Im Altertum gab es offene Sklaverei, d.h. die Ausnutzung fremder Arbeit, um selbst keine Arbeit und Leistung verrichten zu müssen. Heute gibt es, was ich als verdeckte Sklaverei bezeichne. Die Leistung anderer Menschen macht sie sich gleichfalls zunutze, aber sie tut dies auf raffinierte Weise, nämlich so, dass die davon Betroffenen dies in der Regel nicht einmal bemerken, geschweige denn die sie ausbeutenden Herren kennen. Kapitalerträge, die ich im Schlafe verdiene, sind im strikten Sinne nichts als eine Form subtilerer Sklaverei, denn genau wie diese beruhen sie auf der Arbeit und Leistung anderer Menschen. Und die Parallele reicht noch ein Stück weiter: So wie die gesamte Antike die Ausbeutung anderer Menschen als etwas Selbstverständliches akzeptierte, geschieht dies heute mit ihrer verdeckten Variante: Von der zeitgenössischen Wissenschaft wird sie verschwiegen, schön geredet oder tabuisiert.
Als hervorragender Vertreter für diese Tendenz bietet sich der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty an, der sich allerdings vor kurzem vom Saulus zum Paulus gewandelt hat. Hervorragend verdient er deswegen genannt zu werden, weil er ein erklärter Linker ist, der kein Hehl aus seiner Kritik am neoliberalen Modell macht, wie es von den Vereinigten Staaten propagiert und weltweit durchgesetzt wurde. In seinem ersten Werk L’Économie des Inégalités, 2008 (etwa: Ökonomische bedingte Ungleichheit) ist er für die wahren Ursachen heutiger Ungleichheit noch blind, ganz anders nach seiner Wandlung, wie sie in seinem Aufsehen erregenden Werk Le capital au XXI siècle, 2013 (Capital in the Twenty-First Century) sichtbar wird.
Auf die Einsichten des bedeutsamen zweiten Werkes werde ich erst am Ende zu sprechen kommen. Es lohnt sich, mit dem ersten Werk zu beginnen, denn der Vergleich beweist, welch ungeheure Anstrengungen es selbst einen führenden Ökonomen kostet, sich der Wahrheit schrittweise anzunähern. Im ersten der beiden Bücher ist nämlich noch keine Rede davon, dass unser modernes Wirtschaftssystem nur noch partiell auf Leistung, Verdienst und Können beruht. Im Gegenteil wird die Tatsache geflissentlich ausgeblendet, dass ein immer breiterer Strom von Einkommen und Vermögen ohne jede Leistung, jedes Verdienst und ohne alles Können zustande kommt.
Zwar wird der Leser durchaus darüber aufgeklärt, dass wir nur über sehr unzulängliche Daten verfügen, wenn es um die großen Vermögen und die daraus fließenden Einkommen geht. Die Bezieher von Kapitaleinkünften haben begreiflicherweise kein sonderliches Interesse daran, diese gegenüber Fiskus und Öffentlichkeit bloß zu legen – ganz im Gegensatz zur Situation der abhängig Beschäftigten, deren Einkommens- und Vermögensverhältnisse dem Staat in der Regel auf Euro und Cent bekannt sind.
Aber Piketty sieht auch gar keinen dringenden Anlass, sich dem großen Geldkapital und den daraus fließenden Einkünften zuzuwenden. Quantitative Untersuchungen an führenden Großunternehmen hätten gezeigt, dass deren Einkommen etwa zu einem Drittel aus Kapital, jedoch zu zwei Dritteln aus Arbeit resultiere, und zwar mit geringen Schwankungen während der vergangenen hundert Jahre. Mit dem vom Kapital erwirtschafteten Drittel müsse der Betrieb aber außerdem noch die fortdauernde Ersetzung und Erneuerung des Maschinenparks sowie die fälligen Steuern bezahlen. Am Ende bleibe für Dividende oder Zinsen nur ein bescheidener Teil zurück. Dieser geringe Beitrag des Kapitals im Verhältnis zur Arbeit ergebe sich jedoch nicht nur im Hinblick auf die Betriebe, sondern auch dann, wenn man den jeweiligen Anteil zum Einkommen der Haushalte in Betracht zieht. Hier komme man nämlich auf einen Durchschnittswert um die 10% für Kapitalerträge, und zwar in sämtlichen westlichen Staaten. Wirklich entscheidend für die bestehende Ungleichheit sei daher die Verteilung der restlichen neunzig Prozent Arbeitseinkommen – genau hier müsse der Staat mit den Mitteln steuerlicher Umverteilung korrigierend eingreifen.
Welche Wirkungen sind von Pikettys Vorschlägen zu erwarten?
