Wir sind gewohnt, Einträge auf der roten Liste der ausgestorbenen oder vom Aussterben bedrohten Arten zu beklagen, zu diesen zählen Dinosaurier, bengalische Tiger, Birkhühner oder Flussperlmuscheln. Doch halte man die Natur nicht für einfallslos. Sie ersetzt das Abgelebte fortwährend durch eine Vielzahl von Neukreationen: statt der Dinosaurier schenkt sie uns jetzt Corona und gleich dazu auch noch eine Vielzahl frisch gekürter Mutanten.
Wie im Tierreich, so auch in menschlichen Kulturen. Von den Deutschen, wie sie einmal waren, müssen wir zweifellos Abschied nehmen, aber das gilt nicht weniger von den Franzosen, den Engländern, Indern, Chinesen etc. Doch auch in diesem Fall erleben wir, wie ein neues und überraschendes Phänomen dieses Siechtum begleitet. Schon seit einiger Zeit war zu bemerken, dass es immer mehr globale Berufe gibt, z.B. den Mathematiker, den Programmierer, den Ingenieur, den Chemiker, den Lastwagenfahrer, den Mechaniker, Internisten, HNO-Arzt und tausend ähnlicher Funktionen, aber diese neuen Berufe sind frei von allen nationalen Wurzeln. Da ist etwas gestorben – und zur gleichen Zeit etwas überraschend Neues an dessen Stelle getreten. Natur hat gleichsam über Kultur gesiegt. Denn Natur ist überall dieselbe, daher müssen es auch die von den Naturwissenschaften gefundenen Gesetze sein, sie gelten in Berlin, Tokio und Dubai genauso wie in Timbuktu, also unabhängig von der jeweiligen nationalen Kultur. Auf diesen Gesetzen aber beruht das Leben und Funktionieren der modernen Zivilisation. Eine chemische Fabrik, eine Autofirma, ein Konzernbüro gleichen sich weltweit wie ein Ei dem anderen. Die identische Funktion bestimmt den identischen Aufbau. Unterschiede sind nur technischer Art, nämlich durch den jeweiligen Fortschritt bedingt.
Die Zeit, in der noch alles verschieden war,
weil die Menschen in Frankreich, Indien, China radikal anders dachten, anders aßen, anders liebten und lebten, diese Zeit liegt gerade einmal eineinhalb Jahrhunderte zurück, und sie ragt mit ihren steinernen Zeugen – Kathedralen, Tempeln und Palästen – noch hier und da in unsere Gegenwart hinein, doch das ist inzwischen überall nur noch Geschichte (und diese wird von Disneyland noch dazu erbarmungslos parodiert). Die allmächtige Gegenwart hat nicht nur eine neue internationale Spezies, den Homo technikus, in die Welt gesetzt, der – gleichgültig ob in Kapstadt, Berlin, Houston oder Madras – einen immer größeren Teil seiner Zeit vor dem Computer und mit dem Handy verbringt, sondern sie hat zur gleichen Zeit die Stadtlandschaften aller Länder einander immer ähnlicher werden lassen. Inzwischen gibt es österreichische, chinesische, südafrikanische oder indische Architektur nur noch in Resten: die Megastädte beschäftigen dieselben Architekten und Ingenieure aus aller Welt. Eine weltweite Uniformierung aufgrund uniformer Funktionen ist die unausbleibliche Folge. Banken, Millenniums- und Fernsehtürme, Museen, Bahnhöfe, Flughäfen und Schlafkasernen überall auf der Welt sind nach demselben Muster gestrickt. Alles Nationale ist in unverkennbarem Rückzug.
Aber ist es richtig den neuen Menschen,
diesen Prototyp des 21. Jahrhunderts, der im Begriff ist, eine globale Einheitszivilisation zu erschaffen, als „Homo technikus“ zu bezeichnen? Bilden nicht Spiel, Musik, Malerei und Freizeit einen Gegenpol, der vielen Menschen mindesten ebenso wichtig erscheint?
