(Eine Debatte zwischen Per Molander, dem international bekannten Spezialisten für Verteilungsfragen und Gero Jenner. Mephisto blieb dem Treffen ohne Entschuldigung fern. Alle Molander-Zitate sind kursiv gedruckt).
GJ: Verehrter Herr Molander. Sie haben sich einen Namen mit der Erforschung menschlicher Ungleichheit gemacht, wozu sie auch besonders qualifiziert erscheinen, da Sie Schwede sind, aufgewachsen in einem Staat, der – weltweit gesehen – in Hinsicht auf materielle Gleichheit auch heute noch eine Vorbildfunktion erfüllt. Außerdem sind Sie in mehreren Fremd-Idiomen, zum Beispiel im Deutschen, gleich gut zuhause wie in der eigenen Muttersprache.
PM: Sie haben recht, Schweden steht auf der Gini-Skala ziemlich weit oben, die materielle Gleichheit ist ein Anliegen unserer Gesellschaft. In Ländern mit relativ hohen Umverteilungsambitionen wie Australien, Kanada, Finnland und Schweden wurde mehr als die Hälfte des marktgetriebenen Anstiegs der Einkommensungleichheit durch Steuer- und Transfersysteme ausgeglichen. Dadurch werden soziale Spannungen abgebaut, weil zwischenmenschlicher Neid eine geringe Rolle spielt. Wo immer materielle Ungleichheit gering ist, wächst das Vertrauen unter den Menschen. Denn es ist eine konsistente Beobachtung, dass Vertrauen und Gleichheit eine starke Korrelation aufweisen: Je gleicher eine Gesellschaft ist, desto mehr Vertrauen empfinden die Menschen zueinander.
Die positiven Auswirkungen einer derartigen Politik lassen sich übrigens auch unmittelbar messen. In Staaten mit hohem Vertrauen funktionieren die Schulen besser… In Staaten mit hohem Vertrauen geht es Kindern und Jugendlichen besser – gemessen an Kindersterblichkeit, Teenagerschwangerschaften und anderen Gesundheitsvariablen. In Staaten mit hohem Vertrauen ist die Rate der Gewaltverbrechen niedriger. In Staaten mit einem starken Gefühl der Solidarität sind die Menschen im Allgemeinen gesünder. In Staaten mit hohem Vertrauen gibt es weniger Steuerhinterziehung, wie vom amerikanischen Internal Revenue Service geschätzt.
GJ: Vertrauen ist der soziale Kitt, der Menschen zusammenhält.
PM: Nicht nur das. Eine Politik materieller Gleichheit zahlt sich auch wirtschaftlich aus. Sie macht einen Staat dynamischer. Wir können empirisch beweisen, dass Gesellschaften schneller wachsen, wenn ihr Anfangszustand dem egalitären Zustand möglichst nahekommt, denn Chancengleichheit ist förderlich für Wachstum.
GJ: Wenn Vertrauen und wirtschaftliche Dynamik zu den Werten gehören, die jeder Politiker eigentlich erstreben müsste, dann ist allerdings schwer zu erklären, dass Ungleichheit seit den siebziger Jahren in den Staaten des Westens im Vormarsch und heute neuerlich so groß ist wie vor dem zweiten Weltkrieg.
PM: Sehen Sie, mathematisch gesehen, ist Gleichheit ein unwahrscheinlicher Zustand. Lassen Sie uns zwei Individuen mit gleicher geistiger und körperlicher Ausstattung auf einer Insel aussetzen, wo jeder sich mit den vorhandenen Mitteln eine Existenz aufbaut. Sie werden vermutlich Handel treiben, damit nicht jeder von ihnen dieselben Handgriffe ausführen muss. Was wird dann geschehen? Nach einiger Zeit werden Sie bemerken, dass der eine mehr Glück als der andere hatte – und schon entwickelt sich Ungleichheit. Der Zufall entscheidet letztlich darüber, wer in der Praxis die Oberhand gewinnt, wenn Aufwand und Talent identisch sind. Untersuchungen haben ergeben, dass mehr als 80 Prozent des Realeinkommens einer Person von Umständen abhängen, die sich ihrer Kontrolle entziehen: Geburtsland und familiärer Hintergrund. Diese Effekte entziehen sich unserer Einwirkung führen sehr schnell dazu, dass die einen zunehmend reicher, die anderen ärmer werden.
GJ: Aber das trifft nicht auf alle Gesellschaften zu. Wo jeder gerade genug zum Überleben hat, herrscht weitgehende Gleichheit – man könnte sagen, diese Gesellschaften sind zur Gleichheit verdammt. In einer Jäger- und Sammlergesellschaft, in der jeder mehr oder weniger am Existenzminimum lebt, gibt es einfach keinen Raum für Ungleichheit, weil die Ressourcen gleichmäßig verteilt werden müssen, um das Überleben aller zu sichern. Erst wenn es einen Überschuss gibt, kann Ungleichheit zwischen Individuen entstehen. Sobald Gesellschaften reicher werden, ist es mit der Gleichheit vorbei. Armut macht gleich, Reichtum potenziert die Unterschiede.
PM: So ist es. So gesehen könnte man sagen, dass Reichtum unglücklich macht, denn er bringt Neid hervor und zerstört das Vertrauen. Da in historischer Sicht zu keiner Zeit Gesellschaften so reich waren wie in unserer Zeit, läuft dieser Trend de facto darauf hinaus, dass moderne Gesellschaften stärker durch Neid und den Verlust an Vertrauen gefährdet sind als die meisten Gesellschaften in der Vergangenheit. Eine solche Entwicklung führt zu sozialer Instabilität. Wenn in einem Staat einige weniger immer reicher, die Mehrheit aber relativ ärmer wird, provoziert eine solche Entwicklung letztlich sozialen Aufruhr, sofern der Staat nicht als ausgleichende Instanz in Erscheinung tritt. Um des sozialen Friedens willen sieht er sich genötigt, den übermäßigen Reichtum ebenso einzuschränken wie die bedrückende Armut.
GJ: Sie sagten gerade, dass eine egalitäre Gesellschaft die beste Voraussetzung für das Wachstum biete. Da Wachstum aber eine Zunahme an Reichtum bedeutet, ergibt sich daraus größere Ungleichheit. Demnach ist gerade eine besonders egalitäre Gesellschaft stets in Gefahr, den Zustand der Gleichheit aus eigener Kraft zu zerstören, und zwar aufgrund ihres besonderen Wachstumspotenzials.
