Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!

Dieser höchst umstrittene, auf Paulus zurückgehende Spruch ist einer der bedeutsamsten überhaupt, weil sich sämtliche existierenden oder auch utopischen Sozialsysteme aus ihm herleiten lassen. Alle gehen entweder aus der Übereinstimmung mit ihm hervor oder aus dem Protest gegen ihn.

Zivilisation versus Krieg, Barbarei, äußerste Not

Allerdings ist eine wichtige Einschränkung von vornherein geboten. Keine Gesellschaft, außer solche im Krieg oder in den schlimmsten Zeiten der Barbarei, hat sich jemals streng an die Regel gehalten. Im frühesten Alter sind Menschen noch nicht zur Arbeit fähig. Das biologische Überleben der Gesellschaft wäre gefährdet, würde sie die heranwachsende neue Generation nicht trotzdem erhalten. Im spätesten Alter sind Menschen nicht mehr zur Arbeit fähig. Eine Gesellschaft, welche die Alten nicht trotzdem ernährt, würde als unmenschlich gelten. Oder sie handelt aus äußerster Not, wie dies im alten Japan und wohl auch sonst in vielen Teilen der Welt geschah. Früher einmal trugen in Japan einige Berge die Bezeichnung Sute-Baba-Yama: „Berge, wo die Oma ausgesetzt wird“. Japan war zwar immer ein Land, wo man den Alten besondere Ehrfurcht entgegenbrachte. Aber die äußerste Nahrungsknappheit konnte die Menschen dazu zwingen, zwischen dem Überleben der Neugeborenen und dem der Alten zu wählen. In manchen besonders armen Berggegenden wurden in einem solchen Fall die Alten geopfert.

Aber nicht nur bei den noch nicht und den nicht mehr Arbeitsfähigen pflegten fast alle Gesellschaften eine Ausnahme zu machen. Sie galt ebenso auch für die Kranken und andere temporär oder dauerhaft behinderte Menschen.

Der Spruch bezieht sich daher von vornherein nur auf den arbeitsfähigen Teil einer Gesellschaft. Sollen arbeitsfähige Menschen auch dann essen dürfen, wenn sie nicht arbeiten?

Man kann manchmal hören, dass es erst der unselige „Primat der Arbeit“ gewesen sei, der die sozialen Verirrungen unserer Zeit, zum Beispiel den Kapitalismus, hervorgebracht habe. Ich halte dies für ein oberflächliches, unhaltbares Geschwätz. Denn die diesem Spruch zugrundeliegende Frage ist doch eine andere. Sollen Menschen auch dann ein Anrecht auf die Leistungen ihrer Mitmenschen haben, wenn sie selbst nicht bereit sind, ihrerseits Leistungen für andere zu erbringen? Stellt man die Frage auf diese Weise, dann liegt die Antwort für jeden gerecht Urteilenden auf der Hand. Natürlich nicht! Menschliches Zusammenleben besteht aus wechselseitigem Geben und Nehmen. Wenn einer der Teile diese Verpflichtung zurückweist, braucht sich der andere Teil genauso wenig an sie zu halten.

Anarchismus versus Menschen als soziale Wesen

Eine kleine Zahl von Außenseitern hat es aber wohl immer gegeben, die diese Schlussfolgerung nicht akzeptieren. Anarchisten sind die unerbittlichsten Verteidiger der individuellen Selbstbestimmung. Niemand anders als der souveräne Einzelne selbst soll über das eigene Schicksal herrschen. Natürlich gönnen wir einem solchen Menschen so viel Essen wie jedem anderen. Da er aber keine Einschränkung seiner Selbstbestimmung durch andere akzeptiert, darf er auch keine Leistungen vonseiten der anderen für sich verlangen. Der konsequente Anarchismus kündigt das Prinzip des wechselseitigen Gebens und Nehmens auf. Er steht damit in einem unversöhnlichen Widerspruch zur sozialen Existenz des Menschen. Kein Wunder, dass er niemals real existierende Gesellschaften gebildet hat und nicht mehr als eine eher kuriose ideologische Randerscheinung ist.

