(Ich habe den Aufsatz an einige jener Autoren versandt, die von Dohnanyi in seinem Buch „Nationale Interessen“ zitiert)
Die folgenden Gedanken sind das Ergebnis der Lektüre zweier Bücher eines sehr klugen, hervorragend informierten und erfahrenen deutschen Politikers, des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters und späteren Bundesminister für Bildung und Wissenschaft Klaus von Dohnanyi, der trotz immenser Belesenheit, trotz eines fast immer bemerkenswert ausgewogenen Urteils gleichwohl beim Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) eine späte politische Heimat fand – einer Partei, die mehr als nur US-kritisch ist, während sie Putin und sein Regime mit Samthandschuhen behandelt. Wie kann sich ein kluger Mann derart verirren?
Ich habe diesen Mann für seinen ideologiefreien Blick auf die politische Wirklichkeit von Anfang an bewundert. Was Globalisierung zu bedeuten habe, hat er im „Joch des Profits?“ unmissverständlich ausgesprochen: einen Verlust an demokratischer Selbstbestimmung, der aber, so heißt es bei ihm ebenso dezidiert, unvermeidlich sei, wenn die deutsche Wirtschaft im internationalen Wettbewerb überleben will, denn deren Regeln könne sich eine Exportwirtschaft eben durchaus nicht entziehen.
Das ist eine von hellsichtigem Wirklichkeitssinn geprägte Einschätzung der heutigen Situation, die bei einem Politiker umso mehr Lob verdient, als seine Kollegen den Bürgern gewöhnlich das genaue Gegenteil weismachen wollen, nämlich dass sie – einmal von ihnen gewählt – alles ganz anders machen. Von Grenzen der eigenen Handlungsfreiheit ist auf der politischen Bühne so gut wie niemals die Rede. Auch der Durchschnittsbürger gebärdet sich gern als Souverän: von äußeren Schranken oder gar Ohnmacht will er nichts hören. Mit seinem unbeirrbaren Realismus vertritt Herr von Dohnanyi also alles andere als eine populäre oder gar populistische Position – er sieht Neoliberalismus als ein von außen erzwungenes Verhängnis. Wie passt diese leider durchaus richtige Auffassung zu einer extrem-linken Partei wie dem BSW?
Ist ihm selbst, dem ehemaligen Hamburger Bürgermeister, diese Frage schließlich so peinlich geworden, dass er nun mit größtem Nachdruck die Forderung nach mehr nationaler Selbstbestimmung Deutschlands vertritt – innerhalb der Europäischen Nation wie auch gegenüber den Großmächten?
An diesem Punkt wird der ethische Kompass dieses besonnenen und oft auch gerechten Beobachters sichtbar. Er verlangt mehr nationale Selbstbestimmung ja nicht nur für das eigene Land sondern ebenso für jeden unserer Nachbarn in der EU. Und nicht nur das. Er bemüht sich darum, das russische nationale Interesse ebenso zu verstehen wie das deutsche, das amerikanische und so weiter. Auch dieses auf den ersten Blick sehr sympathische Bestreben bringt ihn politisch zum Bündnis Sarah Wagenknecht.
Doch wie ist es möglich, dass sich ihm nicht sogleich die Widersprüchlichkeit seiner Position aufdrängt? Der Kapitalismus und seine moderne Ausprägung, der Neoliberalismus, sind, wie von Dohnanyi immer wieder betont, globale Kräfte, denen sich Unternehmen wie Staaten nur um den Preis widersetzen können, dass sie im Weltmarkt untergehen. Entweder sind sie erfindungsreicher und innovativer als andere, so dass sie ihr höheres Lohnniveau und ihre sozialen Schutzwälle aufrechterhalten können, oder der Weltmarkt zwingt sie zu den unerfreulichsten Zugeständnissen: Sie müssen ihre Arbeitskräfte billiger verkaufen; ihren Chefs, um sie im eigenen Land zu behalten, astronomisch hohe Gagen zahlen; internationale Konzerne mit Steuergeldern subventionieren, um sie ins eigene Territorium zu lotsen und so weiter. Der offene Weltmarkt zwingt sie zu solchem Handeln, weil jeder Betrieb mindestens so produktiv sein muss wie seine stärksten Konkurrenten. „Im Kern ist Neoliberalismus“, so heißt es bei Dohnanyi, „… nichts anderes als eine flexibilisierte ‚unternehmerische‘ Antwort der Staaten als Wettbewerber auf den Weltmärkten“, denn „immer weniger /bestimme/ die nationale Politik und immer mehr der Weltmarkt die politischen und sozialen Entwicklungen der Nationen“ (zit. aus „Nationale Interessen“). Im Klartext heißt dies nichts anderes, als dass alle Nation, vor allem die schwächeren und schwächsten unter ihnen, ihre Gesetze immer weniger von sich selbst und immer mehr von außen empfangen.
