(auch erschienen in: Zeitschrift "Humane Wirtschaft" 5/2016 und Tichys Einblick)
Es gibt verschiedene Arten einander zu grüßen: Man kann beim Kopf beginnen und mit Argumenten oder sich gegenseitig beschnüffeln, wie es unter unseren vierbeinigen Freunde die Regel ist, nämlich vom Schwanze her. Dann stellt man, noch bevor man überhaupt wissen will, was der andere zu sagen hat, erst einmal fest, ob er links sei oder rechts, ob religiös oder ungläubig, ob hetero oder homo, ob liberal oder autoritär. Hat man die Witterung aufgenommen, steht das Urteil schon fest. Man drückt seinen Beifall durch freudiges Wedeln aus oder lässt dem Beißreflex seinen Lauf, denn für den Linken ist der Rechte der geschworene Feind, dessen Worte von vornherein abwegig, skandalös oder einfach Makulatur sind, während umgekehrt bei einem Rechten alles, was ein Linker zu sagen hat, von vornherein den Abscheu hervorruft. Für den religiös Aufgeheizten ist alles, was der Ungläubige von sich gibt, im besten Fall leeres Geschwätz, im schlimmsten Fall teuflische Eingebung – und so in allen feindlichen Lagern: Für den Gesinnungsschnüffler werden menschliche Beziehungen nicht länger durch Kopf und Argument hergestellt, sondern durch einen unterhalb des Gehirns chemisch ausgelösten Reflex: Der da steht auf meiner Seite, also höre ich ihn an, der andere dort steht auf der Gegenseite, also hat er mir absolut nichts zu sagen. Den Prozess der Kommunikationszerstörung könnte man auch „Vergoogelung“ nennen, denn genau das ist es ja, was dieses Programm inzwischen ganz automatisch zustande bringt: Es macht uns nur noch mit Inhalten bekannt, die „auf unserer Linie liegen“. Gehen wir darauf ein, dann sehen wir nicht länger die Vielfalt der Welt, sondern lassen es zu, dass sie sich auf unseren jeweiligen „Standpunkt“ verengt.
Unseren vierbeinigen Freunden brauchen wir die Schnüffelei nicht übel zu nehmen: Argumente sind ihnen fremd; von Natur aus sind sie auf die Chemie geprägt. Aber der Mensch? Vor allen anderen Lebewesen zeichnet er sich durch eine Denkfähigkeit aus, die es ihm grundsätzlich möglich macht, selbst noch auf das zu hören, was ihm Leute mit radikal abweichender Meinung zu sagen haben. Auf dieser einzigartigen Fähigkeit beruht eine Überlegenheit, die es ihm immer wieder erlaubt, sich aus Sackgassen zu befreien, ganz neue Wege zu beschreiten, petrifizierte Gedankengänge und Meinungen aufzusprengen und sich selbst neu zu erfinden: Auch die am besten verteidigten Überzeugungen sind ja immer nur so lange gut, wie sie den wohlbegründeten Meinungen anderer standzuhalten vermögen.
Es ist wahr: Dieser ewig hin und herwogende Streit der Argumente und Überzeugungen ist weit weniger beruhigend als die Grabesstille von Diktaturen, wo jede abweichende Ansicht sofort erstickt wird und meist auch gleich noch derjenige dazu, der es wagte, sie allzu laut zu vertreten. Der fortwährende Kampf der Argumente und Werthaltungen bringt Verunsicherung mit sich; gerade funktionierende Demokratien befinden sich deshalb in einem Dauerzustand fortwährender Gärung, doch genau sie liefert den Humus auf dem die besten, die kühnsten, die zukunftsträchtigsten Gedanken gedeihen.
Das gilt zumindest so lange, wie die Gesinnungsschnüffelei sich noch nicht durchzusetzen vermag, denn sobald diese sich der Köpfe bemächtigt hat, ist es mit dem Dialog zwischen den streitenden Lagern vorbei. Jeder hat einen Gesinnungsausweis bei sich zu tragen, am besten trägt er ihn weit sichtbar auf der Brust wie eine Plakette – so wie ja schon jetzt mancher sein Lebensprogramm auf einem sloganbedruckten Hemd mit sich führt: Schaut, ich bin ein Rechter; schaut, ich bin links; schaut, ich bin braver Katholik; schaut, ich bin schwul – und so weiter.
Gesinnungsplaketten sind wie die Duftmarken der Hunde: Damit werden Reviere markiert, zu denen nur noch Gleichgesinnte Zutritt erhalten. Aus dem Internet duftet und stinkt es einem von derartigen Reviermarkierungen schon von weitem entgegen. Es ist ein bedrohlicher Duft mit unterschwellig totalitärem Aroma. Es ist, als wäre es immer mehr Leuten ein dringliches Bedürfnis, das eigene Denken aufzugeben und dafür die Sicherheit eines ideologischen Maulkorbs einzutauschen, am besten von starker Hand auferlegt.
Duftmarken sollte man, bitte schön, nicht mit Überzeugungen verwechseln, die diesen Namen verdienen. Echte Überzeugungen sind das Ergebnis weltoffener Erfahrung und einem Denken, das sich stets an der Auseinandersetzung mit anderen übt – selbst und gerade, wenn man diese anderen als Gegner betrachtet, denn von Gegnern ist in der Regel weit mehr zu lernen als von jenen, die sich im gegenseitigen Nach-dem-Mund-reden üben. Reviermarkierungen sind etwas grundsätzlich anderes als die echte Überzeugung. Sie entstehen aus der Abschottung gegen den Widerspruch, den Zweifel und alle Anfechtung, welche jeder Dialog mit sich bringt. Überzeugungen haben ihren Ursprung in unserem Gehirn; ideologische Duftmarken in jenen biochemischen Prozessen, die wir von unseren tierischen Ahnen auf den niederen Stufen der Evolution mit uns tragen.
Und sie sollten ein Warnzeichen sein: Wo immer die engstirnige Gesinnungsschnüffelei um sich greift, zeigt das soziale Barometer den roten Bereich: Der Zerfall einer Gesellschaft bereitet sich vor, die Menschen sind nicht länger willens und viele auch nicht mehr fähig, miteinander zu reden: Unvereinbare ideologische Reviere und Positionen stehen neben- und gegeneinander. Das ist dann der Zustand, in dem selbst vernünftige Leute mit unglaublicher Leichtfertigkeit davon schwätzen, dass nur noch eine Revolution, nur noch der gewaltsame Umsturz hilft. Schreibtisch-Intellektuelle unterliegen der Versuchung besonders leicht, das Argument angesichts der Faszination durch die Gewalt zu opfern. Gesinnungsschnüffelei hat den Sieg errungen, wenn sie unversöhnliche Gegensätze erzeugt.
Man hebt nicht länger den Kopf, man hebt das Bein.