Pandabären sind Streicheltiere. Bei ihrem Anblick bemächtigt sich des Menschen gewöhnlich eine bedeutende Rührung. Man möchte sie einfach umarmen. Sie sind so herzig und so niedlich.
Das waren sie nicht immer. In früheren Zeiten wurden sie von chinesischen Kaisern als Kampftiere eingesetzt. Pandabären waren für ihre Aggressivität gefürchtet.
Irgendwann haben sie jedoch eine tiefe Charaktertransformation durchlaufen. Vielleicht fürchteten sie sich vor sich selbst, vielleicht setzten ihnen Tiger und andere Raubtiere, vor allem der Mensch, auch zu sehr zu. Vielleicht wollten sie einfach bessere Bären werden. Wir wissen es nicht. Jedenfalls zogen sich die einst blutrünstigen Pandas in die Bambuswälder zurück und beschlossen, zu Vegetariern und friedlich zu werden. Das gelang ihnen auf bewundernswerte Weise. Heute halten dir Pandabären ihre rechte Wange hin, wenn du sie auf die linke schlägst. Sie tun keiner Fliege mehr etwas zuleide. Ja, sie sind von so immenser Friedfertigkeit, dass ihnen nun auch der Sexualakt als unerhörte Aggression erscheint, der in ihnen einen tiefen Abscheu erregt. Kurz gesagt, die Männchen kopulieren nicht mehr, selbst wenn man sie mit den tollsten Schönheiten der Pandawelt auf engem Raum einsperrt.
Ist es die streng vegetarische, inzwischen nur noch aus Bambussprossen bestehende Kost, die sie davon zurückhält? Oder ist es die unendliche Sanftmut, die ihnen jede Handlung verbietet, die auch nur den Verdacht der Gewaltanwendung erweckt? Auch das wissen wir nicht. Was wir hingegen wissen, ist die unbestreitbare Tatsache, dass es das Geschlecht der Pandas längst nicht mehr geben würde, wenn der Mensch die unendlich Sanftmütigen nicht durch künstliche Befruchtung künstlich am Leben hielte. Mit anderen Worten, die Pandas sind einfach zu gut für diese Welt.
Andererseits macht ihre Güte sie auch wieder zu Vorbildern. Gerade in Deutschland und Österreich gibt es mittlerweile eine nicht unbedeutende und jedenfalls recht lautstarke Zahl von Panda-Menschen, die sich gleichfalls durch ihre überwältigende Sanftmut auszeichnen. Wir sollten ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken, denn es deutet viel darauf hin, dass sie den Weg aller Pandas geben: Sie stehen kurz vor dem Aussterben.
Woran ist ein Panda-Mensch zu erkennen? Generell erkennt man ihn daran, dass er wie das Streicheltier in der Bärenwelt aus dieser schrecklichen Welt alles Böse radikal und für alle Zeiten verbannen möchte.
Zum Beispiel den Gewinn. Du sprichst vom Gewinn, und der Panda-Mensch schaut dich aus großen Augen an. Den Gewinn haben wir doch längst überwunden, hält er dir in vorwurfsvollem Ton entgegen. Eine gerechte Wirtschaft, die funktioniert ganz ohne Gewinn. Und er wirft dir deine Rückständigkeit vor und nennt dich vielleicht sogar einen Verbohrten. In der neuen Welt, sagt er mit leuchtenden Augen, brauchen wir keinen Gewinn. Alle Menschen leben brüder- und schwesterlich miteinander. Sie teilen Haus, Garten, Frühstück und Bett miteinander. Niemand will da noch mehr als der andere. Du merkst dem Panda-Menschen die innige Freude an, wenn er dir seine Vision verkündet.
