Starke Männer, schwache Völker – die ungewisse Zukunft der Demokratie

Ein kritischer Rezensent müsste diesen Essay wohl wie Wikipedia mit dem Hinweis begleiten, dass „es noch an Belegen fehle„. Ich wage es dennoch, ihn zu veröffentlichen, weil ich meinerseits fürchte, dass zu diesem Thema wohl nie genügend Belege vorhanden sind – auf jeden Fall aber sehr viele sehr verschiedene Meinungen. Ich biete nur Impressionen, jeder möge sie auf seine Art und mit seinem – vielleicht besseren – Wissen ergänzen.

Außer Streit dürfte wohl stehen, dass die Demokratie in vielen Teilen der Welt unter scharfem Beschuss steht, und zwar auch dort, wo sie seit langem verankert ist – wie in den USA – oder wo sie – wie in Russland – erst vor kurzem überhaupt eingeführt worden ist. Doch starke Männer warten auch bei uns in Europa auf ihre Stunde oder haben sie für sich selbst bereits wahr gemacht. Das gilt für die Kaczynski-Wende in Polen, für die Machtergreifung von Orban in Ungarn und wird wohl schon bald wieder für Matteo Salvini gelten, der auf dem Sprung steht, um die derzeitige Regierung Conte aus dem Amt zu drängen.

Der Aufstieg der starken Männer

scheint umso unaufhaltsamer zu sein, als einige von ihnen ohne Zweifel sehr großen Erfolg hatten oder immer noch haben. Die Erneuerung Chinas unter einem diktatorischen und im Umgang mit seinen Bürgern keineswegs zimperlichen Regime, ist zumindest in materieller Hinsicht die Geschichte eines atemberaubenden Erfolgs. Niemals zuvor ist es einem Staat gelungen, eine so große Zahl von Menschen in so kurzer Zeit aus unerträglicher Armut zu reißen und vielen von ihnen sogar zu Wohlstand und Sicherheit zu verhelfen. Wie immer wir in Europa über diesen Aufstieg auch denken mögen, in der übrigen Welt wird er bewundert, beneidet oder auch schon gefürchtet. Der derzeitige Staatschef Xi Jinping verkörpert wie kein anderer den Typus des starken Mannes, der alle Kräfte des Aufstiegs bündelt und zugleich alle Kräfte des politischen Widerstands gnadenlos unterdrückt – sie, wenn es sein muss, auch physisch beseitigt. Es wäre zu einfach, darin nur Unterdrückung zu sehen, denn umgekehrt werden ja alle Kräfte der Innovation in höchstem Grade ermuntert, gefördert, geradezu angetrieben. Nur wer darüber hinaus auch politische Freiheit verlangt, also das Recht, das geltende System in Frage zu stellen oder gar aktiv zu bekämpfen, der tut gut daran, das Land zu verlassen, bevor man ihn mundtot macht.

Niemand sollte behaupten, dass wir dieses janusköpfige Regime

aus drohender Fratze und ermunterndem Lächeln im Westen nicht kennen. Im Gegenteil, wir kennen es nur zu gut, aber auf einer tieferliegenden Ebene. China wird nämlich so wie bei uns jeder moderne Konzern verwaltet. Bekanntlich plant und beschließt dieser seine Politik ebenso wenig auf demokratische Art, also durch Abstimmungen der Belegschaft – Entscheidungen werden schlicht vom Vorstand diktiert. Wer sich nach dessen Vorgaben richtet, wird gefördert, ermuntert und oft mit exorbitanten materiellen Belohnungen zufriedengestellt; wer sich widersetzt, der wird bedenkenlos gefeuert. Mit wenigen Ausnahmen (in großem Maßstab in Japan und eher versuchsweise auch in Jugoslawien) war das kapitalistische Wirtschaftsmodell nie demokratisch. Es war immer elitär, weil die am besten ausgebildeten, fähigsten Leute an der Spitze der Betriebe stehen sollten. Das ökonomische Modell des kapitalistischen Betriebes und der demokratische Staat standen daher immer in schroffem Gegensatz zueinander. Der Betrieb hatte die scharf umrissene, eindeutig definierte Aufgabe zu lösen, bestimmte Güter unter geringsten Kosten in maximaler Menge und Qualität zu erzeugen: ein rein technisches Problem, für dessen Bewältigung bloße Fachkompetenz genügt. Der Staat aber steht von jeher vor einer viel umfassenderen Herausforderung: Er soll seinen Bürgern nicht nur Wohlstand und Sicherheit geben – ein weitgehend technisches Problem -, sondern ihnen überdies das Gefühl vermitteln, in einer gerechten, humanen, solidarischen Gesellschaft zu leben, wo jeder seine Anlagen und Erwartungen erfüllen kann. In einem solchen Staat müssen auch die Schwachen eine Stimme haben, denn erst dadurch wird ein Staat gerecht, human und solidarisch. Das zu erreichen ist aber niemals eine rein technische Aufgabe gewesen, die sich mit bloßer Fachkompetenz bewältigen lässt.