Das mag schon sein, die Liebe zur Mathematik und zu den Naturwissenschaften war sicher nirgendwo so stark verbreitet, dass sie allein den neuen Menschen hervorzubringen vermochte. Seine exponentielle Verbreitung verdankt der Homo technikus vielmehr einem elementaren Bedürfnis: der über den ganzen Globus verbreiteten Sucht nach all den zivilisatorischen Errungenschaften, zu denen eben nur Technik den Zugang verschafft. Das brauchte ihnen der viel geschmähte Kapitalismus nicht aufzuschwätzen, denn niemand auf der Welt will heute noch auf ein Spülklosett, auf eine Waschmaschine, ein persönliches Bankkonto, einen Computer oder ein Handy verzichten, und die wenigsten auf ein Auto oder die Aussicht, irgendwann über den Wolken in einem modernen Flugzeug zu schweben. Jede der genannten Errungenschaften setzt aber eine moderne Infrastruktur voraus, also eine radikale Umgestaltung und Neuordnung der Natur, wie sie vor zweihundert Jahren noch kein einziges Land auf dem Globus kannte.
Viele dieser modernen Errungenschaften
werden inzwischen schon als Menschenrechte gehandelt, ohne die das Leben als unvollständig und erbärmlich gilt. Kein Chinese wird heute mehr schief angesehen, wenn er den Konfuzius nicht gelesen hat, kaum ein Deutscher wirft noch einen Blick in Goethes Faust („Fuck you Goethe“ wurde zur Parole). Für die Millenniums-Generation, d.h. die unter Vierzigjährigen, ist das nur noch Geschichte – von den meisten bereits vollständig abgeschrieben, die eigene ebenso wie die aller anderen Länder. Kulturelles Wissen erbringt keinen Nutzen im Hinblick auf die Erhaltung unserer technisch-ökonomischen Zivilisation, folgerichtig gilt es als überflüssig. Diese Befreiung der neuen Generation von allem geschichtlichen Ballast birgt zweifellos Chancen. Junge Menschen – Chinesen, Japaner, US-Amerikaner, Deutsche, Franzosen etc. – können sich von gleich zu gleich in die Augen blicken. Was zählt, ist das Wissen und der Umgang mit den Gadgets der modernen Zivilisation – und das beherrschen sie alle gleich perfekt. Was sie entzweien könnte, ihre Vergangenheit und Geschichte, haben sie abgeschüttelt. So gesehen kann man auch einen gewaltigen Fortschritt darin erblicken, dass der moderne Homo technikus alle Insignien seiner Stammeszugehörigkeit abgelegt hat – gleichgültig ob Religion, Rasse oder Ideologie.
Globale Verbrüderung
scheint damit zum ersten Mal in Reichweite zu sein. Die Gemeinsamkeit im wissenschaftlich-technischen Denken wie auch in den äußeren Lebensbedingungen könnte zum Sprungbrett in eine Zukunft werden, wo an die Stelle unüberbrückbarer Gegensätze und den daraus resultierenden Kämpfen gegenseitiges Verständnis und damit Eintracht und Frieden treten. Die größere Uniformität der auf uns zukommenden Zeit braucht uns da nicht sonderlich zu beunruhigen, denn es ist eine Uniformität im beständigen Wandel. Verschiedenheit und Entwicklung sind ja nicht aus der Welt, sie manifestieren sich nur auf grundlegend andere Weise. Bis vor zweihundert Jahren bestand Geschichte in der Formung der Menschen – genau deswegen waren die Eingeborenen Papua Neuguineas in Aussehen, Religion und Sitten so radikal verschieden von eingeborenen New Yorkern oder hinduistischen Brahmanen, dass man alle drei für verschiedene Arten innerhalb derselben Gattung halten konnte. Dagegen besteht Geschichte heute nicht mehr in der Formung des Menschen – ein indischer, US-amerikanischer oder ein Physiker aus Neuguinea lassen sich allenfalls aufgrund der Tönung ihrer Haut unterscheiden. Sie besteht in der Formung der Natur. Der Homo technikus erkennt und gestaltet die Natur nach den eigenen Zwecken. Auch in diesem Fall gibt es eine unüberschaubare – potenziell sogar unendliche – Vielfalt. Sie kommt nur auf andere Weise zu Stande, nämlich dadurch, dass unsere Naturerkenntnis beständig wächst und mit ihr die Produkte der wissenschaftlich-technischen Ära, die dieser Art der Erkenntnis geschuldet sind.