Wer fühlt sich angesichts solcher Reformvorschläge nicht an das Altertum erinnert? Auch damals hat es einzelne Denker gegeben, die für einen humaneren Umgang mit Sklaven plädierten, aber die Institution der Sklaverei selbst wurde nicht in Frage gestellt. Piketty hat sich in dem genannten Buch die gleiche Haltung zu Eigen gemacht. Er schlägt Reformen vor, die das grundsätzliche Unrecht leistungsloser Einkommen nicht einmal in Frage stellen, geschweige denn einen Beitrag zu seiner Überwindung liefern. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ‚seriöse Forschung’ ihr Ziel vor allem darin erblickt, die Bedeutung leistungsloser Bereicherung als vernachlässigenswert gering hinweg zu erklären. Ist von den Rezepten Pikettys überhaupt Erfolg zu erwarten?
Sicher nicht. Es steht zwar fest, dass die großen Einkommen und Vermögen kurzfristig überwiegend durch Arbeit geschaffen werden und keinesfalls durch Dividende und Zinsen (sieht man einmal von der ebenso oft erfolglosen wie erfolgreichen Finanzspekulation ab). In zeitlich begrenzter Perspektive entsteht gravierende Ungleichheit in der Tat durch den markanten Gegensatz zwischen Fünf-Euro-Jobs und den phantastischen Einkommen für Spitzenposten in Bankwesen und Industrien. Doch hierin liegt eigentlich gar kein gravierendes Problem. In einer Gesellschaft, die ausschließlich persönliche Arbeit und Leistung honoriert, würde diese Art Ungleichheit keinen Schaden anrichten, denn alle durch Leistung bedingte Ungleichheit geht mit dem Ausscheiden der betreffenden Leistungsträger auch wieder verloren – sie bliebe niemals an bestimmten Familien oder sozialen Schichten haften, und nicht einmal über längere Zeit an einzelnen Individuen. Anders gesagt, Einkommen aus Leistung entstehen und verschwinden wie die betreffende Leistung selbst. Sie bewirken nur momentane, aber keine fortdauernde Ungleichheit, die sich zu den Privilegien bestimmter Familien oder sozialer Schichten verfestigt. Daher braucht sie mit den von Piketty vorgeschlagenen fiskalischen Reformen auch gar nicht bekämpft zu werden.
Ein falsches Verständnis
Doch eine solche Harmlosigkeit weist das neoliberale Wirtschaftssystem gerade nicht auf. Inzwischen ist es ein erwiesenes Faktum, dass sich Unterschiede der Einkommen und Vermögen sehr wohl zugunsten bestimmter Familien und sozialer Schichten verfestigen und perpetuieren, und zwar in sämtlichen westlichen Staaten: Statistisch gesehen, bleiben die einen dauerhaft prekär, die anderen dauerhaft an der Spitze. Die Gleichheit der Chancen, das Fundament der modernen demokratischen Gesellschaft, wird mehr und mehr ausgehöhlt und zur Illusion entwertet.
Doch darauf geht Piketty in dem genannten Buch über die Ungleichheit gar nicht ein. Er präsentiert eine synchrone Bestandsaufnahme der innerbetrieblichen Verteilung der Erträge aus Kapital- und Arbeit auf der einen Seite und ihrem jeweiligen Anteil am verfügbaren Einkommen der Haushalte auf der anderen. Was ihm bei dieser Betrachtungsweise entgeht, ist die diachrone Perspektive, die eine Anhäufung von leistungslosen Kapitalerträgen in der Zeit bewirkt, also in einem kumulativen Prozess besteht. Zwar ist es die unterschiedliche Entlohnung der Arbeit, also der persönlichen Leistung, welche in synchroner Sicht die größte Ungleichheit produziert – darin ist Piketty Recht zu geben -, aber es ist das leistungslose Einkommen, welches diese Ungleichheit dauerhaft zementiert und kumulativ verstärkt.
Die Beispiele sind so allgemein bekannt, dass es schon besonderer Blindheit bedarf, um sie in einem Buch über Ungleichheit auszuklammern. Wer ein großes Vermögen sein Eigen nennt, sei es aufgrund eigener Leistung oder dank einer Erbschaft – sagen wir ein Vermögen von mindestens einer Million Euro – der kann dieses Anfangskapital ohne weiteren eigenen Leistungsaufwand einfach dadurch vermehren, dass er „es für sich arbeiten lässt“, genauer gesagt, dass er andere arbeiten lässt, denn diese anderen müssen ihn dafür in Dividenden oder Zinsen bezahlen.
Aber sind die Bedingungen nicht identisch für Groß und Klein?
