Coronavirus stellt eine so massive Bedrohung dar, dass es außer Virologen und Politikern auch medizinisch unbedarften Laien erlaubt sein muss, sich eigene Gedanken zu machen. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Covid-19 sind inzwischen so gut dokumentiert, dass außer den zwei bekannten Verläufen dieser Epidemie eine dritte Alternative – zumindest theoretisch ins Auge gefasst werden könnte. Die beiden bekannten sind erstens, der „Natürliche Ausbruch“, und zweitens, die „Angeordnete Quarantäne“, wie sie seit kurzem nahezu weltweit praktiziert wird. Die dritte sollte in England verwirklicht werden, man könnte sie als „Beschleunigte Immunisierung“ beschreiben.
Erste Alternative: das „Naturereignis“
Die Pest, welche Boccaccio um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts beschrieb, hat in ganz Europa zwischen einem Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung an Opfern gefordert. Mit den damaligen Mitteln der Medizin war es unmöglich, sie einzudämmen, und das traf auch noch auf die sogenannte Spanische Grippe zu, die mehr Menschen dahingerafft hat als der Erste Weltkrieg, der ihr voranging. Im Mittelalter wie zu Beginn des 20sten Jahrhunderts sah sich keine Regierung imstande, die Ausbreitung derartiger Seuchen einzudämmen, geschweige denn zu verhindern. Die Krankheit wütete so lange, bis sie alle Menschen ohne ausreichende Immunresistenz ausgemerzt hatte, denn Heilmittel gab es damals weder gegen die Pest noch gegen die Grippe. Immerhin praktizierte man in Venedig bei einem Ausbruch der Pest jenseits der Stadt eine vierzigtägige (quaranta) Isolation aller Zureisenden. Daher der Name Quarantäne.
Solange es keinen Impfstoff gibt
und dessen marktreife Entwicklung wird mit ziemlicher Sicherheit mindestens noch ein halbes, wenn nicht ein ganzes Jahr dauern, soll der soziale Verkehr durch angeordnete Quarantäne (oder maximale Einschränkung des Sozialkontakts) eingeschränkt werden, um die Übertragung des Virus von Person zu Person zu verhindern. Da chinesischen Statistiken zufolge die Sterblichkeitsrate aufgrund von Covid-19 etwa zwei Prozent beträgt, würden bei einer Bevölkerung von achtzig Millionen (in Deutschland) an die 1,6 Millionen Menschen in kurzer Zeit am Virus sterben, falls dessen Ausbreitung wie ein Lauffeuer innerhalb von ein oder zwei Monaten die gesamte Einwohnerschaft erfasst. Der Tod würde die Menschen in ihren Häusern und auf der Straße ereilen, da die Intensivstationen nur einen Bruchteil an Betten anbieten können, nämlich in Deutschland insgesamt nur etwa 28 000 (von denen in normalen Zeiten mehr als 70% ohnehin durch andere Krankheitsfälle belegt sind, siehe https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/corona-in-deutschland-bis-wann-reichen-die-krankenhaus-betten-16676537.html), sodass tatsächlich den 1,6 Millionen Todkranken ingesamt nur etwa 8 400 Betten gegenüberstehen.
Angenommen, die chinesischen Statistiker hätten sich um den Faktor hundert geirrt, weil viele Infizierte nicht getestet und daher auch nicht als solche erkannt worden sind, dann würden in Wahrheit nur 0,02% lebensbedrohliche Fälle die Krankenhäuser belagern. Doch wären das immer noch 16 600 Fälle, also immer noch das Doppelte von dem, was das deutsche Gesundheitssystem verkraften könnte.
Zweite Alternative: „Angeordnete Quarantäne“
Der Zweck dieser Alternative liegt darin, die Ausbreitung des Virus so zu verlangsamen, dass die Zahl der Schwerkranken möglichst die Zahl der vorhandenen Betten in den Intensivstationen nicht überschreitet. In China scheint das gelungen zu sein (zumal neue Hospitäler in großer Zahl innerhalb kürzester Zeit aus dem Boden gestampft worden sind); in Italien sieht es nicht danach aus.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine Einsicht, die nicht nur für Italien, sondern auch für China gilt. Selbst wenn es gelänge, die Übertragung durch strengste Quarantäne in Schach zu halten, bleibt die Anfälligkeit für das Virus solange erhalten, bis mindestens 60% der Bevölkerung gegen das Virus Immunität erlangen, also die entsprechenden Antikörper entwickelt, wobei dies aufgrund natürlicher Ansteckung oder auf künstlichem Wege durch Impfung geschieht. Aus diesem Grund muss China, auch wenn es im eigenen Land die Ansteckung auf null reduziert, die Grenzen gegen das Ausland weiterhin abriegeln, weil neunundneunzig Prozent der Bevölkerung nach wie vor ohne Immunschutz sind (sie wurden durch strikte Quarantäne nur gegen Ansteckung geschützt). Die Gefahr neuer Ausbrüche von Covid-19 ist also auch im fernen Osten durchaus nicht gebannt.
