZ93brnN0 Dieses wurde bisher 652.000 mal aufgerufen und hatte 1800 Kommentare. Ich weiß nicht, was Sie mit ‘stark’ für Europa meinen, wenn man zwei der stärksten Militärmächte mit überlegener Technologie und in Russland unbezwingbarem Stolz und Kampfeswillen gegenübersteht. Wenn in den USA täglich ein Schwarzer von der Polizei erschossen wird, gibt es keinerlei Sanktionen und NATO-Sitzungen. Wie Russland mit seinen Regimekritikern umgeht, kann uns allenfalls alsMenschenrechtsaktivisten interessieren, nicht aber als Staat in der diplomatischen Beziehung. Zur Zeit werden bei uns Demos in Berlin verboten und verteufelt, während sie für Minsk und Hong Kong gefordert werden. Europa – das ist auf EU-Ebene fast ausschliesslich Korruption. Ich sage dies als akkreditierter Lobbyist im EU Transparenzregister: http://ec.europa.eu/transparencyregister/public/consultation/displaylobbyist.do?id=761002330576-14. Europa würde durch die Beendigung der Korruption gestärkt. Durch die Beendigung der Rüstung und durch Investition in Technologie, Bildung und Umweltschutz. Aber nicht als Militärmacht gegen Russland. Russland möchte seit Jahrzehnten Teil der EU werden. Die Türkei auch. Beides würde einen Grossteil der Probleme an den Aussengrenzen lösen. Selbst der Nahostkonflikt wäre schnell vorbei, wenn Russland und die Türkei in der EU wären. Und für die Menschenrechte in der EU, Herr Jenner, können Sie ja einmal maltesische und slowakische Journalisten konsultieren, Julien Assange im Londoner Gefängnis oder auch gerne die katalonischen Politiker im Gefängnis in Madrid. Oder politische Gefangene in der Bundesrepublik Deutschland, die von Amnesty International zur Betreuung mit der Begründung abgelehnt werden, es gäbe keine politischen Gefangenen in Deutschland. Europa ist keine Werte-, sondern eine Wirtschaftsgemeinschaft. Als solche soll und kann es ‘stark’ sein. Als Militär- oder Wertemacht nicht.
Herzlicher Gruß Ihres Dr. Alexander Dill
Meine Replik:
Lieber Herr Dill,
ich schaue mir regelmäßig das englischsprachige Russia Today aber ebenso die beiden russisch-sprachigen Kanäle Perviy Kanal und Rossiya 24 an. Letztere sind streng zensuriert und geistig eher dürftig. Man sieht und hört den Journalisten an, wie sie gehorsam nach der Pfeife ihres Herrn tanzen müssen. RT (Russia Today) ist auch stark tendenziös, aber dennoch oft sehr interessant, weil westliche Dissidenten (wie Sie) dabei zu Worte kommen. Wladimir Putin weiß, warum er die Zügel im einen Fall so straff, im anderen so locker hält: Im eigenen Land sorgt er für intellektuelle Totenstille, aber den westlichen Liberalismus bringt man am besten um, indem man die Hähne gegeneinander antreten lässt. Was ich damit sagen will? Ich kann keinen Gefallen an Ihrem Vorschlag finden, Russland und die Türkei in die EU aufzunehmen. Damals, als Mitterand sich für diese Idee einsetzte, war Putin noch nicht an der Macht und es gab auch noch keinen Erdogan, als die Türkei zum Beitrittskandidaten wurde. Denken Sie, was mit Ihnen und anderen Intellektuellen geschehen wird, die so gern wider den Stachel löcken. Sie wären doch, wenn die intellektuelle Totenstille sich auch über Europa ausbreitet, der erste Kandidat für eine Behandlung mit Nowitschok, einen Schuss in den Nacken oder eine Einquartierung in einem türkischen Verließ! Aber es ist leider wahr, viele – gerade auch viele Intellektuelle – sehnen sich auch bei uns nach einer starken Hand. Diesem Bedürfnis vermag ich nicht zu folgen. Dennoch sind wir in einem Punkt sicher einig. Wenn wir das unheilvolle Wettrennen der Nationen beenden wollen, brauchen wir das Gespräch und den Kompromiss – anders geht es nicht.
Verzeihen Sie, dass ich auf Ihre Argumente nur so knapp antworte, andernfalls würde die Antwort weit mehr Platz in Anspruch nehmen als mein bescheidener Artikel.
Von Eginald Schlattner, dem bedeutenden rumänischen Schriftsteller deutscher Sprache, bekomme ich folgende Meldung:
Guten Morgen! Ganz Ihrer Meinung. Meinung, zu wenig gesagt. Ihre Darstellung ist eine enzyklopädische Abhandlung.