Aber gilt das nicht auch für den kleinen Sparer, so dass letztlich alle in gleichem Maß profitieren? Eben nicht – das ist die Lüge, die der verdeckten Sklaverei als willkommene Tarnung dient. Zwar trifft es zu, dass beide, die Besitzer großer wie kleiner Vermögen, konsumieren müssen und sparen können. Konsumieren sie, so müssen beide, ob sie wollen oder nicht, ihren Obolus an die Betriebe entrichten, weil diese den Preis für die von ihnen verkauften Produkte natürlich um den Betrag der Dividende und Zinsen erhöhen, die sie ihren Geldgebern schuldig sind. Anders gesagt, müssen beide, die Besitzer kleiner wie großer Vermögen, in ihrer Rolle als Konsumenten die Kapitalerträge der Geldgeber finanzieren.
Und beide treten in der Regel auch als Anleger (Sparer) auf. Mit ihrem Ersparten (das dann über Börse oder Banken in die Betriebe gelangt, also im Austausch gegen Wertpapiere oder Bankguthaben) erzielen sie dann genau den entgegengesetzten Effekt: Gleichgültig ob sie nun kleine Leute oder große Anleger sind, werden beide nun selbst zu Empfängern von leistungslosen Erträgen.
Ein fundamentaler Gegensatz – die unteren 90% zahlen die Einkommensteuer gleich zweimal
Dieser Eindruck täuscht jedoch über den wahren Sachverhalt hinweg. Tatsächlich werden die einen in diesem Spiel zu Verlierern, die anderen zu Gewinnern: Sie nehmen eine diametral entgegengesetzte Stellung ein. Um zu leben – manchmal auch nur, um zu überleben – müssen die ersten den größten Teil ihrer Einkommen konsumieren. Ihre Ersparnisse sind im Vergleich minimal oder gleich null. Wer hingegen ein weit über den üblichen Konsum hinausgehendes Einkommen bezieht, der legt den größten Teil davon zur Seite. Was er mit seinem Konsum und letztlich mit seiner Arbeit an leistungslosem Einkommen (in Gestalt von Dividenden und Zinsen) an andere abtritt, ist äußerst gering im Verhältnis zu dem, was er durch eigene Ersparnisse und die daraus fließenden Kapitalerträge an Arbeit von anderen einnimmt. Anders gesagt, ist der Saldo von Gewinn und Verlust negativ im einen, positiv im anderen Fall, und zwar in umso höherem Maße je reicher die einen und je ärmer die anderen sind.
De facto ist die arbeitende Bevölkerungsmehrheit dazu verdammt, über den eigenen Konsum das leistungslose Einkommen für eine Minderheit zu beschaffen (mag diese darüber hinaus noch zusätzlich an eigener Arbeit und Leistung verdienen oder auch nicht). Ich nenne das den ‚parasitären Transfer’ von unten nach oben – eine verdeckte Form der Sklaverei, der sich der Bürger, da er ja konsumieren muss, auf keine Weise entziehen kann. Zudem handelt es sich um die historisch raffinierteste Form der Ausbeutung, da sie sich im Konsum in aller Stille vollzieht und ihr ungeheures Ausmaß den wenigsten bewusst ist. Tatsächlich liegt ihr jährlicher Ertrag in Deutschland schon über dem der größten Steuer, also der Lohnsteuer.
In Rom hat der Staat nichts gegen die offene Sklaverei unternommen. Die Folge war absehbar: Da die Mehrheit in jedem Land gewöhnlich ihr Vorbild in den erfolgreichsten Menschen in ihrer Mitte sieht, hat das Sklavenwesen schließlich die ganze Ökonomie durchseucht. Erst verschwand der freie Bauernstand, dann die freien Gewerbe (allenfalls wurden sie von freigelassenen Sklaven übernommen). Im gegenwärtigen neoliberalen Wirtschaftssystem ist die gleiche Tendenz schon weit fortgeschritten. Alle orientieren sich an dem unausgesprochenen Ideal, genug Geld zu besitzen, um ohne eigene Arbeit die anderen für sich arbeiten zu lassen (wobei man den kleinen Sparern noch die dreiste Lüge auftischt, dass ja auch sie, die eigentlichen Opfer dieses Systems, ‚in Wahrheit’ von ihm profitieren).
Dagegen kommt staatliche Umverteilung nicht an
Die Ausbeutung der Mehrheit findet unter dem Schweigen und der Beschönigung jener statt, die es eigentlich besser wissen müssten – insofern hat sich seit dem Altertum nichts geändert. Ihre Folgen wären noch weit stärker zu spüren, würden nicht Inflation und Krieg die großen Vermögen regelmäßig vernichten und hätte der Wohlfahrtsstaat nicht nach Ende des Zweiten Weltkriegs umverteilt und damit ausdrücklich gegen die vorherrschende Wirtschaftsmeinung gehandelt, die einen solchen Eingriff ja ausdrücklich verpönt. Doch diese Umverteilung ist immer weniger wirksam, weil die durch Besteuerung der Leistungsträger betriebene Umverteilung zwischen ihrem reichen und ihrem armen Teil gegen den parasitären Sog zu den Beziehern leistungsloser Erträge nicht länger ankommt. Es ist wichtig festzustellen, dass die Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit (sieht man von der reinen Spekulation einmal ab, die aber für die konstante Vermögenssteigerung gar nicht benötigt wird) überwiegend oder allein durch den oben beschriebenen parasitären Transfer stattfindet.