Von Dohnanyi konstatiert diese Tatsache als ein Schicksal, das inzwischen die ganze Welt betrifft. Der Widerspruch, der dabei in seinem neuesten Buch „Nationale Interessen“ grell in Erscheinung tritt, liegt aber darin, dass er trotzdem Deutschland und andere Nationen dazu aufruft, sich mit ihren nationalen Interessen gegen dieses Schicksal aufzulehnen. Supranationale Einheiten wie die Europäische Union will er in die Schranken weisen, sobald ihre Forderungen mit nationalen Bedürfnissen kollidieren. Dohnanyi scheint nicht zu bemerken, wie sehr er gegen sich selbst argumentiert, wenn er mit größter Entschiedenheit die Nation zum letzten Bezugspunkt für politisches Handeln macht und dabei auch noch die Geschichte zu Hilfe ruft. Separatistische Bestrebungen, also der Protest gegen bestehende Einheiten, seien, so betont er, immer gleich groß gewesen wie die Tendenz, größere Einheiten zu erschaffen.
Eben nicht! Wenn es ein Gesetz gibt, das wir aus der bisherigen mehr als eine Million Jahre umspannenden Vergangenheit unserer Art ablesen können, dann ist es die Tendenz, sich in immer größeren Einheiten zu organisieren. Eine unablässige Folge meist kriegerisch ausgetragener Vereinigungsbestrebungen hat auf dem gesamten Globus vor mehr als zehntausend Jahre kleine streunende Horden zu Sippen, Sippen zu Stämmen, Stämme zu Menschenballungen in Städten, Städte zu Staaten, Staaten zu Imperien zusammengeschweißt. Die Tendenz zu immer größeren, immer umfassenderen Einheiten ist so offensichtlich, dass es nicht weniger als ein logischer Widersinn wäre, wenn die Menschheit in ihrem jetzigen Stadium plötzlich verharren und angesichts der heute bestehenden Nationen ein für alle Mal Halt machen oder mit Herrn von Dohnanyi auch nur „Halt“ rufen würde. Es wäre kaum zu begründen, warum die Menschen bisher immer nur ein und derselben Richtung folgten, nur um dann plötzlich kurz vor Erreichen des Ziels zu verharren, nämlich zur letzten Einheit, welche die gesamte Menschheit umfasst und von Immanuel Kant ebenso wie von Albert Einstein, H.G. Wells, Bertrand Russell, Arnold Toynbee, Raymond Aron und Ernst Jünger gefordert wurde.
Warum lässt der sonst so instinktsichere Wirklichkeitssinn Herrn von Dohnanyis gerade an diesem Punkt im Stich? Den Grund für die oben beschriebene geschichtliche Tendenz hätte er doch ohne viel Mühe selbst auffinden können. Es ist wahr, die Menschen haben sich selten freiwillig zu größeren Einheiten zusammengeschlossen – sie wurden fast immer dazu gezwungen. Die Versöhnung von Deutschland und Frankreich liefert dafür ein eindrückliches Beispiel aus der jüngeren Geschichte. Nicht gegenseitige Liebe sondern ein teuflisches Erbe von Hass hat sie am Ende des Zweiten Weltkriegs zusammengeschweißt. Sie begriffen, dass sie sich gegenseitig auslöschen würden, wenn sie nicht zu einer größeren Einheit in einem gemeinsamen Europa zusammenwachsen. Ebenso gingen die meisten früheren Zusammenschlüsse aus Angst und gegenseitigem Misstrauen hervor. Bis ins sechszehnte Jahrhundert repräsentierten die italienischen Stadtstaaten den zivilisatorischen Fortschritt, aber das zersplitterte Italien ebenso wie das in etwa dreihundert rivalisierende Fürstentümer zerteilte Deutschland waren dem seit Jahrhunderten vereinigten Frankreich schließlich so unterlegen, dass sie gezwungen waren – und von ihren hellsichtigsten Politikern am Ende auch dazu gezwungen wurden – nun auch ihrerseits staatliche Einheiten zu bilden.