Dennoch kann die Politik der Quarantäne am Ende erfolgreich sein, wenn die Drosselung der Ansteckung bis zu dem Zeitpunkt gelingt, wo ein Impfstoff in ausreichender Menge vorhanden ist und die Immunisierung von mindestens sechzig Prozent der Bevölkerung dann auf dem Wege künstlicher aber ungefährlicher Ansteckung (eben durch Impfung) gelingt. Da dies wohl mindestens bis zu einem Jahr dauern wird, läuft Alternative 2 dann aber möglicherweise darauf hinaus, dass das soziale und wirtschaftliche Leben sowie der Verkehr über die Grenzen während dieser Zeit einer weitgehenden Lähmung unterliegen – mit unabsehbaren Folgen.
Alternative drei: „Beschleunigte Immunisierung“
Es gibt eine dritte Alternative, die diese Lähmung vermeidet. Aufgrund der in China vorhandenen Daten wissen wir, dass durch Covid-19 vor allem über 60 Jahre alte Menschen gefährdet sind. Etwa ein Viertel aller über achtzig Jahre alten Menschen stirbt an der Ansteckung – zwischen 60 und 80 gilt das nur noch für sechs Prozent und unterhalb von sechzig Jahren ist der Prozentsatz sehr gering. Generell gilt eine Wahrscheinlichkeit von 27,4% für über Sechzigjährige an Corvid-19 zu sterben, während sie für unter 60-jährige nur etwa ein Zehntel, nämlich 2,3%, beträgt (https://ourworldindata.org/coronavirus).
Wenn diese Zahlen stimmen, muss man sich fragen, ob es nicht sinnvoll sein könnte, eine strenge Quarantäne auf die über Sechzigjährigen zu beschränken, statt sie auf die gesamte Bevölkerung auszudehnen. Bezogen auf Deutschland würde Alternative 3 zum Beispiel bedeuten, dass nicht 83 Millionen Menschen in Isolation gehalten und die Grenzen dicht gemacht werden, sondern nur 24 Millionen, also weniger als ein Drittel, und der Verkehr würde keinen Einschränkungen unterliegen. Die Quarantäne ist in diesem Fall vergleichsweise einfach durchzuführen, denn dieses Drittel älterer Menschen befindet sich entweder bereits in Pension oder in Altersheimen, wo eine solche Isolierung Quarantäne die geringsten Probleme bereitet.
Umgekehrt gilt für zwei Drittel der Bevölkerung (in Deutschland etwa 59 Mio) keine Quarantäne. Die Sterblichkeitsrate würde allerdings immer noch den astronomischen Wert von (59*2,3/100=) 1,36 Millionen erreichen. Selbst wenn man eine zu schnelle Ausbreitung des Virus dadurch verhindert, dass alle Arbeit, die zuhause getan werden kann, bis zum Tag x auch tatsächlich dort erfolgt, wären die Spitäler total überlastet. Denn der Tag x wird ja erst dann erreicht, wenn eine Immunität für 60% der Bevölkerung erreicht ist, also für alle Menschen bis zu sechzig Jahren, über die keine Quarantäne verhängt worden ist.
