(auch erschienen in: "scharf-links")
Während der vergangenen zweihundert Jahre wurden Europas Menschen regelmäßig von fixen Ideen heimgesucht. Man darf durchaus von Anfällen geistiger Verwirrung sprechen, deren Auswirkungen teils verhängnisvoll waren. Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert gab es die fixe Idee, der Teufel würde vorzugsweise Frauen befallen, um sie zu Hexen zu machen, die Kirche und Staat dann ausrotten mussten. Zwischen dem Beginn der Industrialisierung und der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die Menschen von der fixen Idee mangelnden ‚Lebensraums’ heimgesucht (der Terminus selbst kam allerdings erst gegen Anfang des 20. Jahrhunderts auf). Aufgrund dieser Idee wurde die Aneignung fremder Territorien als Absatzmärkte für die eigene Überschussproduktion mit größter Selbstverständlichkeit praktiziert. Die europäischen Nationen fühlten sich innerhalb ihrer Grenzen bedrängt und kolonialisierten weite Teile der übrigen Welt. Als es draußen nichts mehr zu erobern gab, fielen sie im Ersten Weltkrieg übereinander her.
Fixe Ideen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich als resistent gegen die Einsprüche von Vernunft und Erfahrung erweisen. Daran hat sich bis heute nichts geändert, denn neuerdings ist wieder eine solche vernunftresistente fixe Idee aufgekommen. Diesmal betrifft sie die Arbeit. Seit einigen Jahren ist von den verschiedensten Seiten zu hören, dass uns die Erwerbsarbeit ausgehen würde. Das sei eine mit der in unserer Wirtschaft üblichen Automation der Arbeitsvorgänge unlösbar verbundene und daher auch unabwendbare Entwicklungstendenz.
Scheinbare Bestätigung
Die Idee ist nicht neu: Sie kam etwa gleichzeitig mit der industriellen Revolution in die Welt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Handweberei noch Hunderttausende von Menschen beschäftigt. Doch in England waren die Maschinen bereits erfunden, die in kurzer Zeit die meisten von ihnen um Arbeit und Einkommen brachten. Überall flackerten die Aufstände hungernder Weber auf. In England zerschlugen die Ludditen die automatischen Webstühle. Die Regierung setzte daraufhin das Militär gegen die Maschinenstürmer ein. In Deutschland wiederholte sich dieses Drama, das Gerhard Hauptmann später in einem die öffentliche Meinung aufrüttelnden Stück noch einmal auf der Bühne aufleben ließ. Auch damals hieß es, die Maschinen würden den Leuten Arbeit und Leben nehmen.
Eine fixe Idee mag gegen die Einsprüche von Vernunft und Erfahrung weitgehend resistent sein. Aber nur in seltenen Fällen wie dem des Hexenwahns bildet sie sich völlig unabhängig von jeder Erfahrung. Denn zweifellos hat die Industrialisierung ja Arbeit und Einkommen in großem Maßstab vernichtet. Seit Ende des 18. Jahrhunderts konnte sich jeder durch den eigenen Augenschein überzeugen, dass Maschinen und technischer Fortschritt vorhandene Berufe ständig verdrängten. Das klassische Beispiel liefert natürlich die Landwirtschaft. Die Bauernschaft wurde erst langsam, schließlich radikal und in immer schnellerem Tempo regelrecht dezimiert. Waren um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch an die neunzig Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig und nur zehn Prozent in industriellen und anderen Berufen, so hat sich das Verhältnis zweihundertfünfzig Jahre danach geradezu umgekehrt: Landwirte machen in den fortschrittlichsten Staaten nur noch einen verschwindenden Teil der Erwerbstätigen aus (in Deutschland gerade noch 2,8%). Traktoren, Melk-, Mäh- und ein ganzer Park weiterer Maschinen haben die Vorgänge so weit automatisiert, dass Menschen in der Landwirtschaft kaum noch benötigt werden.
Weitsichtige Unheilspropheten hätten schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts gute Gründe gehabt, den Untergang der Welt zu beschwören. Wenn statt 90% der Erwerbstätigen irgendwann einmal nur noch 2,8% in der Landwirtschaft tätig sein würden, wo sollten dann all die Menschen noch Arbeit und Einkommen finden, die man dort nicht mehr brauchen würde? Der Nährboden für die fixe Idee, dass da eine arbeits- und einkommenslose Gesellschaft entsteht, war schon damals bereitet. Umso erstaunlicher ist es, dass genau die gegenteilige Entwicklung tatsächlich zu beobachten war. Keine Gesellschaftsform hat jemals so viel Arbeit und Einkommen geschaffen wie die damals im Entstehen begriffene freie industrielle Marktwirtschaft.