Wenn wir bei Herrn von Dohnanyi lesen: „Das Bedürfnis nach Selbstbestimmung… ist ein Grundbedürfnis menschlicher Existenz“, so werden wir ihm nicht widersprechen. Er übersieht nur leider, dass das Bedürfnis nach Sicherheit und Überleben noch viel mächtiger ist. Gewiss wird es auch damals viele kritische Stimmen gegeben haben, die sich mit gleich guten Argumenten wie Herr von Dohnanyi sie heute gegen die Vorherrschaft der EU geltend macht, gegen die erzwungene Vereinigung im Deutschen Reiche wehrten. Preußen und Bayern haben einander gewiss nicht geliebt (manche behaupten, dass es bis heute dabei geblieben ist, und es ist ebenfalls kein Geheimnis, dass sogar die endlich vereinigten Deutschen in Ost und West immer noch gegeneinander murren). Nur äußerer Zwang wird sie schließlich zum Schweigen bringen – derselbe Zwang, der schon in der fernen Vergangenheit immer zu Kriegen Anlass gab und dann zu größeren politischen Einheiten führte.
Ob in Europa oder auf anderen Kontinenten, ein Fürst wusste, dass er seinen Nachbarn umso eher gewachsen war, je größer die Zahl der „Seelen“, die er besteuern konnte. Wenn ihm selbst die Rücksichtslosigkeit fehlte, sich neues Land mitsamt den darauf befindlichen Steuerpflichtigen anzueignen, dann hatte er damit zu rechnen, dass seine Konkurrenten ihm zuvorkommen würden. Unter solchen Umständen war ein dauernder Friede immer nur unter der Voraussetzung möglich, dass sich die Zukunft planen ließ. Wenn sich die Fürsten zum Beispiel darauf verständigten, dass keiner von ihnen nach weiteren Annektionen strebte. Selbst dann aber wurden die besten Absichten immer wieder durch die Macht veränderter Fakten durchkreuzt. Es genügte eine neue Erfindung der Waffentechnik, eine besonders gute Ernte oder Bevölkerungsvermehrung im eigenen Bereich und das entsprechende Gegenteil beim Nachbarn, um alle Planungen zu kippen. Was Herr Dohnanyi so richtig und überzeugend über den Zwang sagt, dem der einzelne Betrieb, die einzelne Nation auf dem heutigen Weltmarkt unterliegt, das lässt sich mit leichter Abwandlung ebenso auf den von außen kommenden Druck übertragen, dem die verschiedenen Völker vor der industriellen Revolution von Seiten ihrer Nachbarn unterlagen. Denn auf lange Sicht war die Zukunft eben niemals planbar. Deswegen hörte das Bestreben auch niemals auf, bei der ersten sich bietenden günstigen Gelegenheit, alle zuvor abgegebenen Versprechen zu vergessen und die eigenen Nachbarn zu überfallen und zu unterwerfen. Die einzig wirksamen Barrieren gegen solche Gelüste waren Meere, hohe Gebirge, Flüsse und Wüsten. Die haben die Menschheit vor Beginn der industriellen Revolution einigermaßen voreinander geschützt.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert gibt es auch diesen Schutz nicht mehr. Die Zukunft lässt sich immer weniger voraussehen, geschweige denn planen. Denn der ökonomische und vor allem der militärische Wettbewerb sind inzwischen allgegenwärtig. Von Dohnanyi, der so hellsichtig argumentiert, wenn er im kleinen ökonomischen Geschehen den heute allgegenwärtigen von außen stammenden Druck beschreibt, verschließt seine Augen davor, dass dieser Druck gerade auf höchster politischer Ebene besondere Brisanz entfaltet. Er fordert uns auf, Russland (sprich Putin) zu verstehen, er will uns – ganz wie das BSW – gleichzeitig aber auch davon überzeugen, dass wir viel Grund haben, den Amerikanern zu misstrauen. Seine gut gemeinte Aufforderung, miteinander zu reden – letztlich natürlich der einzige Weg zum Frieden! – gerät damit in eine schiefe Perspektive. Ich erkläre, warum.