Gerade weil der Homo technikus
die Geschichte wie eine böse Erinnerung hinter sich lässt, will er nichts von Privilegien wissen – auch die sind für ihn nur noch Geschichte. So ist es nicht verwunderlich, dass die überwältigende Mehrheit der Millennials sich für eine gerechte Verteilung materieller Güter einsetzt – ungeachtet (so will es das rituelle Mantra) von Rasse, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Gleichgültig, ob Europäer, Afrikaner oder Chinesen, alle Menschen haben dasselbe Recht auf ein menschenwürdiges Leben, d.h. auf jene materiellen Segnungen, welche die Menschen des Westens schon seit langem genießen. Zur gleichen Zeit will die neue Generation aber auch der Natur ihre Rechte gewähren, deshalb ist gerade unter Millennials eine grüne Gesinnung weit verbreitet. Sie gehen auf die Straße nicht nur, um gegen White Supremacy zu protestieren sondern ebenso um Maßnahmen gegen den Klimawandel zu fordern. Die neue Generation will zwar nichts mehr von Geschichte als Vergangenheit wissen, aber Geschichte als Zukunft nimmt sie sehr ernst: die will sie selber machen. Deswegen bereiten ihre Demonstrationen den Regierungen überall auf der Welt ja so großes Kopfzerbrechen.
Die Millennials sind Kosmopoliten
Zum ersten Mal repräsentiert eine ganze Menschheitsgeneration, was vorher nur für eine Handvoll großer Geister in Frage kam. In Deutschland waren Lessing, Herder, Goethe, Schiller und Kant Weltbürger im besten Sinne des Wortes. Alle nationale Engstirnigkeit war ihnen nicht nur fremd sondern widerwärtig. Wie hätten diese frühen Pioniere ahnen können, dass spätestens seit Ende des 20. Jahrhunderts die Millennials diesen geistigen Kosmopolitismus zu einem technischen machen würden, der den ganzen Globus erfasst? Immer mehr junge Leute registrieren mit Begeisterung, dass sie über das Internet ebenso viele Freunde auf anderen Kontinenten wie im eigenen Land gewinnen. Die Millennials sind sich bewusst, dass geistesverwandte Menschen in Chengdu, Vancouver oder Bangalore ihnen weit näher sind als reaktionäre Betonköpfe in der eigenen Heimat. Und es bleibt keineswegs bei dieser abstrakten Einsicht. Immer mehr Ehen werden international geschlossen, immer größere Summen für Menschen in Not irgendwo auf der Welt gespendet. Es gibt nicht wenige Idealisten, die am liebsten eine Brücke über das Mittelmeer legen würden, damit in Zukunft kein Flüchtling auf dem Weg in den Norden umkommen muss.*1*
Das Problem
Angesichts dieser allgemeinen Tendenz zu einer weltweiten Verbrüderung besteht die Gefahr, dass wir die ihr entgegenwirkenden Kräfte allzu leichtgläubig und naiv übersehen. Die technische Generation ist in dem Glauben aufgewachsen, dass sich alle Konflikte auch auf technische Weise lösen lassen. Die atemberaubenden Erfolge der Wissenschaftszivilisation haben aus diesem Glauben sogar eine Art von quasi-religiösem Heilsversprechen gemacht. Digitalisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz feiern Triumphe, wie sie die Menschheit zuvor niemals erlebte. Kein Wunder, dass der dadurch genährte Optimismus blind für Gefahren macht. Die aber sind in Wahrheit allgegenwärtig. Schon ein unvorhergesehenes Ereignis wie eine weltweite Pandemie kann den schönen Glauben an die Verbundenheit aller Menschen von einem Moment zum anderen in Illusion aufzulösen. Wie unerfreulich war und ist selbst innerhalb der Europäischen Union das Gerangel um Impfdosen! Der derzeitige österreichische Bundeskanzler, der zu Anfang auf Sparsamkeit drängte (maximal 200 000 Euro), setzte ungeniert die Mär in die Welt, die Kommission habe sein eigenes und andere Länder Europas unfair behandelt.
Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, dass wir unsere Geistesfreunde zwar überall in der modernen Welt finden können, aber in Zeiten der Not helfen uns nur die eigenen Nachbarn und die eigene Regierung. Nur sie sind imstande, ihren Bürgern das gewünschte Maß an Sicherheit und Lebensstandard zu bieten. Der Kosmopolitismus, der sich im Reiche des Geistes so herrlich entfaltet, erweist sich als ohnmächtig, wenn es in einer Notsituation darum geht, den Menschen vor Ort eben diese Leistungen zu gewähren. Weil räumliche Nähe in diesem Fall mehr als alles andere zählt, ist jeder sich in der Not der nächste. Selbst das Vereinigte Europa muss beständig gegen nationale Egoismen ankämpfen.
Wirklich massiv und beängstigend aber wird dieses Problem,
wenn wir die moderne technische Zivilisation selbst unter die Lupe nehmen. Denn Technik hat ein Doppelgesicht, von dem die Optimisten nichts sehen wollen. Einerseits zeichnet sie verantwortlich für unsere größten Triumphe, andererseits für eine nicht mehr auszuschließende Apokalypse. Die Weltbeglückungsphilosophie der Millennials, welche allen Menschen denselben materiellen Segen gönnt und zuteilen möchte, hat die Gesetze der Physik gegen sich. Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Verwirklichung dieses Programms schlicht unmöglich. Mit erneuerbarer Energie nachhaltig auf unserem Globus zu existieren, setzt entweder voraus, dass drei Viertel der Menschheit auf geheimnisvolle Weise verschwinden oder dass die Menschheit in ihrer jetzigen Bevölkerungsstärke von etwa acht Milliarden ihren Energieverbrauch auf ein Viertel vermindert (und da ist nur von Energie die Rede und noch nicht von allen sonstigen nicht-erneuerbaren Ressourcen).*2*
Es ist völlig richtig, wenn Steven Pinker und Hans Rosling in ihren Büchern darauf bestehen, dass es der Menschheit im Hinblick auf fast alle Indikatoren materiell besser geht als jemals zuvor, aber zu dieser erstaunlichen Leistung war sie nur deshalb fähig, weil sie weit mehr als einen Globus an Energie verbraucht, nämlich versiegende, nicht erneuerbare Energiereserven, mit deren Rückständen sie zudem den Erdball in wachsendem Umfang vergiftet.
Hier liegt das existenzielle Problem,
mit dem die Menschheit es in Zukunft zu tun haben wird – und es ist eben keine technische Aufgabe, die auf technische Art gelöst werden kann, sondern eine Herausforderung für den politisch und ethisch handelnden Menschen. Im Extrem kommen dabei nur zwei Lösungen in Frage. Entweder ein Rangeln bis hin zu Kriegen um die letzten Ressourcen – Kriege, welche die stärksten Mächte des Globus gegen die schwächeren und natürlich gegen die Natur anzetteln, um den gewohnten Lebensstandard für ihre eigene Bevölkerung aufrechterhalten. Oder ein globales Einvernehmen darüber, dass alle sich zur Erhaltung des Globus und damit zu einer Lebensweise bekennen, die eine totale Abkehr von der heute noch vorherrschenden erfordert.