Da Covid-19 hochgradig ansteckend ist, sich also ohne entsprechende Gegenmaßnahmen innerhalb von Wochen über die ungeschützten zwei Drittel der Bevölkerung ausbreiten würde, wäre mit deren 60%igen Immunisierung vermutlich innerhalb von drei bis vier Monaten zu rechnen – länger allenfalls dann, wenn für eine größere Zahl an Beschäftigten Arbeit im eigenen Haus zur Vorschrift erhoben wird. Der Spuk wäre dann zwar endgültig vorbei, aber um den Preis, dass in Deutschland mit mehr als einer Million Toten zu rechnen ist – und für diese Menschen, die ja gewöhnlich vorher in Krankenhäusern behandelt werden, stehen im Durchschnitt selbst in einem medizinisch so gut gerüsteten Land wie Deutschland nur etwa 8400 Intensivbetten zur Verfügung (30% von 28 000, siehe oben). Anders gesagt, würde der Bedarf an Betten das Angebot um mehr als das Hundertfache übertreffen.*1* Seltsamerweise befürwortet der renommierte Österreichische Journalist Michael Lingens diese Alternative für das eigene Land (https://www.lingens.online/2020/03/16/was-spricht-fuers-radikale-britische-modell/).
Hochrangige Experten wie William Hanage,
Professor für Epidemiologie an der Universität Harvard, halten das britische Modell für einen schlechten Scherz, wobei sie allerdings von der Form ausgehen, wie sie in England zunächst zur Diskussion gestellt wurde, nämlich als „Herdenimmunisierung“, bei der man die Dinge schlicht sich selbst überlässt. Prof. Hanage macht dagegen geltend: „We talk about vaccines generating herd immunity, so why is this different? Because this is not a vaccine. This is an actual pandemic that will make a very large number of people sick, and some of them will die. Even though the mortality rate is likely quite low, a small fraction of a very large number is still a large number“ (natürlich gilt dies weit weniger, wenn über sechzigjährige Menschen in Quarantäne bleiben, doch auch dann würde das System laut Prof. Hanage kollabieren). „This would be expected to happen, even if we make the generous assumption that the government were entirely successful in restricting the virus to the low-risk population. At the peak of the outbreak the numbers requiring critical care would be greater than the number of beds available. This is made worse by the fact that people who are badly ill tend to remain so for a long time, which increases the burden.“
(https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/mar/15/epidemiologist-britain-herd-immunity-coronavirus-covid-19).
So gesehen scheint allein Alternative zwei in Frage zu kommen. Da wir aber wissen, dass mindestens sechzig Prozent der Bevölkerung auf natürliche oder künstliche Art (durch Impfung) immunisiert werden müssen, hängt auch in diesem Fall alles davon ab, ob der Impfstoff rechtzeitig zur Verfügung steht. Wenn nicht, könnten die Verluste in zwei unter Umständen sogar noch größer ausfallen als in Alternative drei, denn dann wären das soziale und wirtschaftliche Leben auf unbestimmte Dauer gelähmt. Die Tatsache, dass China kaum noch neue Fälle aufweist und auch in Südkorea die Zahl der Neuerkrankungen sinkt, ist da kein Gegenbeweis, denn die Bevölkerung ist, wie gesagt, heute fast so wenig immun gegen Covid-19 wie zu Anfang der Epidemie. Wenn der Impfstoff oder andere effiziente Heilmittel länger als ein halbes Jahr auf sich warten lässt, könnte es durchaus sein, dass Regierungen zu einem späteren Zeitpunkt von Alternative zwei auf drei umsteigen: das britische Modell.1. Der enorme Gegensatz zwischen Bedarf und Angebot an Intensivbetten relativiert auch die Vorwürfe gegen neoliberale Sparmaßnahmen (so gerechtfertigt diese in anderer Hinsicht auch sind). Auf eine derartige Krise kann sich kein Staat in normalen Zeiten vorbereiten.
1. Der enorme Gegensatz zwischen Bedarf und Angebot an Intensivbetten relativiert auch die Vorwürfe gegen neoliberale Sparmaßnahmen (so gerechtfertigt diese in anderer Hinsicht auch sind). Auf eine derartige Krise kann sich kein Staat in normalen Zeiten vorbereiten.