Wann, d.h. unter welchen Bedingungen,

konnte es überhaupt dazu kommen kann, dass ein Staat auf die Schwachen im Lande hört und sie in Abstimmungen über das gemeinsame Wohl entscheiden lässt? Die Geschichte lehrt: Bis zur französischen Revolution – und noch eine ganze Zeit danach – haben sie in sämtlichen großen (!) Agrarzivilisationen diese Möglichkeit niemals gehabt. Die Schwachen hatten sich den Starken zu fügen – diese simple Regel galt im Großen und Ganzen während der vergangenen zehntausend Jahre nach der neolithischen Revolution. Und wer diese Schwachen waren, lässt sich ebenfalls ziemlich genau bestimmen. Es handelte sich um jene neunzig Prozent der Bevölkerung, die den Lebensunterhalt für die oberen zehn Prozent einschließlich ihres bewaffneten Arms erwirtschaften mussten.  Wenn ihnen das nicht gefiel, wurden sie mit Gewalt dazu gezwungen. Unsere ganze Zivilisation lastete, wie Will Durant bemerkte, auf dem Mann mit der Hacke oder dem Pflug.

Der früh verstorbene Freund Michel de Montaignes,

Etienne de la Boétie, hatte zwar gemeint, dass die Massen ihr Joch auf einfache Art abschütteln könnten. Dazu müssten sie nur begreifen, dass sie die überwältigende Mehrheit im Lande bilden. Würden sie alle auf einmal ihre Mitarbeit aufkündigen, dann gerieten die Throne augenblicklich ins Wanken. Doch offenkundig war das eine Illusion; de la Boétie übersah eine folgenschwere Entdeckung, welche etwa gleichzeitig mit der neolithischen Revolution gemacht worden war.  Ausbeutung der vielen durch einige wenige war überhaupt kein Problem, weil eine gewaltige Menge verstreuter und durch ihre Arbeit an die Scholle geketteter Bauern mühelos durch eine kleine Zahl bewaffneter und mobiler Kämpfer beherrscht werden konnte.

Die Schwachen gelangten erst in dem Augenblick

zu eigener Stimme und Macht, als ihre Mitarbeit im Staat nicht nur unverzichtbar war – das war die Versorgung der Gesellschaft mit Lebensmitteln schon immer – sondern sie die Möglichkeit besaßen, kollektiven Widerstand auszuüben. Demokratie setzt eine Verschiebung von Macht voraus. In kleinen Gemeinschaften wie der Schweiz war es den arbeitenden Menschen (einer überwiegend in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung) schon vor der industriellen Revolution gelungen, sich selbst zu verwalten, in bevölkerungs­reichen Staaten war dies erst nach der französischen und amerikanischen Revolu­tion der Fall, wo sich aufgrund der Industrialisierung die Menschenmassen im urbanen Raum ballten und auf diese Weise gefährliche Zentren des Aufruhrs gebildet wurden.