Die Fakten
Dank der industriellen Revolution hat sich die Bevölkerung in England zwischen 1800 und 2010 von 8 auf ca. 60 Millionen vergrößert. Ein Agrarland konnte nur relativ wenigen Menschen Arbeit und Einkommen bieten, aber die Einführung von Maschinen nahezu achtmal so vielen Bewohnern. In den USA gab es um 1800 gerade 4 Millionen Menschen, heute sind es etwa 309 Millionen. Die gleiche Entwicklung fand auf dem Territorium des heutigen Vereinten Deutschlands statt. Um 1800 konnte das Land beim damaligen Stand der Technik nur eine Bevölkerung von etwa 20 Millionen Menschen mehr schlecht als recht ernähren (in den Jahrzehnten davor war es in ganz Europa immer noch zu Hungersnöten gekommen!). Heute sind es ca. 82 Millionen, und sie leben mit einem unvergleichlich höheren materiellen Komfort als ihre Vorfahren vor zweihundert Jahren. Nur die Belastbarkeit der Natur und die Verfügbarkeit von Ressourcen setzen der stetigen Expansion von Bevölkerung, Einkommen und Arbeit eine wohl heute schon erreichte Grenze.
Die Fakten reden eine eindeutige Sprache: Industrialisierung als Prozess einer systematischen Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinen und Automaten hat sich historisch als das größte jemals verwirklichte Projekt der Arbeits- und Einkommensbeschaffung erwiesen. Auf jeden vernichteten Handwerksberuf kamen Dutzende neuer Berufe, die erst durch die Maschinen geschaffen wurden. Nach 1950 gelang es sogar, auch die Frauen, also eine ganze Hälfte der Bevölkerung, die bis dahin nur unbezahlte Arbeit in der Familie geleistet hatte, weitgehend in die Erwerbsarbeit einzugliedern. Wie konnte sich angesichts dieser überwältigenden historischen Evidenz die fixe Idee ausbreiten, dass Maschinen und Automation die Erwerbsarbeit in großem Umfang vernichten?
Richtige Beobachtung – falsche Folgerung
Die neue Wirtschaftsform war von Anfang an janusköpfig: Sie zeigt uns einerseits das grimmige Gesicht der Zerstörung und andererseits das freundliche Antlitz der dauernden Neuschöpfung. Gegen die Zerstörung von Arbeit und Einkommen wurde von Anfang an laut protestiert. Dieser Protest zieht sich wie ein Basso Continuo durch die vergangenen zweihundert Jahre. Dagegen gingen die Leute zu Recht auf die Straße, und darauf mussten Politik und Intellektuelle auch stets reagieren. Aber niemand ging auf die Straße, um zur kollektiven Freude über die gleichzeitig stattfindende Neuschöpfung von Berufen aufzurufen. Bewusst wurde den Menschen allein die Katastrophe, welche die aus ihren angestammten Tätigkeiten verdrängten Bauern, Kutscher, Handwerker oder auch die Arbeiter sterbender Industriezweige ereilte. Und es war eine wirkliche Katastrophe, solange es keine Sozialversicherung gab, die diese Menschen aufzufangen vermochte.
Doch wer von Katastrophe spricht, sieht nur die eine der beiden Seiten der Medaille. Das doppelte Antlitz unserer janusköpfigen Ökonomie hat Joseph Schumpeter treffend mit dem Wort der ‚schöpferischen Zerstörung’ beschrieben. Während bestehende Berufe mitsamt den dadurch erzeugten Einkommen vernichtet wurden und auch in Zukunft vernichtet werden, waren die vergangenen zweihundert Jahre zur gleichen Zeit durch einen schöpferischen Prozess charakterisiert, der sehr viel mehr neue Berufe und mit ihnen sehr viel mehr Arbeit und Einkommen schuf als in diesem Prozess zerstört worden sind. Deswegen konnte die Bevölkerung ständig wachsen, und dieser wachsenden Bevölkerung obendrein noch ein weit besseres materielles Lebensniveau geboten werden.