PM: Gewiss, aber damit genau das nicht geschieht, muss ein Sozialstaat korrigierend eingreifen und überdies für ein Bildungssystem sorgen, das allen Bürgern die Chance des Aufstiegs bietet. Der Staat tritt dabei nicht allein als Akteur in Erscheinung sondern auch private Interessenvertretungen wie die Gewerkschaften müssen im Sinne der sozialen Gerechtigkeit tätig sein. Beiden Akteuren ist es zu danken, dass in skandinavischen Ländern bis heute ein hohes Maß an materieller Gleichheit herrscht.
GJ: Herr Molander, dann hätten wir doch eigentlich den Idealstaat geschaffen – ein Perpetuum mobile! Die egalitäre Gesellschaft schafft ein Maximum an Vertrauen und Wachstumspotenzial, während der Staat durch seine Eingriffe dafür sorgt, dass Wachstum nicht zu größerer Ungleichheit führt und damit zu geringerem Wachstum. Wenn das der ideale Zustand einer Gesellschaft ist, wie erklären Sie dann, dass soziale Gerechtigkeit in der öffentlichen Diskussion eine immer geringere Rolle spielt? Arbeiterzeitungen sind der Reihe nach eingegangen, auch Gewerkschaften befinden sich überall auf dem Rückzug – und das, obwohl Ungleichheit seit etwa einem halben Jahrhundert wieder grell in Erscheinung tritt. Wenn soziales Vertrauen oder gar wirtschaftliches Wachstum von so großer Bedeutung sind, wieso wollen so viele Menschen von dieser Thematik nichts mehr hören? Warum werden stattdessen rechte Parteien gewählt und kommen populistische Thesen, z.B. Nationalismus und Fremdenhass, bei den Massen besser an als die linken Aufrufe zu mehr sozialer Gleichheit?
PM: Sehen Sie, Herr Jenner, für die meisten herrschenden Eliten in der Geschichte, ob demokratisch gewählt oder nicht, ist es primäres Ziel, an der Macht zu bleiben, und das öffentliche Interesse ist bestenfalls ein Mittel zu diesem Zweck. Aber es stimmt, dass es ihnen erst seit etwa den achtziger Jahren gelang, sich immer mehr über das öffentliche Interesse hinwegzusetzen. Im Jahr 1965 verdiente der durchschnittliche amerikanische CEO eines größeren Unternehmens 24 Mal so viel wie der durchschnittliche Arbeiter. Im Jahr 2005 war diese Zahl auf 262 angestiegen. In Schweden wird dieser Quotient seit 1950 gemessen, damals lag er bei 26. Im Jahr 1980 war er am niedrigsten (9), um dann im Jahr 2011 auf 46 zu steigen. Wie konnte es dazu kommen? Da sind einmal die großen internationalen Konzerne, die mit ihrem neoliberalen Kurs einzelne Staaten und die Gewerkschaften unter Druck gesetzt haben. Durch Auslagerung wurden zudem viele einst gut bezahlte Jobs nach Asien transferiert, Jobs, die bis dahin auch jenen Menschen bei uns einen gut bezahlten Arbeitsplatz boten, die keine besondere Ausbildung besaßen. Inzwischen schlägt die Digitalisierung weitere Schneisen in unsere Arbeitswelt – anders gesagt, haben Globalisierung und technologischer Fortschritt viele Arbeitsplätze vernichtet. Dadurch hat sich der Abstand von arm und reich zwangsläufig erhöht. Auslagerung und Globalisierung setzten in den achtziger Jahren ein, die Digitalisierung wirkte sich etwas später aus.
GJ: In Ihrem Buch betonen Sie die Tatsache, dass Europas Gesellschaften in den drei Nachkriegsjahrzehnten, also bis in die siebziger Jahre, ein Maximum an sozialer Gleichheit erzielten.
PM: Ja, die bemerkenswerte Ausnahme vom allgemeinen Muster steigender Ungleichheit – in Größe und Ausmaß praktisch einzigartig – ist die Nivellierung des Wohlstands im 20. Jahrhundert nach der Gewerkschaftsbildung, der Demokratisierung und dem Wachstum des Wohlfahrtsstaates.
GJ: Sie erklären aber nicht, wieso sich dieses Wunder gerade nach dem zweiten Weltkrieg ereignet hat.
PM: Liegen die Gründe nicht auf der Hand? Sie wissen doch, dass damals – und zwar in allen westlichen Staaten, also in Deutschland ebenso wie in den Vereinigten Staaten oder in Japan – Gewerkschaften so großen Einfluss besaßen wie nie zuvor und nie wieder danach. Ja, und der Staat griff überall mit starker Hand ein, um den Benachteiligten zu helfen. Dagegen hat die Globalisierung den Handlungsspielraum des Kapitals vergrößert. Kapital kann mit einem Telefonanruf oder einem Tastendruck bewegt werden, aber der Prozess der Mobilisierung von Gewerkschaften und der Homogenisierung von Gesetzen über nationale Grenzen hinweg und zwischen Kontinenten ist ein zeitaufwändiger und komplizierter Prozess.
GJ: Schon wahr, aber warum konnte der Staat sich gerade zu jener Zeit diese Eingriffe erlauben, und warum waren gerade in jenen drei Jahrzehnten die Gewerkschaften so stark, während beide im Vergleich heute so schwach erscheinen? Das ist doch eine Frage, die wir uns stellen müssen.
PM: Sehen Sie, der Westen musste damals mit einem mächtigen Feind konkurrieren, dem Kommunismus. Nicht dass dort die Verhältnisse wirklich besser waren. Tatsächlich ist das Risiko für eine Machtkonzentration in einer kommunistischen Wirtschaft höher als in einer Marktwirtschaft, weil letztere ein viel größeres/ Potenzial für Innovationen und die Infragestellung bestehender Kartelle hat. Die Parteielite der sogenannten kommunistischen Staaten hat sich de facto enormen Reichtum und gewaltige Privilegien zugeschanzt, aber den großen Massen immerhin Gleichheit beschert – im Vergleich zum Westen eine ziemlich gleich gestreute Armut. Aber der falsche Schein größerer sozialer Gerechtigkeit im kommunistischen Lage hielt den westlichen Kapitalismus in Schach und kam dem Sozialstaat zugute. Heute hat der russische Kommunismus abgedankt. Der Feind ist uns abhandengekommen – das hat alle Hemmungen der Neoliberalen beseitigt.