In Frankreich war es das Bürgertum, das einem seit Niederschlagung der Fronde zunehmend in die Funktionslosigkeit abgeglittenen Adel die tatsächliche Macht über den Staat entriss. Es war der Demos der Bürger, der die bis dahin alleinherrschende adlige Elite ablöste, doch auch das Bürgertum war noch eine Minderheit. Erst als die industrielle Revolution Tausende von Menschen auf dem engen Raum von Fabriken zusammenführte, bekamen die Ausgebeuteten Macht. Sie erkannten, dass sie durch Streiks das Leben in einem Staat völlig lahmzulegen vermochten. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen die Tatsache anerkennen, dass erst der Besitz tatsächlicher Macht den kleinen Leuten eine Stimme verschaffte.  Erst damit wurde aus einem idealistischen demokratischen Programm eine in realer Macht verankerte demokratische Realität.

Nicht einmal diese Voraussetzung reicht aber aus,

um Demokratie zu ermöglichen. China verfügt über ein gewaltiges Hinterland mit Menschen, von denen ein Großteil weiter in Armut lebt. Solange dieses Reservoir der Partei zur Verfügung steht, kann sie jeden Aufstand von Arbeitern mühelos unterdrücken, denn sie kann die Protestierenden immer durch Menschen ersetzen, denen es noch schlechter geht und die daher nur zu froh darüber sind, die Posten der Aufständischen zu übernehmen. Der Historiker wusste es schon immer – der Philosoph muss es zu seinem Leidwesen erfahren:  Demokratie war niemals ein Geschöpf von Einsicht und Menschenliebe, sondern beruht auf Macht.

Das gilt natürlich auch für die Vereinigten Staaten, wo sich bei oberflächlicher Betrachtung ein anderes Bild zu ergeben scheint. Für die Pilgerväter waren Gleichheit und Gleichberechtigung eine Sache der religiösen Überzeugung, aber diese erstreckte sich eben nicht auf Menschen mit anderer Überzeugung und anderen Traditionen. Den Eroberern der Neuen Welt fiel es gar nicht ein, die Indianer oder gar die später ins Land verschleppten Menschen mit schwarzer Haut als gleich oder gleichberechtigt zu bewerten. Schon bald waren sie nicht einmal bereit, die großen Vermögensunterschiede zwischen den Christen selbst zu übersehen, geschweige denn die Unterschiede des Geschlechts. Deshalb blieb in den Vereinigten Staaten das Stimmrecht bis ins zwanzigste Jahrhundert auf weiße Männer beschränkt, die ein gewisses Mindestniveau an Eigentum vorweisen konnten. Diese Minderheit befürchtete durchaus zu Recht, andernfalls von den Armen auf dem Weg der Abstimmung expropriiert zu werden.

Echte Demokratie

nicht nur dem Namen nach, sondern in der Realität hat es in den USA wie in Europa eigentlich erst in den drei Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegeben, weil auf einmal die ganze Bevölkerung dazu benötigt wurde, um den einzigartigen Massenwohlstand zu schaffen und aufrechtzuerhalten, den die fossile Revolution zusammen mit dem technischen Fortschritt möglich machte. Hannah Arendt hat die beiden Formen der Revolution, welche in der zweiten Hälfte des 18ten Jahrhunderts den Auftakt der Demokratisierung gebildet hatten, also die französische und die amerikanische, miteinander verglichen und gab der letzteren, weil sie unblutig verlief, entschieden den Vorzug. Aber in beiden Revolutionen war ausschlaggebend, dass die Massen nun reale Macht gewannen, weil sie über wirksame Druckmittel verfügten, um ihren Forderungen Gehör zu verleihen. Solange das nicht der Fall war – d.h. an die zehntausend Jahre – waren sie zwar nicht immer, aber doch in der Regel nichts anderes als namenlose Arbeitstiere im Dienste von Minderheiten, die sie für ihre Zwecke rücksichtslos instrumentali­sierten. In anderen Worten: Starke Männer sind das Los schwacher Völker.