Zum Beispiel die Arbeit. Du sprichst von Arbeit, und der Panda-Mensch schüttelt mitleidig den Kopf. Ja, ob ich denn immer noch nicht begriffen hätte, dass es die Arbeit schon bald nicht mehr geben werde? Der Panda-Mensch arbeitet nicht gern. Er lässt sich lieber streicheln und durchfüttern. Andererseits muss man zu seiner Ehre bemerken, dass ihm aller Egoismus ganz fremd ist. Bei allem, was er denkt und tut, hat er natürlich die restlichen sieben Milliarden Menschen des Globus im Auge. Mit einer für ihn ganz untypischen Energie fordert er tausend Euro für alle Asiaten, für ganz Lateinamerika, für sämtliche Afrikaner.
Er blickt dich aus treuherzigen Augen an. „Für Gott ist das eine Kleinigkeit“, sagt er. „Erzengel Gabriel druckt schon die Scheine. Das Grundeinkommen für alle wird aus der Himmelskassa bezahlt.
Zum Beispiel die Industrien. Du sprichst von Industrie, und der Panda-Mensch stößt einen Seufzer über deine Verstocktheit aus. Ob ich denn nicht wisse, dass wir längst in der postindustriellen Gesellschaft leben: in der Dienstleistungsgesellschaft. Dienstleisten heißt Liebe, sagt er. Produzieren, das tun die anderen, wir dienen und lieben uns. So sieht die neue Gesellschaft aus. Einander in Liebe dienen. Der Panda-Mensch lächelt, und Du kannst gar nicht anders, als in sein gütiges Lächeln einzustimmen.
Zum Beispiel der Wettbewerb. Du sprichst von Wettbewerb. Doch diesmal hast du ihn ernstlich enttäuscht. Er vergisst nun sogar seine Heiterkeit. Mit einem Anflug von Strenge verweist er dich in deine Schranken. Wettbewerb, sagt er mahnend, ist das Prinzip des Bösen. Du willst besser sein als die anderen, nicht wahr? Du willst dich vor ihnen auszeichnen, sie niederkämpfen? Du lebst deine Gier und deine Ich-Sucht aus. Merkst Du nicht, wie egoistisch du bist? In dir stecken Jahrtausende der Aggression.
Gequält und angewidert verzieht der Panda-Mensch das Gesicht.
Doch glücklicherweise ist er viel zu sanft, um wirklich böse zu werden. Er lächelt schon wieder, greift nach meiner Hand und zieht mich in den Bambushain. Schau doch, wie glücklich wir hier leben! Ein Garten Eden, das Paradies. Jeder von uns bezieht täglich seine 1000 Sprossen Grundration, und das macht uns echt kreativ. Wir sinnen – jeder auf seinem Baum – täglich über das Ziel unseres Lebens nach. Wir sind echt zufrieden, und wir leben in vollkommener Harmonie. Niemand nimmt dem anderen auch nur eine einzige Sprosse weg. Wettbewerb kommt bei uns nicht in Frage.
Und Geld, bringe ich schließlich zaghaft vor. Was macht ihr denn mit dem Geld?
Der Panda-Mensch breitet abwehrend die Hände aus. Oh, das Geld, das haben wir längst abgeschafft. Grundeinkommen wird nur noch in Sprossen bezahlt. Jeder weiß doch: Das Geld ist Alpha und Omega sämtlicher Übel. Um Geld haben sich die Menschen die Köpfe eingeschlagen. Für Geld haben sie ganze Völker ausgerottet. Sie horten Geld, sie beten Geld an wie einen Gott. Für Geld haben sie einander verkauft und verraten. Bei uns gibt es nur noch Sprossen, saftige, nahrhafte, leckere Sprossen! Vor meinen Augen führt der Panda-Mensch eine Stange an den Mund und beginnt hingebungsvoll daran zu lutschen.
Ehrlicherweise muss hier angemerkt werden, dass der Panda-Mensch in seiner reinrassigen Form heute nur noch in Reservaten zu finden ist. Im 17. und 18. Jahrhundert hatten die Jesuiten ihn in Paraguay eingeführt, aber auch dort ist er ausgestorben. Immer wieder konnte man ihm zwar in kleineren Gemeinschaften, vor allem in religiösen Sekten, begegnen, doch stets hat er sich als zeugungsunwillig und zeugungsunfähig erwiesen. Heutzutage überlebt er nur noch dank artifizieller Befruchtung. Mit 1000-Eurosprossen hält man ihn künstlich am Leben. Leider ist abzusehen, dass auch die letzten reinrassigen Exemplare umgehend aussterben werden, sobald man sie nicht länger auf Staatskosten erhält.