GJ: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Kapitalismus am Ende des Krieges diskreditiert worden war. In den Vereinigten Staaten hatte die große Depression vom Ende der zwanziger Jahre Millionen von Menschen ihres Lebensunterhalts beraubt und die Vereinigten Staaten nach einem stürmischen wirtschaftlichen Aufschwung in die größte Krise ihrer Geschichte gestürzt. Erst die von Franklin D. Roosevelt in Bewegung gesetzte Gleichheitspolitik – gewöhnlich New Deal genannt – vermochte die Not zu lindern. In Deutschland aber hat die Erschütterung des kapitalistischen Wirtschaftssystems dem Faschismus zur Macht verholfen und zum Krieg geführt – ohne Weltwirtschaftskrise kein Hitler, ohne Hitler kein Zweiter Weltkrieg, wie Eric Hobsbawm befand. Der fürchterliche ökonomische Kollaps und das Grauen des Krieges saßen den Menschen nach 1945 noch in den Knochen. Das ist letztlich der Grund, warum eine Politik der sozialen Gleichheit so großen Erfolg haben konnte. Doch wurde diese Politik praktisch nur drei Jahrzehnte durchgehalten und danach zunehmend verwässert. Warum sind wir heute soweit gekommen, dass die Frage sozialer Gerechtigkeit fast nur noch in gelehrten Büchern und akademischen Kreisen eine Rolle spielt?
PM: Menschliche Vergesslichkeit spielt sicher eine Rolle. Die Weltwirtschaftskrise und das Grauen des Krieges liegen weit hinter uns. Den meisten Menschen fehlt wohl einfach die Phantasie, um sich vorzustellen, dass sich all dies jederzeit wiederholen kann.
GJ: Sicher spielt Phantasielosigkeit eine Rolle. Ich fürchte aber, dass es noch einen weiteren, einen viel tiefer liegenden Grund für die heutige Gleichgültigkeit gegenüber der sozialen Ungleichheit gibt – und dieser Grund hat mit einem weiteren Gebrechen des Kapitalismus zu tun. Dieser fördert ja nicht nur die Ungleichheit sondern greift tief in die Beziehungen und damit in die Psyche der Menschen ein.
PM: Das müssen Sie mir erklären. Vergessen Sie nicht. Unsere Frage lautet: Warum haben es bestimmte Gesellschaften geschafft, die Ungleichheit in vernünftigen Grenzen zu halten /und andere wie unsere heutigen nicht/?
GJ: Lassen Sie mich eine Antwort versuchen, indem ich als Ausgangspunkt jenes Beispiel wähle, das sie selbst als Paradigma für systematische und brutale menschliche Ungleichheit betrachten: das indische Kastensystem.
PM: Ein wichtiges Paradigma. Der indische Subkontinent wurde irgendwann im zweiten Jahrtausend v. Chr. aus dem Nordwesten erobert, als er von Menschen mit drawidischen Sprachen bevölkert wurde. Die Eindringlinge führten eine streng hierarchische Gesellschaftsordnung ein – die Keimzelle des Kastensystems. Bis in die heutige Zeit ergibt die Analyse der DNA, dass bei den höchsten Kasten der europäisch-stämmige Anteil am größten ist. Das Kastensystem beruht einzig auf der Macht der damaligen Immigranten, vorwiegend wohl einer Männerhorde, welche über den Hindukusch in Indien einfiel und dank besserer Waffen und Brutalität in der Lage war, einen Großteil der ansässigen Ureinwohner zu versklaven. Das war aber noch nicht alles. Die Raffinesse der damaligen Eroberer bestand darin, ihr Unterdrückungssystem mit einem religiösen Mäntelchen zu umhüllen. Angeblich waren es die Götter selbst, die sie, die fremden Eroberer, in ihre bevorzugte Stellung eingesetzt hätten. Also verdankten sie diese nicht etwa dem Zufall eines ungerechten historischen Überfalls sondern dem eigenen Verdienst. Später wurden dann unter diesem Verdienst die guten Taten verstanden, welche die Menschen in früheren Existenzen vollbringen. Nach dieser Ideologie sind die unteren Kasten selbst schuld und verantwortlich für ihr Unglück, weil sie in früheren Leben die größten Untaten begingen. Das ist die wohlbekannte Lehre vom Karma, die sich überaus geschickt gegen mögliche Einwände selbst immunisiert. Wer kann schon beweisen, dass er vor zweihundert Jahren nicht als Regenwurm, Marder, Bäckermeister oder Bücherwurm lebte, und in dieser Zeit alle möglichen guten oder schlechten Taten vollbrachte, die seine jetzige Geburt bedingen?
GJ: Ich gebe Ihnen recht. Die ganze Absurdität menschlicher Ungleichheit tritt am Beispiel des indischen Kastensystem greller als irgendwo sonst in Erscheinung. Im selben Augenblick, wo wir Wiedergeburten und Karma als ideologische Fiktionen ansehen, fällt das Kastensystem wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Und doch…
PM: Und doch? Was wollen Sie damit sagen? Ich sehe keine mögliche Einschränkung dieses Verdikts. Und der Zusammenhang mit unserem Ausgangspunkt, den drei glücklichen Nachkriegsjahrzehnten, will mir schon gar nicht einleuchten.
GJ: Bitte warten Sie noch einen Augenblick! Lassen Sie mich zuvor noch auf eine wichtige historische Erkenntnis eingehen, die Sie selbst ja ebenfalls betonen. In Subsistenzgesellschaften, wo der Mensch von der Hand im Mund leben muss, ist Gleichheit am größten. Dagegen wurde menschliche Ungleichheit mit der neolithischen Revolution und dem damit einhergehenden Reichtum de facto erzwungen. Das sehe ich genauso. Neunzig Prozent der Bevölkerung mussten nun durch den Feldbau für jenen Nahrungsüberschuss sorgen, der den restlichen zehn Prozent die Möglichkeit gab, einer anderen als der Feldarbeit nachzugehen. Wir sehen, dass dieser Zwang außer in wenigen kleinen Inselgemeinschaften und religiösen Sekten sämtliche Massengesellschaften beherrschte – von China über Indien und Europa bis in die Neue Welt. Wenn Ungleichheit aber seit der Neolithischen bis zur Industriellen Revolution in Massengesellschaften technologisch erzwungen war, dann entspricht das indische Beispiel nur der herrschenden Norm.
Wir müssen unsere Frage daher anders formulieren: Welche der großen ackerbautreibenden Kulturen hat diesen Zwang am besten bewältigen können?