Seit der industriellen Revolution sind viele Nationen reich geworden, aber die Zukunft wurde für alle immer weniger plan- oder berechenbar. Die Frage ist deswegen gar nicht, ob ein gegenwärtiger oder künftiger Regierungschef, sei es in den USA, Russland oder China, ernsthaft mit dem Gedanken spielt, die jeweils anderen anzugreifen. Dohnanyi will uns überzeugen, dass Russland schon in der Vergangenheit selten Täter aber viel öfter Opfer von Aggressionen war. In meinen Augen ist das nicht die entscheidende Frage. Wie groß oder gering wir bei einzelnen Individuen oder Völkern die Aggressionsbereitschaft auch einschätzen mögen, entscheidend ist ein anderer Faktor: die Unplanbarkeit des sogenannten Fortschritts, der im Zeitalter von Wissenschaft und Technik jedes dauerhafte Gleichgewicht verhindert.
Denn jede Supermacht misst die eigene Stärke beständig an jener ihrer gleichrangigen Gegenüber. Auf der militärischen Ebene spielt sich alles genauso ab, wie Herr von Dohnanyi es so überzeugend für die Wirtschaft beschreibt. Jede neue Erfindung – und es gibt an jedem Tag Tausende von ihnen! – muss, je wirksamer sie ist, umso schneller nachgeahmt und möglichst überboten werden, sonst fällt ein Betrieb, Konzern oder auch einer ganzer Staat aus dem Rennen. Aus Sicht der Militärs und der politischen Führung wurde dieser Wettlauf der Menschheit gegen sich selbst zu einem kategorischen Imperativ des Überlebens. Wie soll es da auf längere Sicht Planbarkeit geben, die allein einen dauernden Frieden ermöglichen kann? Ja, zwischen Gorbatschow und Reagan wurden 1987 die atomar bestückten Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten verschrottet, und vier Jahre später wurden im START-Vertrag ein Großteil der strategischen Atomwaffen und Langstreckenraketen vernichtet. Diese beiderseitige Reduktion ließ sich einigermaßen kontrollieren, weil beide Seiten den Bestand des anderen Lagers mit Hilfe von Satelliten und gegenseitigen Aufklärungsflügen einigermaßen zu überwachen vermochten. Aber es dauerte nicht lange, da warfen neuere Erfindungen wie kleine taktische Atomsprengköpfe, ultraschallschnelle Raketen und natürlich viele weitere durch das Internet geschaffene Möglichkeiten das prekäre militärische Gleichgewicht neuerlich aus der Bahn. Noch während die alten Verträge in Geltung waren, bildeten sie nur noch die alte Fassade für eine neue, verwandelte Realität, die durch Tausende von täglichen Erfindungen auf beiden Seiten des neuen Eisernen Vorhangs geschaffen wurde.
Es ist das durch die Industrielle Revolution mobilisierte und innerhalb jeder führenden Macht von Hunderttausenden Wissenschaftlern rund um die Uhr erweiterte immense Wissen und Können, das der Welt keine Ruhe und kein Gleichgewicht mehr ermöglicht – und genau deswegen auch keinen dauernden Frieden. Lässt dieser Druck einen Augenblick nach wie etwa zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion, als einer der Gegner auf einmal in die Knie ging, dann werden augenblicklich Stimmen nach mehr nationaler Selbstbestimmung laut, bestehende Einheiten können dann auch wieder zerbrechen. Nimmt der äußere Druck jedoch wieder zu, wie seit Putins Überfall auf die Ukraine, kommt es zu neuen und größeren Blockbildungen mit zwangsläufiger Einschränkung der Souveränität. Das Bedürfnis nach Schutz überwiegt dann schnell das nach einem Maximum an eigener Selbstbestimmung. Seit China, Russland und der Iran einen gemeinsamen Block gegen den Westen bilden, haben die USA ihrerseits neue Bündnisse ins Leben gerufen. Außer der von den Schweden und Finnen selbst geforderten Erweiterung der NATO waren das in Asien AUKUS (Australien, Vereinigtes Königreich, USA), Quad als Sicherheitsdialog zwischen USA, Japan, Australien und Indien sowie IPEF (ein 2022 zwischen den USA und 13 indo-pazifischen Staaten geschlossenes Wirtschaftsabkommen). So sehr gerade Staaten wie der kleine Inselstaat Japan traditionell auf einem Maximum an eigener Selbstbestimmung bestehen, sehen sie sich doch durch das wachsende ökonomisch-militärische Übergewicht des gigantischen Nachbarn China dazu gezwungen, sich immer enger mit den USA abzustimmen und diesen militärische Basen im eigenen Land abzutreten. Zwangsläufig geht damit ein teilweiser Verzicht auf eigene Souveränität einher – so wie das auch in Deutschland der Fall ist.