Warum ist die Erwerbsarbeit fortdauernd expandiert?
Lassen wir die Geschichte der vergangenen zweihundert Jahre Revue passieren, dann liegt das Faktum einer fortwährenden Expansion von Arbeit und Einkommen offen vor unseren Augen. Doch ist damit noch nichts über den Mechanismus gesagt, der dieser Expansion zugrunde liegt. Am einfachsten lässt sich dieser am Beispiel der Landwirtschaft aufzeigen. Hatte früher ein einzelner Bauer mit seiner eigenen und der Arbeitskraft seiner Tiere gerade die eigene Familie und (über die beiden an Staat und Kirche zu entrichtenden Zehnten) vielleicht noch ein bis zwei weitere Personen ernährt, so unterhält ein landwirtschaftlicher Betrieb, bestehend aus zwei Arbeitskräften, heute im Schnitt außer sich selbst circa 69 andere Menschen (das entspricht dem Anteil der Bauern an den Erwerbstätigen in Höhe von 2,8%). Würde der Haushalt seine Machtstellung missbrauchen (denn ohne Nahrung gibt es keine Gesellschaft), indem er den ungeheuren Produktivitätszuwachs für sich allein beansprucht, dann würden die übrigen 69 als Hilfskräfte bei ihm arbeiten müssen. Unter diesen Umständen hätte sich nichts geändert, und es hätte keinen Fortschritt gegeben. Nur weil die Entwicklung auf völlig andere Art verlief, werden wir alle ernährt und können uns noch Hunderte von zusätzlichen Produkten leisten. Diese andere Entwicklung fand deshalb statt, weil der landwirtschaftliche Haushalt im Schnitt nicht mehr verdient als die 69 von ihm erhaltenen Personen. Die Letzteren stellen nun alle möglichen Dinge her, für die der Bauer Verwendung hat. Im Gegenzug für Fleisch und Getreide liefern sie ihm landwirtschaftliche Geräte und Haushaltsmaschinen, Textilien, Heilmittel gegen Krankheiten und tausend andere Dinge.*1*
Der Vorgang hat sich tausendfach auch außerhalb der Landwirtschaft abgespielt. Wurden die ersten Autos noch unter Einsatz vieler Beschäftigter hergestellt – mehr als zwanzig Leute wurden ursprünglich gebraucht, um ein einziges Auto pro Jahr zu erzeugen, so braucht man heute weniger als eine Person, um zwanzig Autos pro Jahr herzustellen. Die ‚Produktivität’ des einzelnen Arbeiters ist also dank Mechanisierung (Automation) steil in die Höhe geschnellt. Wenn von den ursprünglich zwanzig Arbeitern, die ein Fahrzeug pro Jahr herstellten, nur einer übrig bleibt, der pro Jahr zwanzig Autos verfertigt, so hat die Arbeitsproduktivität sich um das Vierhundertfache erhöht.
Das Geheimnis liegt in der Verbilligung
Das Geheimnis der Jobmultiplikation während der vergangenen zweihundert Jahre liegt genau hier. Der Wettbewerb hat die Menschen immer produktiver gemacht. Ihr Einkommen aber ist diesem Zuwachs nicht gefolgt. Es ist bei den Arbeitern einer Autofabrik eben nicht um den Faktor vierhundert gestiegen. Stattdessen wurden die erzeugten Produkte immer billiger – und damit stieg das Einkommen der gesamten Bevölkerung, weil sich ihre Kaufkraft entsprechend vermehrte. Die Verbilligung der Produkte schafft dann einen Kaufkraftüberhang, der von den vorhandenen Produkten nicht absorbiert wird. Das ist das Geheimnis der Jobkreation. Aufgrund ihrer gestiegenen Kaufkraft können die Menschen neue Produkte erwerben, hergestellt von anderen Menschen in neuen, bisher unbekannten Berufen. Während die Autofirmen Menschen en masse entlassen, werden zur gleichen Zeit Hunderte solcher bis dahin völlig unbekannten Berufe geschaffen: Arbeiter und Angestellte in Computer- und Handyfirmen, Informatiker, Logistiker, Yogalehrer oder Unternehmensberater – um einige von ihnen willkürlich herauszugreifen.