PM: Wenn neunzig Prozent der auf dem Lande arbeitenden Menschen jenen Nahrungsüberschuss erwirtschaften mussten, der die oberen zehn Prozent außerhalb der Landwirtschaft ernährt, dann würde ich sagen, dass jene Kulturen mit diesem Zwang am besten fertig wurden, die den unteren Schichten die Möglichkeit boten, durch Bildung zur oberen Schicht aufzurücken. Heute ist es jedenfalls so, dass eine aktive Bildungspolitik als Voraussetzung dafür erscheint, die liberale Idee der Herstellung relativ gleicher Bedingungen für die junge Generation zu verwirklichen.
GJ: Eine aktive Bildungspolitik hat es aber bis zur Industriellen Revolution nirgendwo in größerem Maßstab gegeben. Keine Agrargesellschaft konnte sich leisten, den Kindern der weit über das Land verstreuten Bauern die gleiche Erziehung wie den Kindern der oberen zehn Prozent zu verschaffen. Die dafür erforderlichen Ressourcen hätten die Last auf den Schultern der Bauern vollends unerträglich gemacht. Mit anderen Worten, haben die unteren neunzig Prozent in keiner der klassischen Großkulturen jemals die Chance gehabt, nach oben aufzusteigen. Wenn in Europa hin und wieder ein Bauernkind aufgrund besonderer Begabung zum Kardinal werden konnte, dann geschah dies immer nur ausnahmsweise und setzt die allgemeine Regel nicht außer Kraft.
Daher bleibt es bei der Frage. Was haben die großen Kulturen der Vergangenheit aus diesem ihnen durch die Technik von Ackerbau und Viehzucht auferlegten Zwang gemacht? Stellt man die Frage in dieser Form, dann erscheint das Kastensystem auf einmal in einem ganz anderen Licht.
PM: Schon gut. Wenn dieses Licht uns dazu dienen kann, wieder zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs, also zu den drei goldenen Nachkriegsdekaden, zurückzukehren, soll es mir recht sein, mehr davon zu erfahren.
GJ: Lassen Sie mich zunächst bekräftigen, dass Ihre Sicht auf das indische Kastensystem für den heutigen Menschen die einzig richtige ist – kein vernünftiger Mensch glaubt heute noch an die ideologischen Fiktionen von Karma und Reinkarnation. Doch das ist nur die eine Perspektive. Wenn wir diesen Glauben als eine Tatsache jener Zeit akzeptieren, dann ergibt sich eine andere Sicht, die nicht weniger richtig ist. Wenige Gesellschaften haben die Ehrfurcht vor allen Lebewesen so zur höchsten Pflicht des Menschen gemacht wie die des indischen Subkontinents. Der Hinduismus erreichte das durch eine umfassende religiöse Deutung des Universums. Mensch und Natur umkleidete er insgesamt mit einem moralischen Sinn. Im Kreislauf der Geburten, an den man in Indien schon in vorchristlicher Zeit zu glauben begann, durchlaufen sämtliche Geschöpfe vom Grashalm über Tiger und Affen bis hin zum Menschen und den überirdischen Gottheiten die verschiedensten Stadien bis zu ihrer endgültigen Erlösung. Sie alle beziehen ihre bestimmte Gestalt und ihren Lebenssinn aufgrund des von ihnen erworbenen Karmas, welches nichts anderes ist als der Saldo der von ihnen verübten moralisch edlen und moralisch verwerflichen Taten.
Diesem Denken lag nichts so fern wie die moderne Vorstellung der Welt als einer Maschine und seelenlosen Mechanik, die der Mensch als Macher beliebig manipulieren darf. Vielmehr sah der Einzelne sich als beseelten Mikrokosmos inmitten einer von Willenskräften durchpulsten und von ihnen geformten Natur. Kraft seines Wollens und seiner Entscheidung für richtiges oder falsches Handeln hatte er es in der Hand, die eigene Zukunft im Rad der Wiedergeburten zu seinen Gunsten oder zu seinem Nachteil zu lenken. Entschied er sich für ein moralisch vorbildliches Leben, wie es ihm die jeweilige Kaste zur Vorschrift machte, dann hatte er Aussicht auf eine entsprechend höhere Wiedergeburt. Irgendwann konnte er sogar in den höchsten Rang aufsteigen, indem er den Posten eines der vielen Götter des indischen Pantheons besetzte. War sein Handeln dagegen moralisch verwerflich, so rutschte er in der Hierarchie der Lebewesen immer weiter nach unten. Dabei konnte er schließlich unter den „Pretas“ enden, den schrecklichen Hungergeistern. Das durch und durch moralische Weltbild der Inder verflocht die ganze Sphäre des Lebendigen zu einem einzigen weltumspannenden Netz.
Die selbstverständliche Folge einer derartigen Weltsicht bestand in einer Empathie mit sämtlichen Lebewesen: In einem durchaus wörtlich zu verstehendem Sinn erkannte der Mensch sich in jedem von ihnen wieder. Wie er selbst so waren auch alle anderen Wesen wandernde Seelen auf dem Weg zur Erlösung. Es war diese Theorie einer allumfassenden Gemeinschaft alles Lebendigen, die aus dem klassischen Indien ein Land der friedvollen Koexistenz aller Kreaturen machte. Ist von der Verzauberung der Welt die Rede und führt man Indien dafür als besonderes Beispiel an, dann hängt das mit einer Besonderheit zusammen, welche sich dort mit Herrschaft verbindet. Während die Großreiche des Zweistromlands und Chinas in ihrem Herrschaftsbereich Uniformierung erstrebten und sie in hohem Maße auch durchzusetzen vermochten, also eine Vereinheitlichung der Sprache, der Gebräuche, der Wirtschaftsform usw., hat der Hinduismus Vielfalt zugelassen, ja, den Pluralismus der Weltentwürfe und Traditionen sogar zu seiner Grundlage gemacht. Die Wahrheit war relativ, aber nicht in dem Sinne von Paul Feyerabend, weil es überhaupt keine letzte und unantastbare Wahrheit gebe, sondern weil die Menschen sich nach hinduistischer Auffassung je nach ihrem Heilsstand unterscheiden. Diese ideologisch untermauerte Vielfalt hat Indien zu dem gemacht, was es bis vor einem Jahrhundert noch war: ein Land der unerschöpflichen materiellen und geistigen Vielfalt – ein Land größer als die Welt, wie es der große Dichter Argentiniens, George Louis Borges, in einem unübertroffenen Bonmot einmal sagte. Innerhalb der Zwänge der agrarisch bedingten Kastenordnung hat sich menschliche Freiheit dort zu einem erstaunlichen geistigen Kosmos entfaltet: „The Wonder that was India“, wie es der Asienwissenschaftler A. L. Basham in seinem gleichnamigen Buch beschrieb.