Wie reagieren die Millennials
auf diese Erschütterung der technokratischen Ideologie, mit der sie selbst groß geworden und indoktriniert worden sind? Sie reagieren auf dreifache Weise. Entweder leugnet man schlicht die Fakten (und stellt sich damit an die Seite von Donald Trump); oder man ist, zweitens, Optimist aus Prinzip und glaubt an zukünftige technologische Wunder; oder man ruft, drittens, zu Demonstrationen auf, wobei gewöhnlich irgendwelchen bösen Mächten die Schuld in die Schuhe geschoben wird.
Leugnung ist die vorherrschende Attitüde – und zwar gegen alle Evidenz von Seiten der wissenschaftlichen Expertise. Auch der Homo technikus lässt sich nur zu gern vom Wunschdenken leiten, wenn Evidenz seinen Optimismus zu erschüttern droht. Von jeher tun sich Optimisten besonders schwer mit dem Eingeständnis, dass die Welt vielleicht doch nicht ganz so gut eingerichtet ist, wie sie es gerne hätten.
Wenn die Evidenz eines unverantwortlichen Ressourcenverbrauchs und einer zunehmenden Vergiftung des Globus nicht länger zu leugnen ist, dann bleibt immer noch der Glaube an Wunder. Dann soll Atomkraft bewirken, was die erneuerbaren Energien allein niemals schaffen, nämlich den bisherigen Lebensstandard zu erhalten und zugleich den CO2-Ausstoß auf ein erträgliches Maß herabzusetzen. Abgesehen davon, dass das aufgrund schwindender Uranvorkommen schon rein quantitativ nicht möglich ist, werden die Gefahren dieser Technologie ihrerseits ausgeblendet – sie sind aber ebenso groß, wenn nicht größer als die der Klimaerwärmung. Und völlig übersehen wird, dass Energie der Umwandlung nicht-energetischer Ressourcen dient – die aber sind ja genauso im Schwinden. Die durch zwei Jahrhunderte genährte Wundergläubigkeit des Homo technikus, die inzwischen in China und Indien ebenso heimisch ist wie in Europa und den USA, bildet die vielleicht größte Gefahr. Sie schafft die Voraussetzung, dass man uns blindlings ins Verderben führen kann, nur weil wir bis zuletzt auf einen Deus ex Machina hoffen, der kurz vor der Katastrophe noch alles Unheil von uns abwenden wird.*3*
Der politische Aktivismus,
der sich weltweit in Demonstrationen bekundet, scheint, so gesehen, kaum mehr als ein Ablenkungsmanöver zu sein. So richtig die Bewegung „Fridays for Future“ das Umweltproblem erkannte, so sehr hat sie sich in der Einschätzung der wahren Ursachen geirrt. Nicht „die da oben“ sind verantwortlich für die Zerstörung des Globus, sondern „wir hier unten“, und zwar wir alle gemeinsam, denn „die da oben“ sind gewöhnlich nur die opportunistischen Vollstrecker des Mehrheitswollens. Das gilt für demokratische Staaten des Westens ebenso wie für die autokratischen Regime in China und Russland. Denn eine Mehrheit der Weltbevölkerung – vor allem natürlich die Entwicklungsländer – denkt nicht an radikalen Verzicht, schon gar nicht, wenn ein wirklich nachhaltiges Wirtschaften eine Reduktion des globalen ökologischen Fußabdrucks auf den vierten Teil des heutigen Niveaus verlangt.