Selbst Krisen ändern nichts an der Logik der Jobvermehrung
Der Zauberstab einer durch Verbilligung vergrößerten Kaufkraft hat während der letzten zweihundert Jahre seine magische Wirkung auf eklatante Weise bewiesen. Wer das Ende der Erwerbsarbeit aufgrund von maschineller Automation beschwört, spricht nicht über diese Welt, sondern über eine andere, die allein in seinem Kopf existiert. Selbst wenn wir die Arbeitslosigkeit in ihrer krassesten Form in das Gesamtbild einbeziehen, ändert sich der allgemeine Trend nur unwesentlich. Im Jahr 1933, als die Große Depression in den Vereinigten Staaten ihren Höhepunkt erreichte, gab es Arbeit und Einkommen nur noch für 37 Millionen Amerikanern – 13 Millionen Menschen, also knapp jeder Vierte der insgesamt 50 Millionen arbeitsfähigen Amerikaner, hatten ihre Arbeit verloren (bei einer damaligen Gesamtbevölkerung von ca. 123 Millionen). Doch im Jahr 1800, als die industrielle Entwicklung gerade begann, lag die Zahl der Erwerbstätigen unter 2 Millionen (das Land ernährte zusammen mit seinen Ureinwohnern gerade einmal 4 Millionen Menschen). Bevor die ersten europäischen Siedler den nordamerikanischen Kontinent übernahmen, hat überhaupt nur eine Handvoll von Ureinwohnern dort Platz gefunden, weil Jäger und Sammler gewaltige Territorien zum Überleben brauchten. Erst der zunehmende technische Fortschritt machte es möglich, dass das Land immer neue Ströme von Siedlern aufsaugen und alle mühelos ernähren konnte. Selbst 1933, am Scheitelpunkt der Massenarbeitslosigkeit, hat die industrielle Transformation die Zahl der Menschen in Arbeit und Einkommen immer noch um den Faktor 18 vermehrt (bei Vollbeschäftigung wäre es der Faktor 25 gewesen), wenn man den Startpunkt der industriellen Entwicklung um 1800 dagegen hält.
Wie blind muss man für die Wirklichkeit sein, um angesichts solcher Tatsachen weiterhin der fixen Idee anzuhängen, die Ersetzung von menschlicher Arbeit durch Maschinen würde den Verlust von Arbeit und Einkommen bewirken? Joseph Schumpeter hat diese Blindheit schon vor einem halben Jahrhundert als solche durchschaut. Trotzdem sind ihr viele sogenannte Experten weiterhin zum Opfer gefallen. Man findet sie in Jeremy Rifkins Buch vom vermeintlichen Ende der Arbeit ebenso wie in der Globalisierungsfalle von Martin und Schumann.
Wenn das System aus dem Tritt fällt
An diesem Punkt könnte man mir allerdings Schönfärberei vorwerfen. Ist Europa nicht im Begriff, in eine furchtbare Krise zu schlittern, die zumindest in den Ländern des Südens Arbeit und Einkommen in großem Umfang vernichtet? Und litt nicht auch Deutschland vor wenigen Jahren noch an über fünf Millionen Arbeitslosen, deren Zahl im Augenblick vor allem deswegen geschrumpft ist, weil der billige Euro den Deutschen einen großen Wettbewerbsvorteil beschert?
Gewiss. Das sind gefährliche Gegenbewegungen, die wir bereits aus den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kennen. Und deshalb ist es von größter Bedeutung, die wirklichen Ursachen beim Namen zu nennen. Nicht die wachsende Produktivität der Arbeit und ihre Ersetzung durch Maschinen sind hierfür verantwortlich, sondern – wie schon in den Dreißiger Jahren – geht dieses Unheil auf einen ganz anderen Missstand zurück: auf eine Störung und einen Boykott des Systems. Die Regeln, unter denen sich trotz fortschreitender Automation Arbeit und Einkommen dennoch vermehren, sind gegenwärtig teilweise außer Kraft gesetzt – genau wie in den Dreißiger Jahren.
Ich sagte schon, dass der einzelne landwirtschaftliche Haushalt, der in Deutschland heute ca. 69 weitere Menschen ernährt, im Schnitt nicht mehr als das Durchschnittseinkommen aller übrigen Erwerbstätigen bezieht. Für den ungeheuren Produktivitätsfortschritt, den er durch den Einsatz moderner Technik erzielen konnte, wird er also nicht speziell belohnt. Statt dass sich sein Einkommen erhöhte, verbilligt er die von ihm erzeugten Produkte und erhöht dadurch das Einkommen der gesamten Bevölkerung (aufgrund der dadurch ermöglichten Kaufkraftsteigerung).