Die Zukunft der Demokratie

ist aus genau diesem Grund höchst ungewiss. Demokratie ist erneut gefährdet, weil ein starker Staat auf die Masse seiner Bürger heute viel weniger angewiesen ist als während der ersten drei Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Zwei Faktoren haben wesentlich zu dieser Änderung beigetragen. Einerseits steht eine Mehrheit von durchschnittlichen Arbeitern und Angestellten inzwi­schen in unmittelbarer Konkurrenz zu den Billiganbietern überall auf der Welt, sei es in Indien, China, Südamerika und in einigen Jahren wohl auch in Afrika. Wer bei uns seine Mitarbeit verweigert, der übt dadurch kaum noch besonderen Druck aus, weil er hundertfach durch billigere Arbeitskräfte ersetzt werden kann. Mehr und mehr Menschen sind aus dieser Sicht einfach überzählig. Aus rein ökonomischer Perspektive stellen sie sogar eine Last dar, weil der westliche Wohlfahrtsstaat ihnen über die Sozialhilfe weiterhin ein Mindesteinkommen garantiert. Überflüssig aber werden selbst immer mehr gut ausgebildete Bürger, weil sie durch Automation und künstliche Intelligenz ersetzt und in die Arbeits­losigkeit abgedrängt werden.

Tatsächlich ist kaum ein größerer Gegensatz

denkbar als der zwischen Nachkriegseuropa und unserer heutigen Situation. Damals haben Deutschland und andere westliche Staaten Menschen in Massen aus Italien und schließlich aus der Türkei abgeworben, weil die eigene Bevölkerung nicht ausreichte, um den Anforderungen einer florierenden Industrie im schnellen Wiederaufbau zu genügen. Heute sucht die Industrie zwar händeringend nach Spitzenkräften – diese sind in unserer Zeit so rar wie es das überdurchschnittliche Talent immer schon war – aber die Massen werden zunehmend weniger benötigt. Sie scheiden entweder aus dem Arbeitsprozess überhaupt aus und vergrößern das Potential der „Prekären“ und „Überflüssigen“ oder sie werden mit zunehmend geringeren Löhnen abgespeist. Das ist dann Vollbeschäftigung bei relativ oder sogar absolut sinkendem Lebensstandard.

Diese unheilvolle Entwicklung

ist inzwischen für sämtliche westlichen Staaten mit fallenden Wachstumsraten bezeichnend – und ebenso ist es die Erosion der Demokratie, weil die Massen eben nicht länger reale Macht besitzen: Sie werden nicht länger gebraucht. Nur so konnte es dazu kommen, dass die Vereinigten Staaten – nach dem letzten Weltkrieg eine Zeitlang demokratisches Vorbild für die ganze übrige Welt – heute de facto genau das sind, was Noam Chomsky nicht müde wird, seinem Land vorzuwerfen: eine Plutokratie, wo die oberen ein Prozent das Schicksal der unteren 99 Prozent bestimmen – und das, obwohl die äußeren rein formalen Attrappen der Demokratie bis zu Donald Trump durchaus noch in Kraft sind.

Aber eben auch nur die formalen Attrappen, denn Präsidentschaftskandidaten aus dem Volk werden in den USA einer Art von Spießrutenlauf unterworfen, um sie auf ihre Folgsamkeit zu testen. Jede einzelne der vielen aufeinanderfolgenden Wahlveranstaltungen verschlingt Unmengen von Geld, das zum größeren Teil aus Spenden stammt, welche die oberen ein Prozent vergeben – oder eben nicht vergeben. Auf diese Weise ist garantiert, dass selbst ein Mann aus dem Volk brav die Interessen der Plutokratie vertritt, denn andernfalls würde er schnell auf der Strecke bleiben.

Nur wenn die Schwachen Macht besitzen,

haben sie auch eine Stimme. Aber die Auslagerung der industriellen Produktion hat ihre Macht stark beschnitten, und das tut jetzt zusätzlich auch noch die Digitalisierung. Für die Demokratie verheißt diese Entwicklung natürlich nichts Gutes. Beidem ist allerdings entgegenzuhalten, dass der weltweit stattfindende Prozess der Urbanisierung jene Zerstreuung annullierte, welche Jahrtausende lang dafür verantwortlich war, dass die neunzig Prozent der auf dem Lande lebenden Bauern mühelos von einer kleinen Schar bewaffneter Söldner beherrscht werden konnten. Das ist nicht länger möglich. Die Konzentration so vieler, ja oft von Millionen Menschen auf dem engen Raum von Metropolen gibt unzufriedenen Massen die Möglichkeit, das urbane Leben vollständig lahmzulegen – ein Druckmittel, wie es in diesem Ausmaß niemals zuvor bestand. Die Occupy-Wallstreet Bewegung, die Gelbwesten in Frankreich, die Aufständischen in Hongkong und in Barcelona und an vielen anderen urbanen Brennpunkten der Welt sind ein Beweis dafür, dass diese Form des Massenprotestes sich in Zukunft weiter ausbreiten wird.