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Ich verdanke es meinem Sohn Igmar Jenner und Herrn Prof. William E. Rees, dass ich der dritten Alternative, die ich in einem ersten Entwurf noch positiv beurteilt hatte, eine entschiedene Absage erteilte. Hier mein Schreiben auf den entsprechenden Einwand von Herrn Rees:
Dear Bill,
I forgot to respond to your objection:
„As for your ‚alternative 3‘, it is actually quite brilliant in practical if not entirely in political terms. You acknowledge yourself that there would inevitably be some deaths among the younger set, deaths that might otherwise be prevented. Would it not be rather difficult for any politician to propose something that s/he knows will result in some extra mortality even if the long-term benefit/cost ratio greatly exceeds one? (There are plenty of other circumstances in which we make this kind of decision — such as setting speed limits — but most are less sensitive and put much of the potential for negative consequences on the affected citizens. However, if you as my leader choose not to isolate me and I die, that’s your fault!) It would be particularly difficult to appease relatives of these ’sacrifices‘ for the greater economic good.“
I agree with you that no politician could justify himself to the population if he did not do everything in the first days and weeks of the crisis to prevent avoidable deaths. I am, however, afraid that he rather fears the desastrous impression produced by masses of dying people in and in front of crowded hospitals. Normal dying, not seen on television screens hardly touches anybody. We know that tens of thousands of deaths due to car crashes occur every year in all major industrialized countries. Everyone knows the fact without apparently feeling really bothered because this is part of „normality“ and is happening quietly. Hospitals and undertakers have long since adjusted for it and, cynically, even GDP is benefiting from it.
Hence my objection to the word „indefinitely“ in the British Corona Virus Report (concerning the duration of alternative 2). I am afraid that we will hardly be able to live in quarantine for more than two months at most, after which rules will be gradually relaxed as soon as hospitals can cope with the number of deaths. After all, people don’t bear to lead the life of prisoners and they want to work and to live. I am sure that after a relatively short period of time, they will adapt to Corona in the same way as they did and do to car accidents.
I am not saying this out of cynicism or because I believe that the economy should be more important than life – my own life or that of others -, but because, as biological beings, we are constantly living with risk and often with victims. We only forgot about this basic fact because we have become so rich during the last century. Just think that in the poorest parts of Japan, sons used to carry their old mothers and fathers to mountains to die there when food was no longer sufficient for them and their children. If we were to avoid all risk on principle, we would not be allowed to board any airplane, we would not be allowed to let our children out of sight for a moment while playing, etc.
But, to be sure, I completely agree with you that at the present moment nothing else should apply as alternative 2, but it will not surprise me if the world soon stops doing so and gradually changes to alternative 3.
Best regards Gero
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Von Frau Dr. Ute Finckh-Krämer erreicht mich per Mail folgende Nachricht:
Frankreich hat vorgestern gemeldet, dass die Hälfte der 300 Kranken, die wegen Corona auf Intensivstationen lagen, unter 60 Jahre alt waren. Wenig bis keine Toten gibt es in den chinesischen Veröffentlichungen nur bei unter 30jährigen. Das ist in keinem Industrieland auch nur annähernd 60% der Bevölkerung.
Herzliche Grüße von Ute Finckh-Krämer
Meine Antwort:
Was die chinesischen Daten betrifft, so liefern die mir bekannten Statistiken ein anderes Bild. Siehe https://ourworldindata.org/coronavirus. Aber es stimmt jedenfalls, dass Alternative 3 vorerst nicht in Frage kommt.
Hierzu noch einmal Dr. Ute Finckh-Krämer:
Sehr geehrter Herr Jenner,danke für den Link – eine schöne Zusammenstellung von Zahlen, die sonst mühsam einzeln zusammengesucht werden müssen. Die französischen Zahlen sind bei folgenden Annahmen (die ich für plausibel halte) mit den Daten aus China kompatibel: Menschen zwischen 25 und 60 haben eine deutlich höhere Infektionsrate als über 60jährige, weil die Hauptansteckungsquelle direkte persönliche Kontakte sind und die entsprechende Altersgruppe viele enge Kontakte mit Menschen außerhalb der direkten Familie hat – im Beruf, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Clubs, beim Sport etc. Schwere Verläufe kommen bei Menschen dieser Altersgruppe auch vor, wenn sie dann aber intensivmedizinisch behandelt werden, haben sie eine sehr hohe Chance, wieder gesund zu werden. Mit zunehmendem Alter sinkt diese Chance. Und durch andere Krankheiten bereits stark geschwächte Hochbetagte werden oft gar nicht mehr in eine Intensivstation verlegt – weil die Chance, dass sie den zusätzlichen Infekt überstehen können, sehr gering ist oder sie es einfach nicht mehr wollen. Oder sie so schnell sterben, dass sie erst nach dem Tod auf Corona getestet wurden. Daher kann man aus der Altersverteilung bei den Todesfällen nicht auf die Altersverteilung derer, die intensivmedizinisch behandelt werden, zurückschließen.