Nicht Verzicht sondern ein weltweites Rangeln
um versiegende Ressourcen und gegenseitige Anklagen wegen übermäßiger Naturvergiftung stehen uns daher für die nahe Zukunft bevor. Genau wie in der Pandemie, wo jede Nation zunächst einmal an sich selber denkt, schützt diese, wenn es um den Lebensstandard geht, auch in diesem Fall erst einmal die eigenen Bürger. Und siehe da, mit einem Mal treten dann alle jene nationalen Vorbehalte wieder zutage, welche die Millennials bekämpften und für immer abschaffen wollten. Nordamerika beherbergt zwanzig Millionen Asiaten, davon eine Mehrheit chinesischer Abkunft, seit China aber für die USA zu einem ernsten Rivalen wurde, seit also die Gefahr besteht, dass Amerika den Rang der Nummer eins im Hinblick auf Macht und Lebensstandard an diesen Rivalen abtreten muss, wachsen die Spannungen zwischen den beiden Supermächten. Unmittelbar schlagen sie sich darin nieder, dass Vorurteile ebenso gegen Chinesen in Amerika aufleben wie in China gegen den Westen. Nationalistisch motivierte „hate crimes“ sind auf einmal an der Tagesordnung.
In einem kleineren und glücklicherweise bisher eher harmloseren Maßstab finden wir dieses Gerangel auch innerhalb der EU, wo Ungarn und Polen, aber auch Tschechien und die Slowakei auf ihre nationale Eigenständigkeit pochen und zur Autokratie neigende Regierungen wählen, welche die europäische Einheit gefährden. Wenn es stimmt, dass der Kampf um versiegende Ressourcen in einer Welt, die nichts von Verzicht wissen will, zum Menetekel das 21. Jahrhundert werden wird, dann gehen wir einer Zeit entgegen, die das Gegenteil des Kosmopolitismus bewirkt, nämlich einen zunehmenden nationalen Egoismus. Selbst wenn es gelingt, Europa zu einer Einheit zusammenschweißen, wird die EU als ganze um ihre Interessen mit der übrigen Welt ringen müssen.
Für ein Requiem der Nationalstaaten ist es demnach zu früh
Deutschland (aber auch Österreich, Frankreich etc.) werden weiter bestehen, auch wenn sie in der EU schließlich mit anderen Staaten verschmelzen. Der reine Homo technikus bleibt dennoch eine Illusion, wenn auch eine, die Sympathie erweckt, weil sie die Gemeinsamkeit aller Menschen beschwört. Sie bleibt Illusion nicht nur, weil der Kosmopolitismus in Notlagen keine Hilfe gewährt – da hilft nur die politische Gemeinschaft, in der man verwurzelt ist. Doch der Homo technikus erweist sich außerdem noch aus einem weiteren Grund als unvollständig. Man kann sehr wohl alle vergangenheitsbezogenen Narrative vollständig entsorgen und auf diese Weise den geschichtslosen, geschichtsvergessenen Menschen erschaffen, aber das Grundbedürfnis des Menschen nach einem Narrativ, das seinem Leben Sinn und Zweck verleiht, ist damit nicht aus der Welt geschafft. Diesen Sinn können weder Technik noch Wissenschaft bieten (auch wenn beide das individuelle Leben zeitweise ganz ausfüllen können, weil gemeinsame Arbeit und Ziele eben diesen übergeordneten Sinn jenseits der Technik selbst darstellen).
In pervertierter Form hat Geschichte
ihre Herrschaft niemals eingebüßt. Es nützt nichts, dass der chinesische Techniker seinem Gegenüber in den USA in Denken und Lebensgewohnheiten zum Verwechseln ähnlich ist, der eine hat sein Können und Wissen für die Macht und den Reichtum Chinas einzusetzen, der andere für die Macht und den Reichtum der USA. Schon heute läuft das konkret darauf hinaus, dass der eine für die Nuklearwaffen arbeitet, mit denen im Kriegsfall die USA ausgelöscht werden können, während sein spiegelbildliches Pendant genau dieselbe Aufgabe nur eben für das eigene Land erfüllt. Unsere Forderung nach der Gleichheit aller Menschen erweist sich als ohnmächtig gegenüber der Geschichte, die uns gerade jetzt wieder beherrscht, nämlich in Gestalt elementarer materieller Interessen.