Um Herrn von Dohnanyis Zukunftsvision zu beurteilen, lautet daher die entscheidende Frage: Wird der Druck zunehmen, den die Staaten in Zukunft gegeneinander ausüben werden, oder ist im Gegenteil mit einem Abflauen zu rechnen? Nur im zweiten Fall besteht eine realistische Aussicht, dass einzelne Staaten wieder auf mehr nationale Selbstbestimmung hoffen dürfen.
Die Antwort lässt in meinen Augen nicht den geringsten Zweifel zu. Im Übrigen auch nicht bei Herrn von Dohnanyi selbst, solange dieser nämlich bei seinem Fachgebiet bleibt, d.h. bei der Wirtschaft. Nach seiner Ansicht wird der Globalisierungsdruck den Unternehmen in Zukunft mehr und nicht weniger Zwänge auferlegen. Hier bleibt sein Urteil also weiterhin unbestechlich. Die Wirtschaft erfasst allerdings nur einen, wenn auch einen äußerst wichtigen Aspekt dieses Drucks, der militärische ist für die Zukunft ungleich bedeutsamer. Hier aber sollten wir sorgfältig zwischen äußeren Symptomen und eigentlichen Ursachen unterscheiden. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo war ein Symptom, aber sie war nicht die tieferliegende Ursache für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das beweist schon die Tatsache, dass die Militärs aller Kriegsparteien die Aufmarschpläne bereits in den Schubladen hatten. Auch der Ausbruch des Ukrainekrieges war sorgfältig vorbereitet. Seine sorgfältige Planung durch Wladimir Putin konnte verhindern, dass westliche Sanktionen die russische Wirtschaft in der Anfangsphase wesentlich schwächten. Auch im Fall des Überfalls auf die Ukraine war es das Wollen eines bestimmten Menschen, welches den Krieg auslöste. So war es auch in der Vergangenheit. Ohne eine entsprechende Absicht Napoleons hätte es den Feldzug gegen Moskau nicht gegeben und ohne den Vernichtungswillen Adolf Hitlers nicht den Überfall der deutschen Armee auf Russland. Die traditionelle Geschichtsschreibung hat sich aus diesem Grund damit zufriedengegeben, den Gang der menschlichen Geschichte einzelnen Figuren zuzuschreiben. Aber wir sahen, dass das bereits für die vorindustrielle Zeit nur mit Abstrichen gilt. Die Erweiterung der eigenen Besteuerungsbasis war für die Fürsten ein von außen vorgegebener Imperativ, nicht anders als der Wachstumsimperativ für ein im internationalen Wettbewerb stehendes heutiges Unternehmen. Wenn ich es unterlasse, mich zu vergrößern, dann werden es eben die anderen auf meine Kosten tun!