Diese Verbilligung und die ihr entsprechende Kaufkrafterhöhung sind die Bedingung sine qua non für die Funktionsfähigkeit Systems. In der Landwirtschaft, im Gewerbe, im Handel, in der industriellen Massenproduktion, überall steigt die Produktivität, die Preise fallen, die Kaufkraft der Menschen erhöht sich und damit die Nachfrage nach neuen Produkten. Das ist die Voraussetzung für die stete Vermehrung von Arbeit und Einkommen. Wenn diese Bedingung außer Kraft gesetzt wird, dann bricht die Kurve ein. Es kommt zu einer krisenhaften Entwicklung: zu Arbeitslosigkeit und Einkommensverlusten.
Denn Automation muss eben keinesfalls zu einer Verbilligung der Produkte führen, die der gesamten Bevölkerung zugute kommt. Der durch den Produktionszuwachs ermöglichte Mehrgewinn kann als leistungslose Rendite (über Zinsen, Dividende) stattdessen in die Taschen der Geldgeber fließen, welche das Kapital für die betreffenden Maschinen aufbringen. Wenn dies der Fall ist, wirkt Automation nicht länger zum Vorteil der Mehrheit, sondern kommt vorwiegend einer Minderheit zugute, die ihr Geld nicht durch eigene Arbeit, sondern wortwörtlich im Schlaf verdient und so über die Jahre immer größere Vermögen erwirbt.*2*
Das grimmige Gesicht der ‚schöpferischen Zerstörung’, nämlich der mit der Automation unweigerlich verbundene Arbeitsverlust, hat seinen Schrecken weitgehend verloren. Dieses Problem gab es nur in den furchtbaren Kinderjahren der industriellen Marktwirtschaft. Als diese sich schrittweise zur ‚sozialen Marktwirtschaft’ weiterentwickelte, sah der Staat seine Pflicht darin, die Entlassenen finanziell aufzufangen und sie in neuen Tätigkeiten auszubilden. Damit war jedoch nur der kleinere Teil der mit der neuen Ökonomie entstandenen Probleme gelöst. Für die Hauptgefahr: das stete Anschwellen leistungsloser Renditen wurde bis heute keine Lösung gefunden. Diese aber richtet die Marktwirtschaft – auch in ihrer sozialen Form – ebenso sicher zugrunde.
Eine neue und eindeutige Definition von Kapitalismus
Denn der Übergang von der reinen zur sozialen Marktwirtschaft ist nur eine notwendige, keineswegs eine hinreichende Bedingung, um das System auf Dauer zu stabilisieren. Die Marktwirtschaft war von Anfang an in Gefahr, in den Kapitalismus abzugleiten. Darunter verstehe ich – abweichend von den üblichen eher unscharfen Definitionen – ein System, in dem Geld statt durch eigene Arbeit durch anderer Leute Arbeit und Leistung verdient werden kann, nämlich mit Hilfe von Kapitalerträgen (Zinsen, Dividenden, Renditen aus unverschuldetem Sachkapital, Finanzspekulation usw.).
Eine soziale Marktwirtschaft ohne Kapitalisten lässt diese Möglichkeit grundsätzlich nicht zu – sie kennt keine Ausbeutung. Privates Eigentum – auch an den Mitteln der Produktion – ist die Grundlage, auf der eine klassenlose Gesellschaft aufbauen kann, die ihre Mitglieder ausschließlich aufgrund von individuellem Wissen und Können belohnt. Einkommen und Vermögen können sich hier grundsätzlich nicht generationsübergreifend in bestimmten Händen zusammenballen, da Wissen und Können ja mit jeder Generation auf andere Köpfe übergehen. Eine Ballung der Vermögen in wenigen Händen stellt daher das eigentliche Merkmal des Kapitalismus dar, wie er hier definiert wird. Neben Wissen und Können nistet sich das Privileg in der Gesellschaft ein und zieht – auf Kosten von Wissen und Können – mehr und mehr parasitäre Einkommen aus der Volkswirtschaft ab (vergl. Karl Marx – ein hellsichtiger Reaktionär?). Hier liegt der wahre Grund für den Rückgang der Erwerbsarbeit und der daraus zu erzielenden Einkommenssumme für die unteren neunzig Prozent. Mit der Automation hat diese Entwicklung absolut nichts zu tun – das ist eine fixe Idee, so falsch wie der Hexenwahn oder der Mangel an Lebensraum.