PM: Als Wissenschaftler kann ich lyrischen Ergüssen wie denen eines Borges natürlich wenig abgewinnen. Es stimmt zwar, dass Ungleichheit den Agrargesellschaften ins Stammbuch geschrieben ist, aber dann muss man sich doch die zusätzliche Frage stellen, warum das so ist? Stellen Sie sich einen Philosophen unter Jägern und Sammlern vor, wo das Töten zu den Tagesgeschäften gehörte. Hätte er sich damals die Frage gestellt, wie das Leben in einer Gesellschaft von Bauern aussehen würde, wo jeder der friedlichen Beschäftigung nachgeht, Getreide und Gemüse auf einem Stück Feld anzupflanzen, so wäre er sicher zu der Auffassung gelangt, dass mit der Agrarwirtschaft ein Zeitalter des vollkommenen Friedens beginnen würde. Man muss keine Waffen besitzen, keine Tiere erlegen, wenn man sich von Körnern und Früchten ernährt.
GJ: Diese prophetische Vision wäre aber, wie sich bald zeigen sollte, radikal falsch gewesen. Der richtige, der große Krieg begann überhaupt erst nach der Epoche der Jäger und Sammler, also mit dem Übergang zum Ackerbau. Und der Grund dafür ist eine wohlbekannte historische Tatsache. Einige gescheite Köpfe bemerkten sehr schnell, dass ganz wenige bewaffnete und mobile Leute genügten, um eine beliebige Zahl von schollengebundenen Bauern zu unterjochen und ihnen einen Überschuss abzupressen. Aus diesen wenigen bewaffneten Parasiten gingen, wie wir wissen, die oberen zehn Prozent und ihr wichtigster Teil, der Adel, hervor. Erst die Ackerbaugesellschaften haben Krieg und menschliche Ungleichheit in großem Stil hervorgebracht.
PM: Das ist richtig und gilt genauso für Indien. Die Krieger (Kshatriyas) haben sich dort mit den Priestern (Brahmanen) verbündet, um die eigene Herrschaft zugleich militärisch und geistig zu perpetuieren.
GJ: Ja, diese Auffassung entspricht dem Verständnis der modernen kritischen Wissenschaft. Aber sie hat noch keine Antwort darauf gefunden, warum ein so ungerechtes, scheinbar so unmenschliches System sich als das dauerhafteste überhaupt erwies? Mindestens dreitausend Jahre lang herrschte das Kastensystem unangefochten, während es relative Gleichheit in einer Massengesellschaft gerade einmal dreißig Jahre nach dem vergangenen Weltkrieg gab. Und zudem hat dieses System nicht nur die eigene Religionsgemeinschaft beherrscht, sondern auch auf Christen und Muslime ausgestrahlt. Auch sie gerieten in den Sog der Kastengesellschaft, obwohl ihre eigene Ideologie ihnen dies grundsätzlich verbot. Diese Langlebigkeit und diese Strahlkraft muss uns die Wissenschaft erst einmal erklären!
PM: Ich halte es für einigermaßen begreiflich, dass wir Absurditäten nicht unbedingt auch noch erklären wollen.
GJ: Und doch kann gerade daraus die Chance erwachsen, dass wir unsere heutige Zeit besser verstehen. Indien war schon früh eine Massengesellschaft, und überall besteht deren Hauptproblem in der Beziehungslosigkeit seiner Menschen. Das Kastensystem ist ein raffiniertes Herrschaftssystem, das soziale Ungleichheit zementiert – das ist das eine. Wie schon gesagt, musste Indien wie jede andere Agrargesellschaft damit fertig werden, dass achtzig bis neunzig Prozent der Menschen auf dem Lande schwer arbeiten mussten, damit eine Minderheit von zehn bis maximal zwanzig Prozent andere Berufe ergreifen konnten. Aber Indien hat diesen Zwang auf besondere Weise bemeistert – das ist das andere. Es hat die Menschen der Massengesellschaft aus der Vereinzelung und Anonymität erlöst, indem es ihnen einen festen Halt in dichtgefügten Gemeinschaften verschaffte. Jede Kaste war ein Mikrokosmus bedingungsloser gegenseitiger Solidarität, wo jeder für jeden anderen verantwortlich war. Eine Art von Sozialversicherung gab es in diesem System schon seit mehr als zweitausend Jahren – und dazu brauchte man weder den Staat noch Gewerkschaften.
PM: Weil die Kaste diejenige Einheit war, welche für eine weitgehende Gleichheit unter ihren Mitgliedern sorgte?
GJ: Ja, aber dieses System leistete noch mehr. Der Sinn der eigenen Tätigkeit war für jeden unmittelbar zu begreifen, weil alle Kasten einander ja gegenseitig bedienten. Sie waren zwar biologisch abgesondert. Heiraten und selbst Mahlzeiten unter Mitgliedern verschiedener Kasten waren verboten, aber der Bäcker, der Schmied, der Wäscher, der Barbier, der Priester waren im täglichen Leben unauflöslich aneinander gekettet, weil jede Kaste ein Recht auf ihre jeweiligen Dienstleistungen besaß. De facto war das eine Art von Arbeitsgarantie und Unkündbarkeit, wie sie in unseren Gesellschaften erst sehr viel später erfunden wurde.
PM: Das sind interessante Behauptungen, welche die Wissenschaft natürlich erst noch im Einzelnen überprüfen müsste. Aber was wollen Sie mit Ihrem Ausflug nach Indien eigentlich sagen? Ich vermisse immer noch den Zusammenhang mit unserer voraufgehenden Diskussion.
GJ: Das indische Kastensystem hat Menschen von Geburt an als ungleich gesehen und dies durch eine ideologische Begründung untermauert, die in unseren Augen unhaltbar ist, weil wir sie als Fiktion durchschauen. Insofern ist das Kastensystem in unserer Zeit nur noch Relikt – absurdes Relikt, wie Sie in Ihrem Buch mit Recht kritisieren. Doch wir begehen einen gewaltigen Fehler, wenn wir übersehen, dass dieses System auf eigene, und zwar sehr erfolgreiche Art mit der größten Herausforderung fertig wurde, die gerade uns heutige Menschen massiv bedroht, nämlich mit der radikalen Vereinzelung, Haltlosigkeit, Einsamkeit und Anonymität der in der Masse großer Staatsgebilde entwurzelten Menschen.
PM: Wenn ich Sie recht verstehe, sehen Sie in dieser Vereinzelung das Hauptproblem unserer Gesellschaft und nicht etwa in materieller Ungleichheit?