Dieser Imperativ, dieser Druck ist, wie schon gesagt, seit der industriellen Revolution ins Unermessliche gewachsen. Und zwar gerade dort, wo er den Frieden und sogar das menschliche Überleben auf dem Globus gefährdet: im militärischen Bereich. Inzwischen setzen selbst Zwergstaaten wie Nordkorea einen wesentlichen Teil ihres Budgets für die Forschung und Entwicklung von immer stärkeren Massenvernichtungswaffen ein. Es fällt leicht, einem brutalen Diktator wie Kim Jong-Un sadistische Neigungen zuzuschreiben, so wie Hitler die Nekrophilie, Stalin tückische Bonhomie oder Putin charmant-lächelnden Ausrottungswillen. Doch viel mächtiger als jede individuelle Perversion ist das Bedürfnis jeden Staates, auf keinen Fall hinter den anderen zurückzubleiben. Dieser Imperativ beherrscht das Handeln und Denken der Militärs in den USA genauso wie in Russland oder China. Die Folge ist ein Wettrüsten, das aufgrund unseres seit der industriellen Revolution exponentiell angewachsenen Wissens und Könnens in Richtung Apokalypse weist – auch unabhängig von den guten oder teuflischen Absichten der jeweiligen Akteure. Mittlerweise ist es möglich, eine Wasserstoffbombe im Atlantik zu zünden und mit einer Riesenwelle die halbe USA sozusagen hinwegzufegen (abgesehen davon, dass alle maritime Fauna schlagartig vernichtet wäre). Allen Parteien dies- und jenseits des Atlantiks sind diese Möglichkeiten bewusst. Nukleare Bomben, die über unseren Köpfen im Satellitenorbit kreisen, sind bereits machbar und wurden von Ronald Reagan in seiner Vision der Star Wars schon zu einer Zeit konzipiert, als sie faktisch noch gar nicht verwirklicht waren. Real ist hingegen, dass die Träger nuklearer Bomben mit jeder neuen Generation schneller werden – die Vorwarnzeit für den Einschlag von Überschallraketen wird daher immer mehr reduziert. Bei einem Erstschlag vonseiten des Gegners steht nach dessen Entdeckung sowohl Russen wie Amerikanern keine halbe Stunde mehr zur Verfügung wie noch vor zwei Jahrzehnten. Dieser ohnehin minimale Zeitraum ist inzwischen auf einige Minuten geschrumpft (je nachdem, von wo die Nuklearmissile abgefeuert werden).
Dennoch: die Gefahr eines willkürlich herbeigeführten Erstschlags vonseiten einer der Supermächte ist dabei wohl eher gering. Kein Präsident ist so mächtig, dass er sich nicht zuvor mit seinen Militärs beraten müsste – und die Experten wissen über die zu erwartenden Folgen Bescheid. Ganz anders verhält es sich mit dem Zweitschlag, der aufgrund von Fehlinformationen ausgelöst werden kann. Das war 1983 in der Sowjetunion schon einmal der Fall. Ohne das mutige Veto von Oberstleutnant Stanislaw Petrow im letzten Augenblick gäbe es die Welt wie wir sie kennen schon heute nicht mehr. Petrow sagte als einziger „njet“ in einem Gremium von vier Leuten, wo denen alle übrigen mit „ja“ für den nuklearen Holocaust stimmten.
Um augenblicklich auf einen Zweitschlag zu reagieren, muss seit John F. Kennedy und der Kubakrise eine (gegenwärtig weibliche) Hilfskraft dem amerikanischen Präsidenten auf Schritt und Tritt mit einem schwarzen Koffer begleiten, damit er in jedem Moment in der Lage bleibt, den endgültigen Befehl für einen atomaren Zweitschlag zu erteilen. Da der Erstschlag aber nur dann einen Sinn ergibt, wenn er möglichst das ganze Nukleararsenal des Gegners vernichtet, muss auch der Zweitschlag von maximaler Stärke sein. Aufgrund des minimalen Zeitfensters von inzwischen fünf Minuten kommt eine ernsthafte Beratung mit den Militärexperten nicht länger in Frage. Der Präsident einer Supermacht muss sich entweder auf sein Bauchgefühl, auf die von Computern übermittelten Daten verlassen oder es ist von vornherein künstliche Intelligenz, die den Befehl erteilt, unseren Globus in Schutt und Asche zu legen!
Denn der durch unser exponentiell gesteigertes Wissen und Können bedingte Druck nimmt seit Beginn dieses Jahrhunderts sprunghaft zu. Es gibt keinen Ort auf der Erde, der sich der nuklearen Bedrohung noch zu entziehen vermag. Das scheint Herr Dohnanyi zu vergessen, wenn er seinem Land dazu rät, sich in nationaler Selbstbestimmung auf die eigenen Interessen zu besinnen. Seiner Meinung nach sollten wir uns nicht den von den USA gegen China und Russland verhängten Sanktionen anschließen sondern einen eigenen Weg im Sinne des nationalen Vorteils einschlagen.