Herzliche Grüße von Ute Finckh-Krämer
Von Herrn Ulrich Scharfenorth erhielt ich per eMail folgenden Kommentar:
Lieber Herr Jenner, ihr Virus-Beitrag war interessant. Aber zwei Dinge haben mich sehr gestört:
1) die plakative, m. E. auch unüberlegte und aus dem westlichen Mainstream abgeleitete Bewertung von Putin
2) die neuerdings angehängten Kommentare von irgendwelchen Leuten, die man für bedeutend halten kann, aber nicht muss.
zu1) Putin ist ein Machthaber, der das auch bleiben will – keine Frage. Ob es zulässig ist, dass er endlos regiert, entscheiden nicht wir – mit Blick durch die liberale (und teils verkommene) Brille. Sondern das russische Volk https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/in-weiser-voraussicht. Unser Denken und Handeln auf andere übertragen zu wollen, es zum Maßstab für die Restwelt zu machen, ist arrogant und dumm. Es ist Putin zu verdanken, dass Russland überhaupt noch existiert, denn zur JelzinZeit waren die Chikago-Boys drauf und dran, das Land zu filettieren (ich erinnere an Naomi Klein: die Schockstrategie). Russland sollte als Kraft ausgeschaltet werden. Putin hat dafür gesorgt, dass sich ausländische Konzerne in keines der strategisch bedeutenden Unternehmen einkaufen können und damit eine einzigartige Unabhängigkeit Russlands vor den räuberischen Giganten bewahrt. Russland wurde bei den Verträgen zur Deutschen Einheit von den Westmächten über den Tisch gezogen. Die hatten mündlich zugesagt, dass die Nato Abstand zu Russland halten würde. Im Gegensatz dazu hat eine teuflische Einkreisung statgefunden, und der westen täte nichts lieber als auch noch Georgien und die Ukraine in die Nato zu lancieren. Große Teil des russischen Volkes haben es gelernt, zwischen offensichtlicher, übertriebener und zuweilen ekelhafter Propaganda und gesicherten Fakten zu unterscheiden. Und nicht jeder russische, staatlich geführte Sender verbreitet Unsinn.
Ich behaupte, dass Putin – schon weil er aus seiner Dresdener Zeit eine Beziehung zu Deutschland hatte – sich vor vielen Jahren gern an Europa, und besonders an Deutschland angelehnt, sprich: gern mit Europa kooperiert hätte (ich weiß, Sie ziehen jetzt die KGB-Karte!). Aber ein Teil der Europäer – und hier besonders ein Teil der Deutschen – hat erneut das infernalische Brüllen „die Russen kommen“ angestimmt. Bis heute ist hier zu Lande kaum angekommen, dass es im Zweiten Weltkrieg auch ein zweites fürchterliches Brüllen gegeben hat – in der Sowjetunion: Die Deutschen kommen! (in einem ungerechten, einem Angriffskrieg, in welchem Menschen in Kirchen eingespert und verbrannt wurden, in welchem unzählige russische Frauen vergewaltigt wurden (s. Reemtsma https://en.wikipedia.org/wiki/Wehrmachtsausstellung). Aber das wissen Sie sicher alles….
Ihre Bewertung des „großen Vaterländischen Krieges“, die Bewertung der Befreiung an sich, ist einfach unerträglich. Ein Glück, dass die Sowjetarmee bis nach Berlin gekommen ist und dem dritten Reich den Garaus gemacht hat. Das war keine Tat, die nur der Sowjetunion nützte. Das war zugleich eine Tat, die uns vom Schlimmsten, was Deutschland je erlebt hat, befreite. Ich bin bis heute sehr froh darüber. Die rigide Herrschaft des NKWD im Osten Deutschland ist in Teilen unverzeilich. Sie hat aber maßgeblich mit dem Widerstand verbliebener Strukturen, natürlich auch bürgerlicher Liberaler zu tun. Und das war natürlich auch ein Machtgebaren. Doch mit dem, was die Nazis in ihren Lagern praktiziert haben, kann das nicht verglichen werden https://www.freitag.de/autoren/karsten-krampitz/1949-kirchenskandal
Nach Stalin hat sich das Bild in der DDR grundlegend verändert – auch wenn das hier im Westen Deutschlands nicht zur Kenntnis genommen wird https://www.stoerfall-zukunft.de/?s=Zerrbild+DDR – mit der Folge, dass im Osten Deutschlands ständig neue AfD-Anhänger generiert werden. In Westdeutschland sind unzählige Führer der alten Garde übernommen worden https://www.stoerfall-zukunft.de/2556-2/. Adenauer, der schon in den Zwanziger Jahren mit den Nazis kooperieren wollte, hat das einfach hingenommen. War das ein soviel besserer Verlauf? (materiell ja, aber ansonsten?)
