(auch erschienen in: "scharf-links")
Manchmal lohnt es sich, scheinbar dumme Fragen zu stellen, solche, von denen jeder meint, er könne die passende Antwort auf Anhieb aus seinem Ärmel schütteln. Ganz gewiss gehört die im Titel genannte Frage zu dieser Kategorie, die Frage „Wozu ist Wissen gut.“ Jeder ist fest überzeugt, dass wir Wissen erwerben, weil unsere Gesellschaft auf Wissen aufgebaut ist und ohne Wissen nicht existieren kann. Das gilt von der technischen bis in die soziale und politische Sphäre. Zwar erlaubt ein demokratisches Gemeinwesen auch seinen unwissenden Bürgern den gleichberechtigten Zugang zur politischen Mitbestimmung, doch wird niemand daraus den tollkühnen Schluss ableiten, dass man in einer modernen Gesellschaft mit Unwissenheit genauso gut überlebt.
Die Schutzmauer um das Wissen
Doch stimmt es wirklich, dass Wissen vor allem den Zweck der Horizonterweiterung verfolgt, soll der Mensch durch Wissen zu einem mündigen Bürger werden – so wie es das Zeitalter der Aufklärung programmatisch verlangte? An dieser optimistischen Formel sind berechtigte Zweifel erlaubt. Sie müssen sich jedenfalls augenblicklich aufdrängen, sobald man der Geschichte des Wissens auch nur einen flüchtigen Blick zuwirft. Dann gelangt man zu einer ganz anderen Wahrheit: Wissen wurde gewöhnlich in undurchsichtige Schleier gehüllt, wenn nicht geradezu mit einer Brandmauer abgeschirmt. Einem indischen Shudra sollte flüssiges Blei in die Ohren gegossen werden, wenn dieser auch nur aus Versehen den heiligen Versen der Veden lauschte. Bis zur Ankunft der Engländer hat der Hinduismus keine „Kultur des Buches“ hervorgebracht, sondern die ungeheure Masse heiliger Texte von jeder Generation in jahrelangem Auswendiglernen mündlich tradieren lassen, weil Wissen um keinen Preis in die falschen Hände gelangen durfte. Das gleiche Misstrauen gegen das Volk führte in katholischen Kirchen dazu, dass die Priesterschaft christliche Messen bis vor gar nicht so langer Zeit ausschließlich in Latein zelebrierte, einer für die Menge unverständlichen Sprache. Das Volk brauchte nur zu verstehen, was es verstehen sollte – die Bibel gehörte nicht dazu.
Die Demokratisierung des Wissens
Die Reihe solcher Beispiele für die sorgfältige Abschirmung des Wissens gegen die Unbefugten könnte nahezu beliebig fortgesetzt werden. Deshalb war es nicht weniger als eine wirkliche Revolution, als zunächst der Protestantismus dann die Aufklärung mit dieser tausendjährigen Tradition einer Erziehung zur Unmündigkeit brach. Von nun an sollte Wissen allen Menschen zugänglich sein – ein grandioses Programm, das bis zu einem gewissen Grade auch in die Wirklichkeit übersetzt worden ist. Die allgemeine Schulbildung breitete sich über Europa und schließlich über große Teile des Globus aus. Die Aufklärer haben einen gewaltigen praktischen Sieg erfochten. Doch haben sie ihr Anliegen wirklich durchsetzen können? Wie weit lässt sich das Programm der Aufklärung überhaupt in die Realität umsetzen?
Warum Aufklärung nie mehr als einen Teilerfolg erzielte
Die säkulare Aufklärung des 18. Jahrhunderts wollte die ganze Wirklichkeit einschließlich der sozialen Welt mit dem hellen Lichtkegel der Vernunft ausleuchten. Im Hinblick auf die materielle Natur ist ihr dieses Vorhaben in erstaunlichem Maße gelungen. Überall auf dem Globus wird Wissen über die Natur gelehrt und täglich erweitert. Seine praktischen Ergebnisse schlagen sich in Apparaten nieder, die ebenso in China wie in Südafrika erdacht, konstruiert und vermarktet werden. Und dennoch: Die Denker des 18. Jahrhunderts haben etwas Entscheidendes übersehen. Soziale Erscheinungen sind nicht im gleichen Sinn begründbar wie die materiellen Vorgänge in der Natur. Offenbar handelt es sich hier um ein andere Art von Wissen. Auf ganz offensichtliche Art gilt dies für die Aussagen der Religion. Das von Hinduismus, Shintoismus oder Christentum über den Sinn des Lebens, über Liebe, Götter und die jenseitige Welt gelehrte Wissen ist für eine überwältigende Mehrheit der heutigen Menschheit nach wie vor weit bedeutsamer als alle Erkenntnisse, welche die Naturwissenschaften vermitteln. Aber es unterscheidet sich von deren Wissen, weil sein letzter und einziger Bezugspunkt weder Logik noch Empirie sind.