GJ: Genau das ist meine These.
PM: Aber wie erklären Sie dann, dass westliche Staaten in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten sich um dieses vermeintliche Hauptproblem sowenig scherten und im Gegenteil die Herstellung sozialer Gerechtigkeit für ihre größte Aufgabe hielten?
GJ: Das war die Zeit, als man im Westen von Ideologie nichts mehr wissen wollte. Die Fanfarenstöße der Propaganda, die zum Krieg geführt hatten, hallten den Menschen noch in den Ohren. Man wollte nur eins: wieder zu einem Mindestmaß an Wohlstand gelangen, und man gönnte dies nicht nur sich selbst sondern ebenso seinen Nachbarn. Aber spätestens mit Beginn der achtziger Jahre war der Krieg vergessen, der Wohlstand eingekehrt, die meisten Menschen materiell gesättigt. Und da wurde den Menschen erneut bewusst, dass sie in unserem modernen Wirtschaftssystem – der höchst erfolgreichen kapitalistischen Marktwirtschaft – zwar zu materiellem Reichtum gelangen, aber beziehungslos nebeneinander leben. Sie mussten erfahren, dass diese Beziehungslosigkeit gleichsam parallel mit dem Bruttosozialprodukt wächst.
PM: Sie wollen sagen, dass der Kapitalismus zwar ein effizientes, vielleicht das effizienteste Instrument der Vermehrung von Reichtum sei, aber dieses Ziel nur um den Preis erreicht, Menschen dabei zu zerstören?
GJ: Trotz aller Booms und Busts ist er zweifellos das historisch erfolgreichste Wirtschaftsmodell – nie war die Welt auch nur im Entferntesten materiell so reich wie heute. Gerade weil er so effizient ist, werden Rohstoffe im Eiltempo aufgezehrt und Wasser, Luft und Erde mit den Rückständen der industriellen Produktion vergiftet. Im dem Augenblick, wo die Hälfte der Weltbevölkerung denselben Lebensstandardgenießt wie Ihr Land Schweden, Herr Molander, werden große Teile des Globus nicht mehr bewohnbar sein. Für diese beängstigende Effizienz des Kapitalismus wird nicht nur die Natur, es werden auch die tiefsten Bedürfnisse des Menschen geopfert. In der perfekten kapitalistischen Maschinerie funktioniert der Mensch als jederzeit ersetzbares funktionales Rädchen, das zu anderen Rädchen keine nachhaltigen zwischenmenschlichen Bindungen aufbauen darf. Damit aber übt dieses System eine verheerende Wirkung auf die Bedürfnisse des Menschen aus, die auf genau das Gegenteil zielen: auf dauerhafte und verlässliche Bindungen zu den umgebenden Menschen und zu dem umgebenden Lebensraum.
PM: Eine interessante These. Aber das ist noch immer keine Antwort auf die von Ihnen selbst gestellte Frage, warum nach den drei goldenen Nachkriegsdekaden das Streben nach sozialer Gleichheit wieder in den Hintergrund rückte.
GJ: Doch, die Antwort habe ich bereits angedeutet. Ende der siebziger Jahre, als die meisten Menschen wieder in Wohlstand bis hin zur materiellen Sättigung lebten und die Erinnerung an den Krieg und die ideologisch geschürte Volksgemeinschaft nur noch ferne Erinnerung war, kam erneut das Bedürfnis nach geistigem Halt und nach Zusammengehörigkeit auf, kurz nach Identität und Gemeinschaft. Das Ideal der sozialen Gerechtigkeit verlor an Anziehungskraft, ideologische Angebote vom gemeinsamen Kampf gegen Steuern, für die Erhaltung von Wanderkröten, gegen die Abholzung des Regenwaldes, für das Klima oder das Bekenntnis zur sexuellen Eigenheit drängten sich in den Vordergrund. Besonders eng sind solche Gemeinschaften, wenn sie sich gegen Feinde behaupten müssen, denn Verfolgung schließt Menschen ja besonders eng zusammen. Das trifft vor allem auf sexuelle oder ethnische Minderheiten zu, für welche die eigene Identität aus diesem Grund bald überall auf der Welt sehr viel wichtiger wurde als soziale Gerechtigkeit.
PM: Auch wenn Ihre Analyse stimmt, sehe ich nicht, was die Politik dazu beitragen kann, menschliche Gemeinschaft zu stärken. Wie ich in meinem Buch im Einzelnen zeige, können wir Gesetze beschließen und Institutionen wie die Gewerkschaften stärken, um unsere Gesellschaften sozial gerechter zu machen. Aber wir können den Menschen keine Gemeinschaft verordnen. Was nützt uns also eine Analyse, die praktisch folgenlos bleibt?
GJ: Nein, kein Staat kann Gemeinschaft verordnen, ein starker – sehr starker – Staat kann dagegen Gleichheit durchsetzen. Das ist richtig. Aber, sehr verehrter Herr Molander, Sie übersehen einen entscheidenden Unterschied. Wenn es stimmt, dass der soziale Instinkt eines der tiefsten Bedürfnisse des Menschen ist, dann braucht der Staat nicht aktiv zu werden. Freundschaften, Gemeinschaften, Vereine und Genossenschaften, also Bindungen, entstehen spontan unter den Menschen. Er muss nur die Widerstände beseitigen, die dieses Bedürfnis an der Entfaltung hindern.
PM: Sie wollen sagen, er muss den Kapitalismus zügeln, wenn dieser den Menschen vereinsamt, seine Bindungen zerreißt, ihn haltlos und austauschbar macht?
GJ: Genau darauf will ich hinaus, weil es brandgefährlich ist, wenn der Mensch dieses Grundbedürfnis nicht ausleben kann. Dann wird es nämlich auf andere Weise befriedigt. Der entwurzelte, haltlose vereinsamte Mensch, für den die eigenen Nachbarn nur Nummern sind, hat seine Sehnsucht nach menschlicher Kommunikation und Bindung ja keineswegs verloren. Das wissen die Demagogen von Hitler und Stalin bis zu ihren heutigen mehr oder weniger diabolischen Imitatoren. Vor allem populistische Politiker des rechten Spektrums machen sich dieses Bedürfnis zunutze, wenn sie die Menschen mit einfachen Parolen, Versprechungen oder Hetzparolen zu Horden künstlich zusammenschweißen. Dann entstehen grölende Stammtischgemeinschaften – virtuell oder real -, in denen Ressentiment und Hass den Ton angeben.