Nicht ausgestorben ist dagegen die Varietät der Gesinnungs-Pandas. Ich möchte sogar behaupten, dass sie eine heimliche Mehrheit unter den Intellektuellen Mitteleuropas bilden. Der Gesinnungs-Panda ist ein Mensch, der stets das Gute und nur das Gute will – weshalb er jedenfalls unsere höchste Achtung verdient. Er ist ein Gesinnungsguter, sozusagen gut aus Prinzip. Der Drang zum Guten ist bei ihm derart ausgeprägt, dass er in sich und in seinen Mitmenschen alles niederkämpft, was dem Guten im Wege steht.
Zum Beispiel die Intelligenz. Denn die Intelligenz ist ja keineswegs immer gut. Ein intelligenter Mensch – oder genügt dafür nicht einfach der gesunde Menschenverstand? – ist sich bewusst, dass eine gute Absicht bisweilen zu schlechten Folgen führt, ja, dass eine schlechte Absicht manchmal sogar gute Wirkungen zeitigt. Ein intelligenter Mensch weiß, dass die Wirklichkeit ungeheuer komplex ist und dass man sie, bevor man sie zum Besseren ändern will, erst einmal mit größter Sorgfalt kennen und analysieren muss. Ein intelligenter Mensch weiß, dass jene, die das absolut Gute wollen, oft das absolut Schlechte hervorgebracht haben. Er weiß, dass im Namen des absolut Guten die größten Verbrechen geschehen sind. Mit anderen Worten, der intelligente Mensch fürchtet sich von dem Absolutismus des Guten.
Doch Gesinnungs-Pandas suchen die Eindeutigkeit. Jedes Wenn-und-Aber ist ihnen von Herzen zuwider. Reden sie über Geld, Wettbewerb, Gewinn oder Kapital, dann verlangen sie eine eindeutige Haltung dafür oder dagegen. Der intelligente Mensch weiß, dass es hier wie in allen Dingen auf die richtige Dosierung ankommt. Ein Messer ist als Küchengerät unverzichtbar, aber offenbar kann man damit auch einem Menschen den Hals aufschlitzen. Er weiß, dass Menschen eine große Lust dabei empfinden, die eigenen Ideen zu verwirklichen, ja, und dass sie im Wettbewerb der Ideen natürlich besser als andere sein möchten. Darin besteht die Dynamik einer Gesellschaft. Er weiß zudem, dass man dieses Bedürfnis gerade bei jenen vorfindet, die so sehr nach dem Guten streben und die noch dazu überzeugt sind, es sozusagen wie ein Monopol gepachtet zu haben. Denn gerade solche Menschen sind nur zu gerne bereit, den anderen ihre Meinung aufzuzwingen, gerade sie pflegen am unduldsamsten zu sein.
Der intelligente Mensch – oder genügt dafür nicht einfach der gesunde Menschenverstand? – will keine Utopie, kein Nirgendwo, also auch keinen grundlegend neuen Menschen, weil er weiß, dass man, um ihn zu verwirklichen, erst einmal den alten Menschen ausmerzen müsste. Er sucht stattdessen einen mittleren Weg, auf dem seine Mitmenschen und er selbst ihre besten Neigungen auf bestmögliche Art entfalten (oder auch einfach auf die am wenigsten schädliche Art). Dieses Ziel ist bescheiden, und er weiß, dass er sich den Spott der absolutistischen Gesinnungs-Pandas einhandelt, doch lässt er sich davon nicht beirren.