Das gilt nicht nur für die Aussagen der Religion. Schon gegenüber einer so elementaren Sphäre wie dem positiven Rechtssystem einer Gesellschaft, der Grundlage für das Zusammenleben der Menschen, versagt der Zugriff der Naturwissenschaften. Keine Rechtsvorschrift lässt sich aus der Natur und ihren Gesetzen ableiten – nicht einmal das Verbot, andere Menschen zu töten.
Écrasez l’infâme!
Die Aufklärung hat ihren spezifischen Feind in der Religion gesehen, weil deren Vorstellungen über das Jenseits, die Liebe, den Sinn des Lebens sich nicht beweisen lassen. Daraus zog sie den vorschnellen und gar zu einfachen Schluss, dass von ernst zu nehmendem Wissen hier gar nicht zu reden sei. Écrasez l’infâme (löscht alle Unvernunft aus!), dieser Spruch wurde oft genug so verstanden, dass alles was nicht begründ- und beweisbar ist, generell als sinn- und wertlos zu gelten habe. Man bemerkte nicht, dass dann ein Großteil aller sozialen Institutionen diesem Verdikt zum Opfer fiele, weil er sich der rationalen Aufklärung entzieht. Das fängt bei der Sprache an, wird im Rechtssystem vollends deutlich und endet bei der geltenden Wirtschaftsordnung. Hier haben wir es mit Setzungen zu tun, die eben deshalb veränderbar und tatsächlich in Raum und Zeit in nahezu unendlichen Varianten vorhanden sind.
Nur Mittel zum Zweck
Die Aufklärung hatte die Gesellschaft ganz allein auf Vernunft begründen wollen, so als könnte ihr Aufbau das Ergebnis rationaler Berechnungen sein – so wie man eine Maschine aufgrund der geltenden Naturgesetze berechnet. Aber die Vernunft kann nur die Instrumente liefern, um vorgegebene Werte zu realisieren – und auch das nur bei konstanten Bedingungen. Die Werte selbst und deren kulturelle Voraussetzungen entziehen sich ihrem Zugriff. Es gibt kein Naturgesetz, das mich zwingen könnte, mit anderen zu teilen statt als Egoist aufzutreten. Es gibt auch kein Naturgesetz, das eine Gesellschaft bewegen könnte, eher im inneren Frieden als im dauernden Kampf aller gegen alle zu liegen. In jedem Moment beruht mein Verhalten in sämtlichen sozialen Lebenslagen, sei es gegenüber dem Partner oder am Arbeitsplatz, auf einem Sollen, das im Idealfall mit meinem eigenen Wollen identisch ist. Denn ich kann auch ganz anders – und das gilt genauso für jeden anderen Menschen. Seine und meine Freiheit erlauben mir jederzeit den Ausbruch aus diesem Sollen. Ich kann meinen Mitmenschen ein lächelndes Gesicht voller Freundlichkeit zeigen oder mich brutal gegen sie verhalten. Sollen und Wollen sind die fundamentalen Kategorien der individuellen und sozialen Existenz. Das hebt die menschliche Sphäre weit über die von Physik und Chemie hinaus. Sieht man einmal von modernen Esoterikern ab, so kommt niemand auf den Gedanken, dem Mond dieselbe Freiheit zuzusprechen. Die Naturwissenschaft bestimmt seine Bahn ausschließlich aufgrund der im gesamten bekannten Kosmos für alle physischen Körper geltenden Gesetze.
Zwei Arten des Wissens
Dem Wissen kommt deshalb eine besondere Bedeutung und Stellung zu. Offenbar gibt es davon nicht nur eine einzige Art, wie allgemein angenommen, sondern es tritt uns immer schon in zwei ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen entgegen. Das eine möchte ich als Wertewissen, das andere als Gesetzeswissen bezeichnen.
Das Gesetzeswissen umfasst alle als richtig erwiesenen Erkenntnisse über die Natur. Es steht zu vermuten, dass es in seinem potentiellen Umfang unendlich ist – so grenzenlos wie die Natur selbst, auf die es sich richtet. Dieses Wissen ist einer beständigen Ausweitung und Vervollkommnung fähig – in einem fort verdrängt es seine weniger genauen oder weniger umfassenden Vorstadien. Gesetzeswissen unterliegt zudem dem Kriterium von wahr oder falsch. Hier kann es den Irrtum geben, wenn das Wissen auf falscher Beobachtung oder auf falschen Schlüssen beruht. Ein solcher Irrtum kann bisweilen tödliche Folgen haben, zum Beispiel, wenn die Wirkung giftiger Substanzen oder gefährlicher Viren falsch eingeschätzt wurde. Aber solche Irrtümer werden in einzelnen Menschen und ihrem Versagen gesucht. Sie beeinträchtigen nicht unser Menschenbild, und auf das Zusammenleben der Völker haben sie keinerlei Wirkung. Niemand bringt andere Menschen um, weil sie Einstein nicht richtig verstanden haben oder über Entropie falsche Deutungen in Umlauf bringen.