Nicht nur Einparteien-Diktaturen wie China

sondern auch westliche Staaten sehen die Gefahr und gehen – meist im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus – dazu über, sich dagegen durch eine immer stärkere Überwachung der eigenen Bürger zu schützen. Das bisher wohl perfekteste Überwachungssystem wurde in China aufgebaut. Dort wird der Bürger rund um die Uhr auf sämtlichen öffentlichen Plätzen überwacht und durch ein Punktesystem zur Raison gebracht. Je nach Botmäßigkeit oder widerspenstigem Verhalten teilt man ihm Minus- bzw. Pluspunkte zu. Er wird so umfassend ausspioniert, wie es in früheren Zeiten – auf weit unvollkommenere Art – nur der kirchliche Beichtstuhl vermochte, der aber seine Erkundungen nur selten an die weltliche Macht weitergab.

In westlichen Staaten ist die Überwachung der Bürger nicht ganz so weit fortgeschritten, aber der Versuchung, die immer billigere Hochtechnologie zu diesem Zweck einzusetzen, vermögen auch sie nicht zu widerstehen, zumal ein oder zwei Terroranschläge in der Regel genügen, um eine Mehrheit vom Nutzen staatliche Überwachung zu überzeugen.

Was wird sich in Zukunft als stärker erweisen,

die Fähigkeit der auf engem Raum konzentrierten Massen, ganze Städte und Staaten durch Demonstrationen funktionsunfähig zu machen, wenn man ihnen ihre Rechte oder Forderungen verweigert, oder die Fähigkeit einer Regierung, durch allgegenwärtige Überwachung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung die Massen mundtot und machtlos zu halten? Anders gefragt: Wenn „überflüssige“ Massen keine reale Macht besitzen, sind sie dann immer noch stark genug, wenn sie mit Zerstörung drohen? Werden schwache Völker das Aufkommen starker Männer verhindern?

Aber ist dies überhaupt die für die Zukunft

entscheidende Frage? Demokratie und Freiheit sind ein Luxus von Zivilisation und Wohlstand. Gesellschaften in Armut, Not oder gar Krieg unterdrücken die Freiheit. Sie rufen nach starken Männern, um nach innen wie außen Geschlossenheit zu erreichen. In dieser Tatsache ist auch der Grund dafür zu finden, warum Konzerne fast niemals demokratisch verwaltet werden: Sie leben in beständigem Krieg, nämlich im Wettbewerb, miteinander. Da gilt es, sämtliche Kräfte zu bündeln und auf wechselnde Herausforderungen blitzschnell zu reagieren.

Freiheit setzt Sicherheit, also das Gegenteil von ständiger Bedrohung, voraus. Für diejenigen, die einmal von ihr gekostet haben, ist sie das höchste Gut überhaupt. So gesehen haben die Völker Europas jetzt schon Grund, nostalgisch auf jenes halbe Nachkriegsjahrhundert zurückzublicken, wo Freiheit und demokratische Selbstbestimmung ihnen in historisch einzigartigem Umfang gewährt worden waren. Ich halte es dennoch für falsch, in der Renaissance starker Männer nicht mehr zu sehen als den Rückfall in Zeiten des Unheils.

Zumindest sehe ich darin ein unvermeidbares Unheil,

denn die beiden größten Herausforderungen des 21ten Jahrhunderts, die ökologische Katastrophe und die Gefahr der atomaren Selbstauslöschung, werden auf demokratische Art nicht überwindbar sein. Zwar hat die Welt sich eine demokratische Repräsentanz gegeben, die Vereinten Nationen, aber diese Organisation ist längst zu einem ohnmächtigen Spielball der Supermächte geworden. Nicht sie, sondern diese werden darüber entscheiden, ob Mensch und Natur das gegenwärtige Jahrhundert überstehen, weil sie im letzten Moment das apokalyptische Wettrüsten beenden und der ökologischen Katastrophe ein Ende setzen.