Genau das hat die Ukraine vor dem Maidan getan. Bis dahin hatte sie zwischen Ost und West laviert und beide gegeneinander ausgespielt, um dadurch ein Maximum an Vorteilen für sich selbst herauszuschlagen. Ein solches Lavieren zwischen den Blöcken sollten nach Herrn Dohnanyis Empfehlung nun auch Deutschland und wohl auch ganz Europa betreiben. Wir wissen aber, wie es der Ukraine dabei bis heute ergeht, nämlich so wie dem Kind in Brechts kaukasischem Kreidekreis, wo eine wahre und eine bloß leibliche Mutter von zwei Seiten her an ihm zerren, um es auf die eigene Seite ziehen. Europa droht dasselbe Schicksal von Russland und den Vereinigten Staaten, wenn es sich nicht für eines der beiden Lager entscheidet. Vergessen wir nicht: Unter der Ägide der USA ist es Westdeutschland um vieles besser ergangen als Ostdeutschland unter den Russen. Beide waren Vasallenstaaten, gewiss, aber das amerikanische „Joch“ hat der Bundesrepublik Wohlstand und Sicherheit gebracht. Dass die deutsche Souveränität eingeschränkt war und es bis heute ist, lässt sich ebensowenig leugnen. In Gegenwart des deutschen Kanzlers Olaf Scholz hatte Joe Biden mit der Zerstörung von North Stream II gedroht und – meiner Ansicht nach – waren es dann auch die Amerikaner, die diese Drohung in die Tat umsetzten. Denn zu Recht fragte sich die amerikanische Regierung, ob Deutschland Geld für den Krieg in der Ukraine nach Russland scheffeln dürfe, während die USA dem überfallenen Land zur gleichen Zeit mit dem Geld ihrer Steuerzahler helfen? Die USA sind eine Großmacht, denen man viele Fehler vorwerfen kann. Aber Europas und Deutschlands Schicksal möchte ich – und das möchte wohl auch immer noch eine Mehrheit der Deutschen – um vieles lieber von den USA kontrolliert sehen als von Russland oder China. Was sich Deutschland daher ebenso wenig wird leisten können wie die Ukraine vor dem Maidan und das heutige Ungarn unter Orban, ist ein Lavieren zwischen den Blöcken mit dem Ziel, dabei den größten Vorteil für das eigene Land herauszuschlagen.
Ich bleibe bei dieser Kritik an einem erfahrenen und klugen Mann, aber dennoch ganz an dessen Seite, wenn er zur Besonnenheit und zum Gespräch aufruft. Denn nur dadurch kann ein Krieg schließlich beendet werden!
Und allein durch Gespräch und Übereinkunft kann auch das ökonomische Wettrennen und Wettrüsten der Menschheit gegen sich selbst beendet werden. Der große englische Polyhistor Arnold Toynbee fand dazu schon vor mehr als einem halben Jahrhundert eindeutige Worte: „Die gegenwärtigen unabhängigen Regionalstaaten sind weder imstande, den Frieden zu bewahren, noch die Biosphäre vor der Verunreinigung durch den Menschen zu schützen oder ihre unersetzlichen Rohstoffquellen zu erhalten. Diese politische Anarchie darf nicht länger andauern in einer Ökumene, die längst auf technischem und wirtschaftlichem Gebiet eine Einheit geworden ist… In einem Zeitalter, in dem sich die Menschheit die Beherrschung der Atomkraft angeeignet hat, kann die politische Einigung nur freiwillig erfolgen. Da sie jedoch offenbar nur widerstrebend akzeptiert werden wird, wird sie wahrscheinlich so lange hinausgezögert, bis die Menschheit sich weitere Katastrophen zugefügt hat, Katastrophen solchen Ausmaßes, dass sie schließlich in eine globale politische Einheit als kleinerem Übel einwilligen wird.“*
*Zit. in Jenner: Auf der Suche nach Sinn und Ziel der Geschichte