Gottlob hat sich in Westdeutschland – im wesentlichen bedingt durch die 68er Bewegung – die Demokratie (besser gesagt: ein großer Teil dessen, was wir mit dem Begriff verbinden) durchgesetzt. Doch viele Nachfahren der alten Nazis sprechen die alte Sprache (der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch ...).
Ich habe bis 1990 in der DDR gelebt und zwanzig Jahre mit den Sowjets große Industrievorhaben verhandelt – ich weiß, wovon ich spreche.
Putin hat für sein Land viel getan. Vor allem hat er den Menschen ihr Selbstwertgefühl zurückgegeben. Was vom überwiegenden Teil der Bevölkerung auch honoriert wird. Denken Sie nur an all die Russen, die zu Sowjetzeiten in Mietwohnungen gehaust haben. Denen wurden die Wohnungen nach der Wende als Eigentum übereignet. Dazu hat jeder Bürger Anteilsscheine am produktiven Volksvermögen erhalten (der Wert entsprach anfangs dem eines großen Autos/Wolga).
Die Lebenserwartung der Russen hat sich positiv entwickelt. Zumindest in den Städten gibt es einen wachsenden Mittelstand. Demonstrationen sind in Russland grundsätzlich erlaubt. Da gibt es zuweilen Probleme, und es wird geknüppelt, aber man darf demonstrieren und sich auch durchsetzen. Dabei ist es – wie oben schon bemerkt – Unsinn, westliche Maßstäbe an russisches Recht/an russische Gegenbeheiten und Verhaltensweisen zu legen. Wir sind beileibe nicht der Nabel der Welt.
Was ist dagegen mit uns DDR-Bürgern geschehen. Wir wurden – was unser Volkseigentum betrifft – enteignet, oft aus den Wohnstätten vertrieben, weil reiche Westerben ihre Ansprüche geltend machten (Sie wissen das alles … und sie kennen diese falsche Entscheidung:Rückgabe vor Entschädigung).
Russland als ein Land darzustellen, dass fast ausschließlich von seinen Rohstoffen lebt, ist ebenso falsch. Ich weiß, dass es in Russland eine hoch entwickelte Stahl- Auto- und MaschinenbauIndustrie gibt (ich kenne das ehemalige deutsche AufsichtsratsMitglied von Severstal persönlich), dazu eine starke, exportorientierte Rüstungsindustrie mit den z.T. modernsten Waffen weltweit (was ich als AntiMilitarist ablehne, in diesem Kontext aber anführen muss) und einen modernen Wissenschaftsbetrieb (alle großen Raketen fliegen von Baikonur) usw. und so fort.
Um Russland und seine Führung verstehen zu können, sollten Sie vor allem ein Buch lesen: Karl Schlögel: das sowjetische Jahrhundert https://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/kg/zeitgeschichte/lehrstuhlteam/schloegel/index.html
zu 2) Sie haben es m. E. nicht nötig, Kommentare, von denen man nicht weiß, nach welchen Kriterien sie ausgesucht wurden, beizufügen. Für mich hat das einen (verzeihen Sie das offene Wort!) störenden, eitlen Beigeschmack. Ihre Texte treffen fast immer den Kern der Sache! Und ich schließe mich ihnen oft an (s. meine Newsletter). Belassen Sie es doch bei ihren eigenen Beiträgen …. sorry, das ist nur ein unmaßgeblicher Vorschlag.
Schöne Grüße und halten Sie Abstand!
Ulrich Scharfenorth
Meine Replik:
Hier kommen so viele Einwände zusammen, dass ich mehrere schon geschriebene oder neue Aufsätze aufzählen müsste, um darauf angemessen zu entgegnen. Ich beschränke mich daher auf zwei Aspekte.
Erstens: Wir sind uns darin einig, dass Russland ein überaus wichtiger Faktor in der Weltpolitik ist, und dass wir daher ein gutes Verhältnis zu diesem großen Nachbarn pflegen müssen. Das ist für mich ein kategorischer Imperativ. Ebenso wie übrigens ein gleich gutes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten.