Das Wertewissen
Ganz anders das Wertewissen: Es entscheidet über Glück und Unglück des Einzelnen wie über das ganzer Nationen. Bis in seine kleinsten Verzweigungen wird das tägliche Leben jedes Menschen von diesem Wissen und seinen Regeln beherrscht. Die Vorstellungen über den richtigen Umgang mit Partnern, Freunden, Kollegen am Arbeitsplatz, über das also, was ich in meiner jeweiligen sozialen Sphäre tun sollte oder niemals tun darf, lenken mein Leben in die Bahn der Zufriedenheit oder zerstören es in ständigen Konflikten. Denn im Unterschied zum Gesetzeswissen ist das Wertewissen niemals neutral. Das Gesetzeswissen lässt unsere Gefühle kalt, sofern wir nicht gerade zu den Erfindern und Forschern zählen. Wir freuen uns zwar über neue, das Leben erleichternde Technologien, doch ob eine bestimmte wissenschaftliche Hypothese nun wahr oder falsch ist, verursacht den wenigsten Menschen schlaflose Nächte. Das Gesetzeswissen entsteht im Dialog des menschlichen Geistes mit der äußeren Natur. Ausgestattet mit einer Bibliothek könnte der große Erfinder theoretisch auch ganz allein deren Gesetze erkunden. Werte dagegen entstehen auf ganz andere Weise. Sie erwachsen immer nur aus der aktiven Beziehung zu anderen Menschen. Sie sind das Band, das sie miteinander verknüpft.
Weil das Wertewissen so eng mit Gefühlen verbunden ist, prallen die wissenschaftlichen Kategorien von wahr und falsch von ihm ab. Werte sind gut oder böse, gefährlich oder beglückend, sie sind unsere eigenen oder die der anderen. Werte sind die Brücke zu den mich umgebenden Menschen oder der Abgrund, der mich von ihnen trennt. Aber sie können nicht falsch oder wahr sein wie wissenschaftliche Aussagen in Bezug auf die von ihnen beschriebene Wirklichkeit. Zweifellos gibt es einen Fortschritt der Werte, z.B. wenn wir das Gefühl der Brüderlichkeit von Familie und Stamm allmählich immer weiter spannen, so dass es auch ethnisch Fremde, religiös andersgläubige und schließlich sogar Menschen mit abweichenden Werten umfasst. Aber dieser Fortschritt entspringt keiner irgendwie gearteten Notwendigkeit. Er entspringt allein unserer Freiheit, und daher ist er auch ständig in Gefahr, wieder aufgehoben zu werden. Die Menschheit muss sich nicht in Richtung größerer Brüderlichkeit und zum Frieden entwickeln – sie könnte es allenfalls.
Werte sind nicht das Werk berechnenden Denkens. Ihr Ursprung liegt jenseits der planenden Vernunft. Sie können spontan entstehen, z.B. in einer Notsituation, wo Menschen einander ohne äußeren Druck zur Hilfe kommen. Dann entsteht ein Einverständnis und Einklang in Denken und Handeln, der auch allen Zeiten des kulturellen Aufschwungs zueigen ist. Niemand kommt dann auch nur auf die Idee, danach zu fragen, ob die selbst gesetzten Regeln solchen Wertewissens eine objektive Realität jenseits menschlichen Wollens aufweisen. Das wäre so absurd, wie wenn ein Verliebter auf den Gedanken verfiele, seine Beziehung zu dieser und keiner anderen Geliebten von irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten ableiten zu wollen. Das Wertewissen besitzt die überwältigende Evidenz von Gefühlen. Es bedarf keiner Bestätigung durch die Ratio.
Werte unter Beschuss
Doch Vernunft kann sich sehr wohl einmischen. Sie wird immer dann zur Hilfe gerufen, wenn die Evidenz nicht mehr stimmt, wenn sie im Schwinden ist. Dann setzt der Zweifel ein, dann werden wir uns plötzlich bewusst, dass unsere Werte auf keiner Gesetzestafel verzeichnet stehen, sondern wir selbst sie geschaffen haben. Wenn das Einverständnis, dem diese Werte ihr Dasein verdanken, mehr und mehr erodiert, dann geraten die bestehenden Werte auf einmal unter Beschuss – und das Wissen umgibt sich mit einer hohen Mauer, um dem Zweifel den Mund zu verbieten. Dann spricht es auf einmal in toten Sprachen, in Sanskrit oder Latein, um von den Lebenden nicht verstanden zu werden. Dann wählt es absichtlich einen esoterisch-abgehobenen Jargon, um die Laien auf Abstand zu halten. Dann umgibt es sich mit Vorliebe mit dem Nebel der Mystifikation: Auch das Einfachste wird möglichst komplex und für den Normalmenschen unverständlich gehalten, während eine demokratisch orientierte Vermittlung sich darum bemüht, selbst komplexe Zusammenhänge auf möglichst einfache Art darzustellen (1).