Das System funktioniert nicht, sobald immer mehr tote Gewichte an der Realwirtschaft hängen
Der Anteil am Gesamteinkommen einer Volkswirtschaft, den eine privilegierte Minderheit sich über parasitäre Kapitalerträge aneignet und in jährlich anschwellende Vermögen verwandelt, bezeichnet demnach das Ausmaß der kapitalistischen Deformation einer ursprünglich auf Wissen und Können begründeten Marktwirtschaft. In Deutschland liegt dieser Anteil gegenwärtig etwa in Höhe der größten Massensteuer (Lohnsteuer) – in diesem Ausmaß wird Volkseinkommen Jahr für Jahr von den unteren 90 in die Taschen der oberen 10 Prozent transferiert.*3* Dieser von einer parasitären Schicht ausgehende Sog (der Sog, den die von mir so definierten wahren ‚Kapitalisten’ ausüben) verhindert die weitere Verbilligung der Produkte und die Bildung eines Kaufkraftüberhangs, der neue Arbeit und Einkommen hervorbringt. Arbeit, die wäre in Hülle und Fülle da, daran fehlt es weniger denn je, es fehlt nur das Geld, sie auch zu bezahlen! Die Marktwirtschaft funktioniert eben nur noch partiell, wenn ein wachsender Anteil der gesamten Einkommenssumme parasitär erworben wird und als totes Gewicht an der Wirtschaft hängt.*4*
Tot ist dieses Gewicht allerdings nur, insofern es einer Volkswirtschaft wie ein Mühlstein am Halse hängt und sie – bei mangelndem Wachstum – schließlich in den Abgrund zieht. Andererseits haben wir es bei diesem Gewicht mit einem überaus lebendigen Wasserkopf zu tun, denn er wird durch die herrschende ‚Elite’ in Wirtschaft, Finanz, Medien und Politik gebildet, die natürlich ein Interesse daran besitzt, mit der fixen Idee vom schleichenden Tod der Erwerbsarbeit davon abzulenken, dass sie selbst der eigentliche Nutznießer der kapitalistischen Deformation der sozialen Marktwirtschaft ist und dafür die Verantwortung trägt – einer Deformation, die sie inzwischen so weit getrieben hat, dass aus der sozialen allmählich wieder die ursprüngliche, brutale, unsoziale Marktwirtschaft wird, in der das grimmige Gesicht der Zerstörung das freundliche Antlitz der Neuschöpfung abermals in den Schatten zu stellen droht.
1 Diesen Mechanismus habe ich in meinem 1999 bei S. Fischer erschienenen Buch ‚Die Arbeitslose Gesellschaft’ beschrieben.
2 Damit will ich natürlich keinesfalls sagen, dass die oberen zehn oder weniger Prozent sich nur parasitär bereichern. Das ist im Gegenteil wohl nur ausnahmsweise der Fall. Die großen Vermögensbesitzer beziehen zwar den Großteil ihrer Einkommen auf parasitäre Art, aber meist gehen sie noch einer Arbeit nach, an der sie ebenso rechtmäßig verdienen wie jeder andere auch.
3 Im vergangenen Jahrhundert ist es schon einmal zu einer solchen Konzentration der Einkommen und Vermögen gekommen, und zwar in den USA im Laufe der zwanziger Jahre. Die Folge war die größte Arbeitslosigkeit und Not in der Geschichte des Kontinents. Marriner Eccles, späterer Notenbankchef und damit zweitwichtigster Mann nach dem damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, äußerte sich darüber in klassischer Weise: „Bis 1929 und ’30 /also bis zum Beginn der Wirtschaftskrise/ hatte eine gewaltige Saugpumpe einen zunehmenden Anteil des erzeugten Reichtums in wenige Hände umgeleitet… und so die Kaufkraft aus den Händen der Mehrheit genommen…“
4 ‚Das ökonomische Manifest – fünf Fundamentalreformen, um den Niedergang von Wirtschaft und Demokratie aufzuhalten’, führt diese Überlegungen im Einzelnen aus und wird demnächst als elektronisches Buch im Verlag Monsenstein und Vannerdat erscheinen.