Wir müssen darauf hoffen, dass starke Männer an der Spitze der Supermächte die doppelte Bedrohung erkennen und um des gemeinsamen Überlebens willen gemeinsame Entschlüsse fassen.

Von Eginald Schlattner, dem Schriftsteller, erhalte ich per Mail folgende Nachricht:

Genau! Bewundernswert auch als hermeneutische Leistung. Und ein Genuss als Sprache.

Gott befohlen

Dr. h.c. Eginald Norbert F. Schlattner

Emer. Pfarrer

Gefängnisseelsorger

557210 Roşia / SB, Parohia evang.

ROMÂNIA,

Per eMail von Prof. William E. Rees, dem „Vater“ des ökologischen Fußabdrucks:

Dear Gero Jenner –

Having just read your latest piece on the frailty of democracy, I am (again) left by two impressions, the first somewhat vague and amorphous, the second more concrete: 
1) Your interpretations of history, both recent and more remote, have a kind of assured insistence that sets my own untutored impressions resonating.  To put it another way, your writing is like an intellectual mold that forces together and gives coherence to previously disconnected elements of both my conscious thinking and subliminal feelings of ill-ease.  The end result is greater confidence in my own sense of foreboding. 
2) I am forcefully reminded of how woefully and arrogantly narrow was my ‚training‘ as a scientist.  Some years ago I realized that the world would be a better place if no one could pursue a degree or career in science without first succeeding in liberal arts/humanities. Each of your columns reinforces this view. 

That said, you are not infallible! Something in your recent piece nudged me to re-read an earlier column, It’s mankind, stupid, (indeed!) where you note that no place has greater numbers of billionaires than China.  Perhaps this was just a rhetorical device but, for the record, it seems that:
„The United States has the most billionaires in the world, with 420 more than the next closest country, China, according to Wealth-X’s 2019 Billionaire Census report. There are 705 billionaires in the United States, 285 in China, 146 in Germany, 102 in Russia, and 97 in the United Kingdom.
„The combined net worth of US billionaires exceeds the total billionaire wealth of the next eight highest-ranked countries (China, Germany, Russia, United Kingdom, Switzerland, Hong Kong, India, and Saudi Arabia).“
Just being nit-picky, but there it is.

Best wishes,

Bill Rees

aka
William E Rees, PhD, FRSC
Professor Emeritus
UBC/SCARP

Antwort:

Dear Mr. Rees,
I hope you don’t mind that I publish your comment at the end of my article. You are, of course, perfectly right to remind me how far I am from infallibility. When too much trusting my sources, I do not submit the evidence, especially numbers and figures, to the degree of scrutiny they would require – my apologies! (Mistake is not corrected).
Let me add that I am always very glad to hear your comments. They are more helpful than those I am accustomed to – and which I mostly don’t even mention. Natural scientists are wont to overlook what Pascal called „la raison du coeur“, while those who listen to that secret voice are in danger of sometimes getting their numbers wrong.

Many thanks
Gero Jenner

Von Herr Loettel, ehemaliger Pfarrer in Magdeburg, erhalte ich per Mail folgende Nachricht:

Lieber Gero  Jenner!

Mit Interesse habe ich Ihren Aufsatz über die Demokratie und die Macht gelesen. Besonders berührt und wiederum auch geängstigt hat mich Ihre Bemerkung über die größte Herausforderung des 21. Jh. über die ökologische Katastrophe und eine Selbstauslöschung der Menschheit – ja, ich meine sogar des Lebens auf der Erde!- durch die Atombomben, die es dazu ja in genügenden Maße gibt. Ich sehe das auch so wie Sie.

Aber nun mein Zweifel an den starken Männern, die „darüber entscheiden“ sollen „ob Mensch und Natur das gegenwärtige Jh. überstehen“. Ich glaube nicht mehr an den guten Fürsten. Das gab’s vielleicht einmal als die geistige Verfassung der Menschen noch  humaner war. Aber den Trumps, Jelzins, Orbans, Salvinis, Bolsoanros diese Größe zuzutrauen, geht mir über meine Hoffnung.