Und diese moderne Geschichte, welche da durch die Hintertür wieder eintritt, ist viel primitiver, als jene, welche die Millennials zuvor durch die Vordertür entsorgten. Sie äußert sich in Gestalt solcher populistischen Vorurteile, wie Donald Trump sie täglich aus dem Ärmel geschüttelt hatte, z.B. wenn er vom „chinesischen Virus“ sprach. Von solchen Fake News der modernen Geschichte lässt sich der Homo technikus durchaus verführen, wenn es um die Verteidigung der eigenen Interessen geht.
Damit rückt der grundlegende Konflikt
ins Licht, der uns durch das 21. Jahrhundert begleiten wird. Einerseits hat die uniforme weltweit vorherrschende technische Zivilisation den Homo technikus hervorgebracht und dadurch vor allem in jungen Menschen ein Bewusstsein von der Gleichheit aller Menschen hervorgerufen. Andererseits hat diese Zivilisation aber auch den Anspruch auf einen Lebensstandard genährt, der in einer Welt von acht Milliarden Menschen nicht mehr eingelöst werden kann, die mit versiegenden Ressourcen und grassierender Naturvergiftung konfrontiert ist.*4* Das Rangeln um diesen Anspruch führt zwangsläufig zum Kampf gegen alle Rivalen, welche die eigene Stellung bedrohen.
Die totgesagte Geschichte kehrt zurück,
denn der durch feindliche Narrative gespeiste Bruderkampf, der einst die Völker Europas in jahrhundertelangen Kämpfen miteinander entzweite, wurde nur auf eine höhere Ebene verlagert. Die Stammesidentitäten bleiben bestehen, aber nicht in der harmlosen Form als Patriotismus, also der Liebe zur eigenen Heimat und der mit anderen Menschen geteilten Geschichte, sondern als ideologischer Einzigkeitswahn der großen Mächte. Dessen populistische Varianten sind sehr viel gröber und primitiver, weil sie weniger in dem liebevollen Umgang mit der eigenen Vergangenheit bestehen (sofern diese einen solchen Umgang verdient) sondern in der Verketzerung der Rivalen. Unter diesem Wahn findet das Rennen der Nationen gegenwärtig zwischen den großen Mächten USA, China, Russland und Europa statt – angesichts des Fortschritts unserer Waffen aber mit dramatisch potenzierter Gefahr.
Verschärft wird das Problem zusätzlich dadurch,
dass es nichts nützt, wenn nur ein Teil der Welt, sagen wir Deutschland, die Notbremse zieht. Deutschland ist nur für minimale zwei Prozent der gesamten CO2-Emissionen verantwortlich. Natürlich könnte es sich einer Vorbildwirkung rühmen, wenn es auch diese restlichen zwei Prozent auf null reduziert. Doch was nützt dies, wenn die anderen nicht folgen, sondern am Ende nur froh darüber sind, dass die Deutschen als Rivalen nicht mehr in Frage kommen, weil sie ihre Industriemacht an andere abgeben und in einem Zustand der Armut versinken? Darin liegt die eigentliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts, und sie lässt sich nur dadurch bewältigen, dass die Menschheit sich einer gemeinsamen Autorität unterwirft – im günstigsten aber eher unwahrscheinlichen Fall wäre das die UNO – welche allen zugleich denselben Verzicht auferlegt. Dann – aber wirklich nur dann – könnte das Bewusstsein von der Gleichheit der Menschen jenen ewigen Frieden bewirken, eine Vision, welche Immanuel Kant schon vor mehr als zweihundert Jahren beschwor.
*1* Geradezu ein moderner Avatar des Homo technikus ist der indisch-stämmige Parag Khanna mit seinem Buch: „Das Zeitalter der Migration“. Auf nahezu fünfhundert Seiten werden da Gott und die Welt von A bis Z abgehandelt. Dabei scheint der Autor die Klimakrise – und zwar in ihrer gefährlichsten Ausprägung mit einer Erhöhung der Durchschnittstemperaturen von bis zu vier Grad – als unabwendbar vorauszusetzen. Das nützt ihm, weil er damit die These bekräftigt, welche dieses unendlich geschwätzige (wenn auch gut dokumentierte) Buch von Anfang bis Ende als ein Leitmotiv begleitet: Uneingeschränkte Migration sei nicht nur die einzige Rettung, sie sei das Evangelium für die Welt. In diesem Buch (ein Spiegelbestseller) wird Verbrüderung nicht als politisch durchdachtes Programm vorgestellt, sondern sie wird dem Leser wie eine Droge verabfolgt.