PM: Wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie damit sagen, dass in einer reichen, aber bis zum Zerfall mobilen und diversen Gesellschaft Identität der Anker ist, den sich die Menschen bewusst oder unbewusst wünschen – mehr als die soziale Gerechtigkeit. Dann sollten wir die Menschen also nicht dabei stören, ihre natürlichen Bindungen an die umgebenden Menschen, auch an das eigene Dorf, die eigene Stadt, die eigene Berufsgemeinschaft und letztlich die eigene Heimat aufzubauen. In meinen Ohren klingt das sehr nach Sozialromantik.
GJ: Gewiss, das ist es ja auch, denn in den vergangenen zwei Jahrhunderten hat der ökonomisch so effiziente Kapitalismus langfristige Bindungen erodiert, selbst Ehe und Nation scheinen nur noch sozialromantische Vorstellungen zu sein. Aber wenn wir unserem neoliberalen Wirtschaftssystem erlauben, alle dieses Bindungen nach und nach zu zersetzen, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass die Menschen nach künstlichem Ersatz dafür greifen. Um überhaupt noch Verbundenheit mit anderen Menschen zu erfahren, lassen sie sich dann eben von den Hetzparolen und den Einflüsterungen der Demagogen verführen. Der kleinste gemeinsame Nenner – meistens der Hass auf einen zum Popanz aufgebauten Gegner – schweißt die Menschen dann zu manipulierbaren Horden zusammen. Diese Leute stören sich nicht daran, dass Verführer wie Trump zu den Erbmillionären gehören. Wenn sie mit ihm in gemeinsamem Hass verbunden sind, dann bedeutet ihnen das hundertmal mehr als die materielle Gleichheit.
PM: Ich weiß, diese Leute gibt es. Aber ich kenne genug andere, die weder die gute noch die demagogische Gemeinschaft brauchen, Leute, die sich sehr glücklich fühlen, wenn sie über die Grenzen von Raum und Zeit mit ihren Kollegen überall auf der Welt kommunizieren. Ihre jeweilige Spezialität als Geschäftsleute, Biogenetiker, Astrophysiker, Konzernchef, Rockstar etc. ist für sie so wichtig, dass Heimat, Nation und Herkunftsort für sie nicht die geringste Bedeutung haben. Diese kosmopolitisch orientierten, oft hoch gebildeten Leute sind übrigens gegen demagogische Einflüsterungen überaus resistent.
GJ: Ja, aber das ist eine begünstigte Minderheit – und begünstigte Minderheiten stehen auf den oberen Sprossen der sozialen Leiter und fühlen sich deshalb überall wohl. Und sie pflegen sich auch nicht um soziale Gerechtigkeit zu kümmern – Wissenschaftler wie Sie bilden da eine Ausnahme. Umso mehr beschäftigen soziale Gerechtigkeit und Identität die unteren Schichten. Diese bilden die überwiegende Mehrheit, die niemals kosmopolitisch eingestellt war. Sie muss und will mit den Menschen leben, die sie hier und jetzt umgeben und sie in ihrem Selbstwertgefühl entweder kränken oder bestärken.
Man muss es deutlich sagen: Die großen geistigen Abenteuer, die gerade unsere Zeit in so reichem Maße zu bieten hat, können für wenige Privilegierte ein Ersatz für das Bedürfnis nach lokaler Verwurzelung und Gemeinschaft sein, weil diese Abenteuer sie zu einer transnationalen Gemeinschaft zusammenbinden. Aber wenn die Politik sich an den Privilegierten ausrichtet statt an der Mehrheit und ihren Bedürfnissen, verliert sie nicht nur die soziale Gerechtigkeit aus dem Blick, sondern bereitet Ressentiment, Hass und Demagogen den Boden.
GJ: Herr Molander, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Von Prof. Siegfried Wendt erhalte ich folgende Nachricht:
Lieber Herr Jenner,
ich habe mir gerade eben Ihren neuesten Text durchgelesen – und ich bin begeistert. Ihre klare Analyse unserer heutigen sozialpolitischen Probleme ist einmalig und überzeugend.
Herzlichen Dank.
Mit besten Grüßen
Siegfried Wendt
Prof. Paul Kellermann schickt mir folgende Mail:
Lieber Herr Jenner,
Ihr Streitgespräch habe ich mit Aufmerksamkeit gelesen. Besonders in der Passage über das indische Kastenwesen habe ich Neues erfahren. Was mir fehlte, war eine nachvollziehbare Erklärung für das qualitative und quantitative Wachstum an Gütern und Diensten des „Kapitalismus“.
Meine Sicht: Nur durch Handeln oder Unterlassen von Handeln ereignet sich die „ewige Entwicklung“ – „Panta rhei“ (Heraklit/Platon, vor 2500 Jahren): „Alles fließt“, alles ist in Bewegung, alles ist im Wandel, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten – vom eigenen Körper über den Umgang der Menschen mit einander bis zur natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt. Systemkonformes Handeln im Kapitalismus bedeutet, möglichst jede Art von Vermögen/Können in Gewinnabsicht einzusetzen. Unterlegt ist diese Handlungsart mit dem Verzicht auf sofortige Bedürfnisstillung zu Gunsten der Aussicht auf künftigen Gewinn – das „deferred gratification pattern“. Diese Art zu handeln wird uns in den entsprechenden Ländern anerzogen: „Spare, lerne, leiste was; dann haste, kannste, biste was!“ Die Maxime zieht sich durch in Arbeit und Bildung, Jugend und Alter, Sparen und Pensionen, „unternehmerischem Denken“ und „Startups“ … in jeder Art von „Investition“. Im privat/persönlichem Kapitalismus erfolgt das individuell; im staatlich/zentralratigem Kapitalismus kollektiv.
Ihnen sehr freundliche Grüße, P.K.
Meine Replik:
Vielen Dank! Diese Erklärung haben Sie jetzt ja nachgeliefert: nämlich privaten Eigennutz. Schon Adam Smith hat allerdings gewusst, dass privater Eigennutz, wenn zum Zwecke der Gesellschaft gelenkt, dieser durchaus zu dienen vermag. Ein Beispiel liefert die unglaublich schnelle Bereitstellung von Impfstoffen. Ohne privaten Erfindergeist und, ja auch, private Gewinnsucht wäre es nicht dazu gekommen! Aber Sie haben recht, in meinem Aufsatz über den Kapitalismus bleibt vieles ausgespart. Bedenken Sie bitte, Karl Marx brauchte mehr als tausend Seiten, um uns über das Kapital zu belehren. Da können zehn Seiten nur einen Ausschnitt bieten.