Denn das Prinzip vom wechselseitigen Geben und Nehmen scheint universal zu sein. Mir ist kein soziales System bekannt, das diesen Grundsatz in Frage stellt. Nicht universal aber ist, wie man Arbeit versteht, also das jeweilige Geben und Nehmen. Wenn ein Mensch guten Willens ist, sich die größte Mühe gibt, aber aufgrund geistiger oder körperlicher Unterlegenheit wenig oder vielleicht auch gar nichts zum Wohl anderer beiträgt, was soll dann zählen? Der gute Wille oder das Resultat?

Die Antwort auf diese Frage bringt völlig verschiedene Typen sozialer Gemeinschaft hervor. In Familien, religiösen Sekten, sehr kleinen Gemeinschaften war es möglich, dass die Absicht allein völlig ausreichend war, auch wenn bestimmte Menschen keinen im üblichen Sinne nützlichen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Fast jede Familie kennt einen Außenseiter in den eigenen Reihen, der sich den sozialen Spielregeln nicht fügt, aber trotzdem von ihr erhalten wird, weil er nun einmal „dazugehört“. Wir wissen, dass es viele kleinere soziale Verbände gab, wo selbst geistig Verwirrte oder körperlich Missgestaltete in diesem elementaren Sinne dazugehörten. In manchen dieser Gesellschaften glaubte man, dass die Götter gerade aus dem Munde solcher Außenseiter sprechen. Sie wurden von der Gemeinschaft erhalten, obwohl sie keine im üblichen Sinne nützliche Arbeit verrichten.

Real-existierender Sozialismus, Kapitalismus versus klassenlose Gesellschaft, (wie sie die Aufklärung und ich in meinen theoretischen Schriften propagieren)

Der „real-existierende Sozialismus“ der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik hatte diese Betonung des guten Willens als Grundlage für Dazugehörigkeit in eine moderne Massengesellschaft hineingetragen. Es gab dort Millionen von Menschen, die nach dem Maßstab des westlichen Kapitalismus unterbeschäftigt waren, aber trotzdem ein ebenso gutes (oder schlechtes) Leben führten wie der Durchschnitt ihrer Mitbürger. Natürlich kann auch ein sozialistischer Staat ohne Leistung nicht überleben. Aber die Loyalität zum Regime zählte mindestens ebenso viel wie der faktische Beitrag der Bürger zur gesamtgesellschaftlichen Arbeit. Nein, sie zählte in Wahrheit um einiges mehr. Hervorragendes Wissen und Können bewahrte niemanden vor dem Gefängnis, wenn der Betreffende sich offen gegen das Regime aussprach. Andererseits konnte eine berechnende Rechtfertigung und Verklärung des Systems einen Menschen in die höchsten politischen Ränge und Ämter katapultieren – ungeachtet aller sonstigen charakterlichen und sonstigen Mängel. Im real-existierenden Sozialismus konnte man essen, auch wenn man nicht wirklich arbeitete – die Armut wurde sozusagen geteilt (nur die Elite oder „Nomenklatura“ genehmigte sich eine Ausnahme von dieser Regel).

Das kapitalistische System geht von grundsätzlich anderen Voraussetzungen aus. Es zählt ausschließlich das Resultat, nicht der gute Wille. Als amerikanische Unternehmen gegen Ende der achtziger Jahre entdeckten, dass sie ihren Profit bedeutend steigern, wenn sie die Produktion in Schwellenländer (damals vor allem nach China) verlagern, haben sie die „Globalisierung“ entschieden vorangetrieben – ohne Rücksicht auf die eigene Arbeiterschaft. Die vegetierte von da an in den entstehenden Rostgürteln dahin und wurde später zu einem verlässlichen Kern der Trumpwählerschaft, wobei die Demokratin Hilary Clinton das Unglück auch noch durch Spott vermehrte, indem sie die sozialen Verlierer als „Deplorables“ schmähte. Die „Dazugehörigkeit“ dieser überwiegend weißen und früher einmal gut abgesicherten Arbeiterschicht zählte nicht angesichts des kapitalistischen Imperativs, die Effizienz und den Profit mit allen Mitteln zu steigern.