Zweitens: Sie raten mir überdies eine korrekte politische Linie an, ich solle doch bitte Abstand halten, ich nehme an von Einflüsterern, die mich auf die falsche Bahn lenken könnten. Aber, lieber Herr Scharfenorth, ich bin nicht ganz sicher, ob Sie selbst sich noch ganz auf der richtigen Bahn befinden, denn Ihre Darstellung Russlands und seines neuen Zaren könnte nahezu ohne jede Korrektur auch von Putin selber stammen oder von seinem Sprachrohr „Russia Today“. Ich werde mir auch in Zukunft erlauben, mir mein Urteil weder von Donald Trump noch von Wladimir Putin insinuieren zu lassen. Ich weiß, dass man damit zwischen die ideologisch auch in Deutschland inzwischen hoch aufgeheizten Fronten gerät, aber meine geistige Unabhängigkeit ist mir das wert.
Herzliche Grüße, Gero Jenner
Und noch einmal Herr Scharfenorth,
Lieber Herr Jenner, danke für Ihre sachliche Antwort und dass Sie nicht verschnupft sind. Prinzipiell teile ich Ihre Auffassung, was die Unabhängigkeit in Sachen Informationsbeschaffung und Deutung angeht.
Zu Putin haben wir eben eine etwas unterschiedliche Haltung, was nicht problematisch ist. Das, was man heute im deutschen Fernsehen über Putin hört und sieht (Ihr Hinweis), sind Halbbilder. Grundsätzlich haben sich die Verächtlichmacher hier zu Lande durchgesetzt, was m. E. sehr problematisch ist. Denn Russland gehört nun mal zu Europa – ganz gleich von wem es derzeit und zukünftig regiert wird. Klar: Es läuft aus der offiziellen russischen Presse viel Propaganda. Das kommt uns zuweilen sehr durchsichtig und primitiv vor. Leider ist die westliche Berichterstattung, die fast ausschließlich auf den Infos von Dissidenten basiert, nicht besser (das sind tatsächlich nur sehr wenige in Russland, obwohl die westlichen Kameras immer das Gegenteil erzoomen wollen – Verstehen Sie mich bitte richtig: die Opposition ist wichtig und ich unterstütze das auch, weil nur im Dialog etwas Ordentliches wachsen kann). Das ist wie in Sachen Kuba. Es ist unsere Aufgabe, durch Überkreuzvergleiche das Wahrscheinliche zu ermitteln und unorthodox zu reagieren. Dass Sie meine Auffassung mit der von Putin gleichsetzen, erstaunt mich etwas. Denn an den meisten aufgeführten Fakten lässt sich nicht rütteln. Ich kenne sie 1:1 von einem Freund, der in der Sowjetunion studiert hat und mit Russland ständig (auch familiär) in Kontakt ist. Hinzu kommen die Infos von Prof. Dr. Döring (ehemaliges Aufsichtsratsmitglied bei Severstal), dessen Statements zur Arbeit der Treuhandanstalt vor kurzem im Fernsehen lief. Er war direkter Mitarbeiter von Rohwedder.
Gleichwie – jeder recherchiert auf seine Weise und lässt sich nichts aufdrücken. Richtig so!
Großes Lob für „Der Thymos ….“ Sie haben die Sache auf den Punkt gebracht und die WELTREGIERUNG beschworen. Theoretisch richtig. Aber … wir werden Letztere m. E. nicht bekommen- nicht zu unseren Lebzeiten und ohne totale Katastrophe. Meine Theorie – das wissen Sie sicher – ist sowieso, dass die an der Macht Befindlichen eine vernunftgesteuerte Lösung für die Menschheit weder ansteuern, noch hinbekommen. Und dass die netten, freundlichen, humanen Vertreter unserer Spezies nie an die Macht gelangen. Allenfalls die Katastrophe, die eine mögliche Auslöschung der Menschheit impliziert, kann die, die das Sagen haben, zu einer zeitweiligen Änderung ihrer Lebens- und Handlungsweise zwingen …. Hierzu kann man natürlich wochenlang diskutieren, aber …
Was mein Hinweis auf Abstand angeht, so meinte ich den coronabedingten Abstand …. das war sicher undeutlich formuliert.
Viele Grüße und danke!
Ulrich Scharfenorth