Deswegen sind auch die entsprechenden Vorschläge Pikettys bloße Makulatur. Statt auf die grundsätzlich ungerechten Erträge des Kapitals zuzugreifen, also auf sämtliche Einkommen ohne Leistung, um damit die prozesshafte Kumulation der großen Vermögen zu unterbinden, sollen jene zur Kasse gebeten werden, von denen viele (wenn auch keineswegs alle) aus gutem Grund mehr als andere verdienen, nämlich aufgrund ihrer höheren oder besseren Leistung. Auf diese Weise köpft man den Mittelstand und unterminiert das eigentliche ökonomisch-soziale Fundament der modernen Gesellschaft.
Die unvollkommene Bekehrung
In seinem jüngsten Buch Capital in the Twenty-First Century ist auch Piketty zu diesen Einsichten gelangt – reichlich verspätet, doch immerhin. Schade nur, dass er überwiegend Gedanken als sein geistiges Eigentum reklamiert, die längst vor ihm gedacht worden sind, z. B. die Formel, wonach die Vermögenden zwangsläufig gewinnen, wenn der prozentuelle Kapitalertrag (rate of return on capital) bei schwindendem Wirtschaftswachstum über der Wachstumsrate (growth rate of economy) liegt, so dass das Kapital bei fehlendem Wachstum die arbeitende Mehrheit nur umso stärker belastet. Einfacher ausgedrückt: Wenn der Kuchen nicht länger wächst, aber die Ansprüche des Kapitals sich keineswegs verringern, muss die Masse der Bevölkerung den Gürtel enger und enger schnallen. Diese Erkenntnis ist alles andere als originell. Auch die Tatsache, dass die Sparrate der Reichen ungleich höher liegt als die der Bevölkerungsmehrheit und dass die großen Anleger in der Regel mit höheren Erträgen rechnen können, ist bereits vielen anderen aufgefallen.
Den parasitären Transfer bekommt Piketty nicht in den Blick
In einer wesentlichen Hinsicht bedeutet die jüngste Arbeit Pikettys sogar einen Rückschritt für die Erkenntnis: In seiner ‚rate of return on capital’ vermengt er leistungsloses Einkommen (also verdeckte Sklaverei) mit Einkommen, die sehr wohl durch eigene Leistung erworben sind. Damit ist denn auch der eigentliche Einwand gegen das jüngste Buch Pikettys benannt: Den ‚parasitären Transfer’, also den eigentlichen Motor der Reichtumsverlagerung von unten nach oben, bekommt der Wirtschaftswissenschaftler auch in seinem jüngsten Buch nicht in den Blick. Klarer als die meisten anderen seiner Kollegen sieht er, dass mit unserer Wirtschaft etwas nicht stimmt, aber es gelingt ihm nicht die Ursachen aufzuspüren, weil er den fundamentalen Unterschied zwischen einer auf Können und Leistung begründeten kapitalistischen Marktwirtschaft und einem parasitären Kapitalismus nicht erkennt – die Letztere schafft immensen Reichtum auch ohne alles Können und alle Leistung.
Insgesamt bleiben die theoretischen Einsichten des französischen Starökonomen daher eher bescheiden; außerordentlich ist nur der Fleiß, mit dem hier Daten aus einer Vielzahl von Ländern gesichtet und verglichen werden. Das erstaunliche Beben, welches sein Buch auch jenseits des Atlantiks auslöste, kann ich mir nur auf die Art erklären, dass seine Kollegen es schon als sensationell bewerten, wenn einer von ihnen zum ersten Mal die Wirklichkeit halbwegs so beschreibt, wie sie ist. Denn das ist ja alles andere als selbstverständlich, wie Meinhard Miegel, bekannter Sozialwissenschaftler und beinahe Weiser aus dem rechten Lager, ironisch vermerkt: „.. was beispielsweise in einer Disziplin wie der Volkswirtschaftslehre angeboten wird – sie hat faktisch die Rolle übernommen, die die Theologie an mittelalterlichen Universitäten spielte -, sind weniger wissenschaftliche Erkenntnisse als vielmehr Glaubenssätze, die, dem Geschmack der Zeit gemäß, in mathematische Mäntelchen gehüllt sind.“