Dieser Artikel nimmt um ein halbes Jahr die Argumente vorweg, die im Oktober in Foreign Affairs erscheinen: „Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault – The Liberal Delusions That Provoked Putin“ by John J. Mearsheimer (www.foreignaffairs.com/articles/141769/john-j-mearsheimer/why-the-ukraine-crisis-is-the-wests-fault, FOREIGN AFFAIRS, Sept/Oct 2014 – issue)
Was will der neue russische Zar, Wladimir Putin, dieser lupenreine Scheindemokrat? Vermutlich verfolgt er dasselbe Ziel wie die größte derzeitige Supermacht, die Vereinigten Staaten. Diese wollen die eigene Macht befestigen und streben eifrig danach, sie auszuweiten – wenn und soweit es ihnen die Umstände erlauben. Schon Zbigniew Brzezinsky, der Weltschachspieler und ehemalige Sicherheitsberater unter Jimmy Carter, hatte das Rezept dafür im ‚Grand Chessplay’ geliefert. Ohne die Ukraine, so seine Erkenntnis, würde Russland nie wieder zum Imperium werden. Eine wertvolle Information für die Russen. Mehr brauchte es nicht, um ihnen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen hätten. Auf keinen Fall könne Russland dem Westen erlauben, die NATO bis in die Ukraine vorrücken zu lassen. Dann würde das transatlantische Militärbündnis seine Raketen unmittelbar vor Moskaus Tür aufstellen, wie es jetzt schon – unter dem Vorwand, inexistente iranische Langstreckenraketen abzuwehren – solche Stellungen in Polen und Tschechien errichtet.
Zweifelsohne ein Wortbruch. Russland hat nicht vergessen, dass Gorbatschow von George Bush senior zugesagt worden war, die NATO nicht bis in die ehemaligen Staaten des Ostblocks auszudehnen. Dieses Versprechen wurde unter Bill Clinton gebrochen – mit Gründen, die im Nachhinein allerdings plausibel erscheinen: Polen und die übrigen ehemaligen Ostblockstaaten wollten nie wieder unter der russischen Knute leben und leiden. Die Russen haben diesen Wortbruch stillschweigend hingenommen. Was sie verständlicherweise nicht akzeptieren, war der von westlicher Seite erdachte Coup, der russischen Schwarzmeerflotte die Basis dadurch zu entziehen, dass man die gesamte Ukraine ins eigene Lager lockt. Die Annexion der Krim war ein Völkerrechtsbruch, ohne Zweifel, aber die Ausschaltung der russischen Schwarzmeerflotte in einem Gebiet, dass sich kulturell seit Jahrhunderten den Russen verbunden fühlt, wäre ein Akt der inszenierten Gewalt gewesen, zumal die Krim ihre staatliche Eingliederung in die Ukraine allein der Wodkalaune Chrutschows verdankt …
Die Ukraine ist ein ethnisch, religiös, sprachlich und ökonomisch zerrissenes Land. So gründlich gespalten, wie es Deutschland noch bis ins 17. Jahrhundert und das Habsburger Reich noch bis zum Beginn des zwanzigsten war. Der Westen des Landes strebt nach Europa, der Osten fühlt sich zu Russland gehörig. Je nachdem, wer gerade das Sagen hat, werden die jeweils anderen als Minderheiten behandelt und mehr oder weniger hemdsärmelig unterdrückt. Ein Akt monumentaler Dummheit der neuen Regierung war das Verbot des Russischen als Amtssprache im östlichen Teil des Landes. Und es hat die neue ukrainische Regierung auch nicht glaubwürdiger gemacht, dass sie mit der extremistischen Rechten und anderen Dunkelmännern offen kooperiert.
Gewiss, Wladimir Putin ist kein Demokrat, auch wenn Gerhard Schröder ihn zu einem solchen stilisieren wollte. Der neue russische Zar gibt sich nicht nur redliche Mühe, Nostalgie für die stalinistische Vergangenheit zu erwecken, er scheint auch Josef Stalins zynische Bemerkung über Wahlen zu billigen (und zu befolgen). Demnach komme es nicht darauf an, wem die Leute ihre Stimme erteilen, sondern wer die Wahlstimmen anschließend zählt. Dennoch: Putin ist ein kühl berechnender Kopf, der genau weiß, was die Leute von ihm erwarten, nämlich dass er einem durch den Westen gedemütigten Russland wieder ein Mindestmaß an Selbstvertrauen zurückgibt. Gorbatschow hatte mit Glasnost und Perestroika eine neue Epoche eingeleitet. Nicht nur im Westen, sondern auch bei vielen der eigenen Landsleute hatte er damit große Hoffnungen geweckt. Man glaubte, dass der Westen diese Wende gebührend belohnen würde. Ein Irrtum, solche Hoffnungen wurden bitter enttäuscht. Unter Boris Jelzin erfuhr das Land keine Hilfe, sondern erlitt einen vernichtenden Absturz. Unter tatkräftiger Anleitung der alles andere als hilfreichen Amerikaner (man denke an das erfolglose Wirken von Jeffrey Sachs) wurde der Reichtum des Landes an eine Handvoll Oligarchen verscherbelt. Und nicht nur dies, im Westen spekulierten einige politische Schachspieler überdies noch darauf, dass Leute wie Chodarkowsky die russischen Ölquellen an ausländische Investoren verkaufen. Auf diese Weise würde man Russland enteignen und dauerhaft niederringen. Im Zuge einer hastig verordneten Deregulierung gedieh eine organisierte Mafia und führte Zustände herbei, die von der Mehrheit der Bevölkerung als traumatisch erlebt worden sind.