Die größere Effizienz selbst war allerdings ein unleugbares Faktum, dem sich auch europäische Industrien nicht zu entziehen vermochten. Da amerikanische Industriegüter durch die Auslagerung (outsourcing) auf dem Weltmarkt wesentlich konkurrenzfähiger wurden, waren die Europäer gezwungen, sie gleichfalls zu betreiben. In meinem damals (1998) recht erfolgreichen Buch „Die arbeitslose Gesellschaft“ hatte ich vorausgesagt, dass dieser Prozess in Europa erst dann enden würde, wenn seine mächtigen Pioniere, die Amerikaner, sich zu einer Umkehr entschließen. Genau das ist inzwischen geschehen. Die USA und in ihrem Gefolge nun auch Europa betreiben eine zunehmend protektionistische Politik.

Es bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig, wenn sie ihre Industrien wenigsten teilweise erhalten wollen. So wie aufstrebende Staaten protektionistisch sein müssen, weil ihre anfangs weit unterlegenen Unternehmen andernfalls keine Chance gegen weit überlegene Pioniere hätten, so müssen „alte Industrienationen“ sich gleichfalls schützen, da aufstrebende Länder ihre Arbeiterschaft und die Natur nahe am Nulltarif anbieten können.

Ein effizienter Kapitalismus kann nur dann die günstigsten Wirkungen erzielen, wenn ein sozialer Staat ihm die entsprechenden Grenzen setzt. Eine entwickelte und großzügige Arbeitslosenversicherung in Verbindung mit breit angelegten Umschulungsmaßnahmen vermag die Härten der Effizienz wesentlich abzumildern. Das ist allerdings auch unbedingt notwendig, denn der Staat profitiert von einer effizienten Ökonomie auf lange Sicht nur dann, wenn er die Bevölkerung wirksam gegen deren unvermeidliche Härten schützt, also ökonomische Effizienz sozial verträglich macht.

Wie Max Weber zeigte, hat es Kapitalismus zumindest in Ansätzen in allen großen Kulturen gegeben. Doch erst die protestantische Ethik hat dem Geist des Kapitalismus den religiösen Segen erteilt. Das Streben nach Gewinn war keine Sünde, wenn der Mensch damit nicht egoistischen Zielen sondern dem Wohl der Gemeinschaft diente. Effizientes Wirtschaften durfte kein Selbstzweck sondern sollte weiterhin eine Art von Gottesdienst sein (eine „innerweltliche Askese“, wie Weber es nannte). Erst die Aufklärung löste effizientes Wirtschaften ganz aus diesem religiösen Kontext heraus und machte daraus eine rein säkulare Veranstaltung. Die Aufklärer brachten allerdings ein wesentliches Element hinzu: Es ging ihnen darum, alle erblichen Privilegien abzuschaffen, um sie durch nachweisbares Wissen und Können zu ersetzen.

Klassenlose Gesellschaft

Wäre es gelungen, diesen Hauptpunkt ihrer Forderungen zu verwirklichen, dann würden wir heute in einer klassenlosen Gesellschaft leben, denn Wissen und Können lassen sich nicht vererben. Mit jeder Generation gehen sie auf neue Köpfe über, da jede Generation sie von neuem erlernen muss. Dagegen fällt großes Geld den Erben zu, ohne dass dabei irgendwelche Leistungen von ihnen gefordert werden. Großer Reichtum vermag dem, der ihn besitzt, noch viel größere Vorteile zu verschaffen als großes individuelles Wissen und Können. Der heutige Kapitalismus mit seinem von der Aufklärung so heftig aber erfolglos bekämpften Pferdefuß der vererbbaren Privilegien besitzt die unverkennbare Tendenz neuerlich feudalistische Zustände und politische Plutokratien zu schaffen. Im Gegensatz zu Karl Marx, der die klassenlose Gesellschaft dadurch begründen wollte, dass er einen Teil der Bevölkerung gegen den anderen aufhetzte, hat die Aufklärung das Übel richtig erkannt und dagegen auch die richtige Medizin vorgeschlagen.