Und nun die „überflüssigen“ Massen, die Zivilgesellschaft? Ich würde gern dazu ihre Meinung und zu unserer friedlichen Revolution 1989 hören. Waren wir da stark? Oder nicht stark? Oder waren wir, gerade weil wir eine Minderheit in der DDR waren, eben doch stark? Die Stasi hatte uns alle im Visier und auch schon Internierungslager mit namentlicher Zuordnung (Stasi-Akte!) einge-richtet. Lastwagenweise Tonmitschnitte unserer Aktivitäten u.u.u. Und doch haben wir diese Stasi aufgelöst, ja sogar das Verbrennen ihrer Akten verhindert, obwohl sie bewaffnet waren. Ich ließ mich einmal zur Demo mit und in der Straßenbahn in der Kurve gegen einen Lederjackenträger fallen, und tatsächlich er trug ein Schulterhalfter, er stieg auch am Domplatz aus. Auf den umliegenden Dächern lagen die Kampfgruppenangehörigen mit scharfer Munition. Ein junger Mann im Dom sagte: „Ja, mein Vater liegt mit da oben!“ Als er heimkam sagte sein Vater zu ihm: „Du, ich habe mein Gewehr weggeworfen!“ So war das, kreuzgefährlich, machtlos, und doch brach diese Macht zusammen und wir paar Menschlein (ca. 10% der Bevölkerung), aus der Zucht und Aufklärung der kirchlichen Gemeinden, übten den „aufrechten Gang“[1] und brüllten ihnen auf dem Domplatz unsere Meinung entgegen. Der damalige Oberbürgermeister, der mich noch Wochen zuvor zu disziplinieren versuchte, indem er mich im Kulturbund ansiedeln wollte, aber “dem Loettel sind keine Führungsaufgaben zu übertragen!“ (Stasi-Akte O-TON). Dieser OB ließ sich von unserer Superintendentin und dem Domprediger dazu bewegen, „dass nicht geschossen würde, wenn die Demonstranten auch keine Gewalt anwendeten“. (Er hatte das Sagen in Magdeburg! Und nicht der SED-Vorsitzende Eberlein, der gesagt haben soll: “Kartätscht sie noch nieder diese Randalierer, bis zur letzten Mumsel!“). Also wie war das mit der Macht, der Macht-verteilung?

Und heute, könnte es nicht eine Aufklärung in der Zivilbevölkerung geben, die ebenso zum „aufrechten Gang“ führt, die eine nicht vorhersehbare Macht und Lösung herbeiführt? Ich denke da an dieses „Wunder“ um die Greta Thunberg. Einsam und allein saß sie vor dem schwedischen Parlament mit einem Plakat. Und nur Wochen später demonstrierten die  „Fridaysforfutures“ von Sidney bis NewYork, von Johannesburg bis Bergen mit Tausenden von Schülern für ihre Zukunft. Ist das nicht eine Metapher und ein Menetekel für erfolgreiche Umkehr zum Leben und zum Frieden? Ich lasse mir die Hoffnung nicht nehmen, sie weist weit über jeden Optimismus hinaus. Aber ich baue diese Hoffnung nicht auf  die starken Männer, die mir eher wie skrupellose Clowns erscheinen.

In Hoffnung und mit Schalom , Ihr Gerhard Loettel

Meine Antwort:

Lieber Herr Loettel,

der von Ihnen geschilderte Aufstand gegen die Staatsmacht, der zur Wiedervereinigung Deutschlands führte, ist ein schönes Beispiel für die segensreichen Auswirkungen einer Mobilisierung von unten. Leider gibt es aber jede Menge von Beispielen für das genaue Gegenteil. Elias Canetti schildert davon eine große Zahl in „Masse und Macht“, Gustave Le Bon ebenso in „Die Psychologie der Massen“. Es wäre schön, wenn man sich darauf verlassen könnte, dass der einfache Bürger immer das Gute will. Leider ist das aber wohl eine Illusion: Der Gegensatz von Gut und Böse ist nicht nur bei den Herrschenden, sondern ebenso bei der Menge zu finden – beim Volk, wie man früher sagte.