Der Gesinnungs-Panda setzt sich über alles hinweg, was seinem Bedürfnis im Wege steht, im Licht des reinen Guten zu erstrahlen. Das betrifft zum Beispiel das vertiefte Wissen um Tatsachen und um komplexe Zusammenhänge. Ein solcher Mensch ist gewöhnlich daran zu erkennen, dass er über dem Wissen und über den Fakten steht. Beides kann ihn im Zweifelsfall nicht wirklich beirren, weil die reine Gesinnung ihn wie eine schützende Rüstung umhüllt. Sie verleiht ihm eine unerschütterliche moralische Überlegenheit und eine erstaunliche Resistenz gegen Fakten und alle „technokratischen“ Belanglosigkeiten. Es genügt ihm, das Ziel des absolut Guten ein für alle Mal bis auf den Grund durchschaut zu haben. Sollen andere sich den Kopf darüber zerbrechen, wie man es hienieden verwirklicht.
Hin und wieder kommt mir übrigens der Verdacht, dass der Gesinnungs-Panda gerade in unseren Landen ein besonders geeignetes Habitat für seine Entfaltung vorfindet. Ist er vielleicht ein zeitgenössischer Avatar unserer romantischen Dichter und Denker? Das würde erklären, warum er in seiner Reinheit davor zurückschreckt, sich mit den schmutzigen Details zu befassen, in denen sich unser alltägliches Leben und die Wirtschaft abspielen: der gewöhnlich allzu-gewöhnliche Kampf um die Notdurft des Lebens.
Bis heute wurzelt unsere Intelligenz in akademischen Elfenbeintürmen und im Schulbereich. Aus diesem geschützten Milieu kommen die radikalen Weltverbesserer, die unduldsamen Utopisten, die kompromisslos Guten – kurz die Gesinnungs-Pandas. Dem wirklichen Menschen, der schweigenden Mehrheit, die sie mit ihren Utopien beglücken möchten, begegnen diese Leute nur selten in ihrem Leben, und wenn, dann stehen sich die beiden Lager in Sprachlosigkeit gegenüber. Die radikalen Welterneuerer wollen die Menschen verbessern. Was kümmert es sie, dass sie diese Menschen kaum kennen?
Der Panda-Mensch steht längst auf der roten Liste. Er ist eine aussterbende Art. Aber wie steht es um die Gesinnungs-Pandas?
Ich meine, es wäre überflüssig, wenn wir uns den Kopf über diese Frage zerbrechen. Die Wirklichkeit ist im Begriff, sie für uns zu beantworten. Es zeigt sich nämlich, dass diese Leute erbarmungslos verdrängt und beiseite geschoben werden, und zwar von denen, die sehr wohl auf die Stimmen der Masse hören. Von denen, die mit Ohren und Augen Stimmen und Stimmung der Mehrheit genau beobachten und diese dann zu ihren Zwecken missbrauchen und manipulieren. Der Fremdenhass, die Hetze gegen die Griechen und Südländer, die geistig schlichte Verteufelung der Bankiers und Industriemanager (obwohl diese nur tun, was ihnen die Politik durch falsche Weichenstellung ermöglichte), eine undifferenzierte Mobilmachung gegen die Institutionen der Europäischen Union oder ein primitiver Nationalismus (statt eines berechtigten und notwendigen Verantwortungsgefühls für die demokratisch zu ordnenden Belange der eigenen Region und des eigenen Staates) – all dies wird von jenen bewusst geschürt, die es vorzüglich verstehen, ihre Intelligenz in den Dienst der Demagogie zu stellen. Sie werden mit jedem Jahr stärker.
Da wächst eine wirkliche und gefährliche Macht heran. Sie wären aber niemals so stark geworden, wenn ihnen die Gesinnungspandas nicht in die Hände spielten. Wer das Absolute will, wird blind für die Wirklichkeit. Wer auf dem Podest moralischer Überheblichkeit thront, büßt das Augenmaß ein. Wer nur im Grundsätzlichen argumentiert, missachtet die Einsprüche der Intelligenz. Wer immer nur das Beste will, erreicht nicht einmal das Gute.
Die Gesinnungspandas tragen nicht wenig Schuld daran, dass die Gesinnungslosen wieder im Vormarsch sind.