Putin hat das Ruder herumgeworfen. Er hat nichts anderes getan, als was die Bürger überall auf der Welt von ihren Politikern erwarten: nämlich dass sie zuerst und vor allem die Interessen der Bevölkerungsmehrheit schützen. Genau das hat Putin getan, er hat den Ausverkauf des Landes an westliche Interessen verhindert. Daher sein Rückhalt. Andererseits hat er die Presse geknebelt, seine Gegner systematisch ausgeschaltet, die Demokratie zu einer Scheinveranstaltung gemacht. Russland ist ökonomisch gesehen, eine drittrangige Macht. Insofern hat er seinem Land geschadet. Aber es ist nicht die Sache der Europäer darüber zu lamentieren. Russland ist – und das sollten wir nicht einen Augenblick lang vergessen! – eine Atommacht, deren Präsident genauso wie sein amerikanisches Gegenüber die Erde mit einem einzigen Knopfdruck in einen Feuerball zu verwandeln vermag.
Wenn die NATO militärisch in der Ukraine eingreift, dann würde – so Putin in einer unlängst erfolgten Verlautbarung – Russland seine Atomwaffen einsetzen, um sich gegen die Übermacht zu wehren. Sind die USA und Europa wirklich so von allen guten Geistern verlassen, dass sie sich von ein paar durchgeknallten Politikern der Ukraine (die laut mit dem Dritten Weltkrieg drohen) in eine so brandgefährliche Situation hineintreiben lassen?
Henry Kissinger – gewiss keine Friedenstaube aber ein besonnener Staatsmann – hat keinen Zweifel daran gelassen, was in dieser Lage zu tun ist. Der Westen muss Russland eine Garantie dafür geben, dass die Ukraine auf keinen Fall zum NATO-Land wird. Selbst der große Weltschachspieler Brzezinsky hat sich neuerdings zu eben dieser Lösung bekannt. Putin ist ein rücksichtslos, aber auch ein kalt und nüchtern denkender Kopf. Gewiss, bevor er die militärische Annektion der Ukraine durch den Westen duldet, wird er selbst dort einmarschieren. Er weiß, dass man ihm dann im eigenen Land so zujubeln wird wie schon bei der Einverleibung der Krim. Aber Putin scheint sich durchaus bewusst welchen, welchen Preis er dafür zahlen müsste: Summen, welche die russische Wirtschaftskraft weit übersteigen, denn die Ostukraine ist ökonomisch ausgeblutet. Das Land hinge dann am russischen Tropf. Auf den Jubel würde sehr bald das bittere Erwachen folgen; schon die Einverleibung der Krim wird die russische Wirtschaft außerordentlich belasten.
Putin weiß – was auch Europa begriffen hat – nämlich dass für alle Teile nichts günstiger ist als der derzeitige Status Quo einer unabhängigen Ukraine, die als Puffer zwischen den beiden Blöcken liegt. Die Ukraine selbst könnte dadurch sogar am meisten gewinnen: Indem man abwechselnd die eine oder die andere Seite begünstigt, bereichert man sich bei beiden, so wie das einmal meisterhaft von Tito in Jugoslawien praktiziert worden ist.
Solche Argumente sind allerdings unbedeutend gegenüber dem einzig entscheidenden: der Wahrung des Friedens unter atomar gerüsteten Gegnern. Seit Ende des Kalten Krieges war der Weltfrieden nie so akut gefährdet wie heute. Und nie wurde auf eine unmittelbare Gefahr auf so leichtsinnige Art reagiert. Ja, glaubt man denn allen Ernstes, die Bedrohung mit Sanktionen verhindern zu können, die den Präsidenten der mächtigen russischen Föderation wie einen ungezogenen Schulbuben vor aller Welt abkanzeln? Mit derart kindischen Maßnahmen bewirkt man das Gegenteil und Europa schneidet sich zudem noch ins eigene Fleisch. Man demütigt Russland und seinen Präsidenten und stärkt dort die Kräfte eines irrationalen Widerstands, der nicht mehr kühl und möglicherweise auch nicht mehr nüchtern sein wird.
Vergessen wir nicht: Deutsche und Österreicher haben aufgrund einer nicht weit zurückliegenden Geschichte am wenigsten Recht, die moralischen Besserwisser zu spielen. Diese gibt es leider bei uns zu Hauf: Die einen schlagen auf die Amerikaner ein und versuchen Putin rein zu waschen, die anderen dämonisieren den russischen Präsidenten und bejahen vorbehaltlos das Vorgehen der Amerikaner. Beides nährt den Hass und zerstört den Frieden. Europas Aufgabe sollte es sein, mäßigend auf die Amerikaner einzuwirken, indem es eine Brücke der Verständigung zwischen den beiden Lagern bildet – schon aus Gründen der Klugheit: Europa kann ohne russisches Gas nicht leben, aber die Russen haben in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, wie ungeheuer leidensfähig sie sind. Sanktionen werden sie erst richtig zusammenschweißen. Dann wird Putin alle auf seiner Seite haben, auch seine ehemaligen Gegner.
Nicht Sanktionen sind das Gebot der Stunde, sondern eine Politik, welche die eigenen unverzichtbaren Interessen klar im Blick behält, aber ebenso bereit ist, die berechtigten Interessen des anderen zu akzeptieren.