Dr. Bruno Kathollnig aus Villach schreibt Folgendes:
Sehr geehrter Herr Jenner!
Ich bin sehr begeistert von der hier gepflegten geistreichen Diskussion und Dialektik. Das ist Debattenkultur im besten Sinne, zu der nicht nur die Jüngeren – übrigens ich bin Ihr Jahrgang – immer seltener befähigt sind.Mit der beharrlichen, sich in der Pandemie beschleunigenden Ausbreitung der Kluft zwischen Arm und Reich und, ja, auch wegen der auf Dauer unaufhaltsamen Zuwanderung aus den Armenhäusern Europas und der Welt ist zu befürchten, dass Europa in den nächsten Jahren sehr weit nach rechts rücken wird. Wobei ein linkes Manichäer- und Jakobinertum diese Entwicklung noch ordentlich befeuert. Allen Warnungen zum Trotz. (Weshalb auch Frau Wagenknecht zur Hassfigur taugt.)Und es gibt dafür eine noch vor der linken Rechthaberei reüssierende ganz banale psychologische Ursache oder Ursünde: den seit 40 Jahren auch in Europa auch von sogenannten Helikoptereltern und sozialer Verwahrlosung gleichermaßen systematisch gezüchteten bracchialen Egoismus, von dem auch ich selbst mich nicht ganz verschont fühle, obwohl ich glaube, diesen nicht mit dem von mir geschätzten Individualismus zu verwechseln.Prägender Ausdruck dieser mit krankhaftem Narzissmus und mangelndem Selbstwertgefühl durchwachsenen Ichsucht ist eine der schlimmsten aller Süchte: die unersättliche Raffgier – eine Raffgier die pausenlos, aber leider immer weniger subtil („Geiz ist geil“), dafür aber mit umso größeren lukrativen Erfolgen unseren zum Verschlingen der Beute konditionierten grauen Zellen eingetrichtert wird. Die Folgen dieser Raffgier seien hiermit nur an ein paar Deutschland betreffenden Fakten belegt:Der deutsche Durchschnittsnettolohn (Teilzeitbeschäftigte inbegriffen) liegt bei unter 2100 Euro, derweil von 1000 Deutschen eine(r) übe ein Vermögen von durchschnittlich 104,1 Millionen Euro verfügt. Von diesem Vermögen sind 35 Prozent ziemlich leistungsfrei erworben – nämlich durch Erbschaft!So steigt der Anteil am Vermögen der 10 Prozent Deutschen, die zu den reichsten zählen, von derzeit 64 Prozent unbeirrt weiter an. Um die Unmaßgelblichkeit persönlicher Leistung eindrucksvoll lächerlich zu machen und um die in der Pandemie gepriesenen Leistungsträger sowie jedwede „Complience“ zu verhöhnen, steigen damit auch die obszönen, kaum mehr vorstellbaren Gagen der „CEOs“ weiter in astronomische Höhen.So „verdienten“ im Corona-Jahr 2020 in der Deutschen Bank, die schon weit mehr als 10.000 Arbeitsplätze „abgebaut“ haben dürfte, 684 Mitarbeiter*innen – das sind fast 100 mehr als im Jahr zuvor – zumindest ein Million Euro.Und der Chef eines Dax-Unternehmens (Linde) verdient sogar 53 Millionen Euro im Jahr.Dafür zahlen deutsche Kapitalgesellschaften nur vier Prozent Körperschaftssteuer und alle deutschen Unternehmen bereits weniger als 30 Prozent an effektiven Gewinnsteuern. Die deutschen Vermögenssteuern, sind mit rund einem Prozent um die Hälfte niedriger als in den USA. während ein großer Teil der deutschen Meinungsmache (s. FAZ vom 10. Mai 2021, Nr. 107, S 16) alles tut, damit es weiter im Sinne der empathiefreien und moralbefreiten neoliberalen FDP weiter in die falsche Richtung geht – mit Steuererleichterungen von 60 Milliarden für die Unternehmer.Inzwischen will US-Präsident Joe Biden sogar in den USA mit mehr Steuergerechtigkeit (Reichensteuer), ja, mit einer sozialdemokratischen Agenda punkten.Genau an einer solchen Agenda, zumindest an einer glaubwürdigen, fehlt es in Europa – an einer, die von New Labour zum echten New Deal zurückkehrt, um nicht zuletz die leider schon von Erosionen da und dort bereits heimgesuchte europäische Demokratie zu stärken. Z. B. dadurch, dass es mit der Vertiefung und Verbreiterung der Kluft zwischen Arm und Reich nicht so weiter geht wie bisher – und auch nicht mit einer unsere Identitäten zerbröselnden globalen, nur mehr der Marktreligion verpflichteten Relevanzillusion – mit einem auf Wertpapierwerte und Umfragewerte reduzierten „Europa der Werte“.Fazit: Sarah Wagenknecht hat im wesentlichen recht! Ebenso recht, wie viele nicht ahnungslose andere, deren Kassandrarufe man geflissentlich überhört (z.B.: Richard David Precht, Ralph Gadban, Hamed Abdel- Samad, Marcel Fratzscher).Schon riecht es auch in Österreich nach „illiberaler Demokratie“! Nicht zuletzt aus Angst vor einer mitnichten als Bereicherung empfundenen Überfremdung – und sei es eine Überfremdung nicht nur per Migration, sondern auch mit Hilfe von „Betongold“ und Aktienpaketen. Wobei sich auch ohne eine solche Entwicklung, sozusagen als Wahwitz der Geschichte, ausgerechnet in Deutschland und Österreich, eine von sozialkostenintensiven „Importen“ befeuerte Renaissance des Antisemitismus besonders rasch ausbreiten könnte. Fazit: Noch nie seit 1945 war der Rechtsstaat in Europa so bedroht – und zwar absurderweise nicht zuletzt durch einen auch von vielen Linken wie einen jungen Kuckkuck geatzen „illiberalen“ Rechts-Staat! (Frankreich lässt schon grüßen!)Einen faschistoiden Rechts-Staat, ausgebrütet aus dem Drachenei, dessen Dotter aus unersättlicher Raffgier und dessen Eiweiß, aus edlen, bis zur Selbstaufgabe reichenden Motiven einer mit Selbsthass und exzessiven Narzissmus durchwachsenen Willkommenskultur besteht!Derweil sich die deutsche Unterschicht bereits jetzt auf einen Mindestlohn von 10,45 Euro ab 2022 ebenso freuen darf wie auf eine deftige Erhöhung des Preises für den „Warenkorb“ für Otto Normalvernbraucher.
In Freundschaft Bruno Kathollnig