Vor allem aber versucht das Wertewissen, sobald seine Evidenz im Schwinden ist, mit Mimikry über sein wahres Wesen hinwegzutäuschen. Es schlüpft in die Verkleidung des ihm ganz fremden Gesetzeswissens.
Die neoliberale Mimikry
In diesem Sinne hat die in unserer Zeit so mächtige Wirtschaftswissenschaft das neoliberale Weltbild zu zementieren gesucht, indem sie sich das Gewand der Mathematik überstreifte. Mathematik soll für exakte und beweisbare Wahrheit wie bei der Beschreibung natürlicher Vorgänge bürgen. Dadurch dass man eine Wertentscheidung wie den Neoliberalismus in einem Kokon aus komplexen mathematischen Formeln versteckte, sollte der Eindruck entstehen, man hätte es hier genau wie in der physikalischen Welt mit unabänderlichen Gesetzen zu tun (2).
Der Dienst an der Macht
Dieser Eindruck kam der politischen Macht und den hinter ihnen stehenden ökonomischen Interessen entgegen und wurde deshalb von ihr durch entsprechende Maßnahmen aktiv gefördert. Ein kleiner Kreis von Ökonomen durfte sich in der Rolle von Hohepriestern gefallen und übernahm die Deutungshoheit über die Wirtschaft. Die Politik belohnte die Willfährigkeit, indem sie bei ihnen jene Gutachten bestellte und großzügig honorierte, mit denen sie dann die eigenen Entscheidungen in den trügerischen Schein der Unanfechtbarkeit hüllte. Auf diese Weise erhielt die neoliberale Politik der vergangenen dreißig Jahre einen pseudowissenschaftlichen Segen. Wissen wurde nicht erzeugt, wie die Schulweisheit glaubt, der Bürger nicht zur Mündigkeit erzogen, wie es die Aufklärung verlangt, sondern Dogmen wurden im Auftrag der Politik als exakte Wissenschaft ausgegeben. Das Wissen dieser Monopolisten der Wahrheit diente tatsächlich dem Zweck, Wahrheit zu unterdrücken und als unwissenschaftlich zu denunzieren: „There is no alternative“ lautete die Devise. Eigentliches Wertewissen – in diesem Fall die aktive Begünstigung einer Minorität auf Kosten der Mehrheit – wurde zum (pseudo-)wissenschaftlichen Gesetzeswissen umgedeutet und so mit einer Brandmauer gegen jeden Einspruch geschützt.
Die Frage, wozu Wissen auch gut sein kann, erlaubt in diesem Fall eine recht eindeutige Antwort. Es kann dazu gut sein, Unwissenheit zu erzeugen.
1 Die Tendenz, das Komplexe auf möglichst einfache und verständliche Art darzustellen, und ihr Gegenteil, die Versuchung, selbst das Einfache so zu verkomplizieren, dass es nur Insidern verständlich ist, verhalten sich ganz ähnlich zueinander wie Demokratie und autokratische Regime. Das autokratische Wissen ist auf Abgrenzung gegen die „Masse“ aus. Meist tritt es mit dem Gestus und Anspruch der höheren Inspiration in Erscheinung. Es ist begreiflich, dass in alten Demokratien wie England und den Vereinigten Staaten das Bestreben zur Klarheit im Vordergrund auch des wissenschaftlichen Stiles steht. Dieses Bestreben gelangte mit den Naturwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert zu Durchbruch, da die Letzteren ihrem Wesen nach demokratisch sind. Zu den Vorbildern für diesen Stil rechne ich Descartes, Bertrand Russell und Karl Popper, mit Einschränkungen auch Immanuel Kant und Schopenhauer.
2 Die Reichweite ökonomischer Wissenschaft lässt sich klar begrenzen. Einerseits betätigt sie sich wie die Rechtswissenschaften als normative Instanz, z.B. in der Betriebswirtschaft, und vermittelt dann ein in konkreten Handlungsanweisungen verdichtetes Wertewissen. Andererseits greift sie in das Gesetzeswissen über. Dann eruiert sie z.B. die technischen Maßnahmen, die unter den geltenden Bedingungen zur Erreichung wertbestimmter Ziele am besten geeignet sind.