*2* Der Spiegel ruft im Haupttitel seiner jüngsten Ausgabe (Spg 14.21: „Die Hoffnung stirbt – stimmt – zuletzt“) zu Optimismus auf. Wie jeder andere Bürger kann sich der Verfasser dieses Artikels allerdings auch nur auf die führenden Experten verlassen. Angefangen von Herman Daly, dem intellektuellen Wegweiser der Ökobewegung, bis hin zu William Rees, dem Erfinder des ökologischen Fußabdrucks, entwerfen diese ein völlig anderes Bild.
*3* In dem genannten Artikel zeigt der Spiegel, wie Wunschdenken geht. Einerseits heißt es: „Nun ist es gewiss ein Gebot der Verantwortung, Entscheidungen auf Grundlage aktuell vorhandenen Wissens zu treffen.“ Aber kurz danach wird diese Aussage schnell wieder entkräftet: „Eine englische Lebensweisheit lautet: Expect the unexpected, erwarte das Unerwartete. Der Mensch, zumal der deutsche, ist darin nicht besonders gut.“ Also: Liebe Deutsche, so glaubt doch bitte an den Deus ex Machina!
*4* Auch hier predigt der Spiegel das Wunschdenken. Es ist richtig, wenn er sagt: dass die Weltbevölkerung „bis 2050 um etwa zwei Milliarden auf dann fast zehn Milliarden Menschen wachsen /wird/, ja, und das wird in manchen Regionen zu schweren Krisen führen. Aufs Ganze der Weltbevölkerung gesehen verlangsamt sich danach aber das Wachstum und wird nur noch in wenigen Gebieten problematisch sein“. Ist es wirklich nicht mehr problematisch, wenn dann alle zusammen dann einen Lebensstandard praktizieren, der vier und mehr Globen verbraucht? Und was ist von folgender Aussagen zu halten: „Das Ziel einer maximalen Erwärmung um zwei Grad bis zum Jahr 2100 ist in greifbare Nähe gerückt. Wenn sich die Länder an ihre Zusagen halten – und es werden ja noch weitere hinzukommen –, steigen die weltweiten Durchschnittstemperaturen bis 2100 um 2,1 Grad.“ Ja, aber genau hier liegt das Problem. Bisher deutet nichts darauf hin, dass westliche Länder, geschweige denn die Entwicklungsstaaten diese Zusagen einhalten können, ohne ihrer Bevölkerung einen einschneidenden Verzicht zuzumuten. Dazu aber ist – aus den im Text genannten Gründen – bisher kein Land ernstlich bereit.
Von Dr. Johannes Rauter bekomme ich folgende Rückmeldung:
„… brilliant minds think alike…“=)
Sehr geehrter Herr Jenner,
ja ich stimme mit Ihnen überein in all den Schwerpunkt-Aussagen
ihrer jüngsten Veröffentlichung.
Kleine Anmerkung: Deutschland ist zwar nur für 2% der schädlichen Gase
verantwortlich, macht aber nur 1% der Weltbevölkerung aus,
das müsste man dazu sagen.
Und wenn Technik helfen sollte – wir haben ja gar keine andere Wahl – dann muss der „Norden“ die Technologien entwickeln, die uns retten könnten und der „Süden“ hat die Verantwortung sein fatales, religionsgetriebenes Bevölkerungs-
wachstum einzubremsen. Interessant: Niemand wagt dieses Thema anzusprechen.
Frohe Restostern
Johannes Rauter